In die Diskussion um Krankschreibungen in der Wirtschaft und Schlussfolgerungen daraus hat sich nun auch der Handelsverband Deutschland zu Wort gemeldet. Er fordert die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung. Denn die seit Dezember 2023 geltende Regelung hat aus seiner Sicht zu einem starken Anstieg der Krankschreibungen geführt. Gesetzlich Versicherte können sich bei leichten Erkrankungen für maximal fünf Tage telefonisch krankschreiben lassen.
HDE: Rekordkrankenstand schwächt Wettbewerb
Der Rekordkrankenstand im Jahr 2024 belaste die Arbeitgeber in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zusätzlich und schwäche die Wettbewerbsfähigkeit, begründet Steven Haarke, Geschäftsführer für Arbeit und Soziales. Es müsse ausprobiert werden, ob die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung zu einem Rückgang der aktuell hohen Anzahl an Krankschreibungen führe. Außerdem diene der Besuch beim Arzt auch dem Schutz der erkrankten Beschäftigten, denn bei einem Arztbesuch könnten auch sonstige Erkrankungen frühzeitig diagnostiziert werden.
HDE offen für Grundsatzdebatte über Entgeltfortzahlung
Darüber hinaus zeigt sich der HDE im Falle einer fortgesetzt schlechten wirtschaftlichen Entwicklung offen für eine Diskussion zu der Frage, ob die gesetzlichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in dieser Form noch angemessen seien. Allerdings gibt Haarke zu bedenken, dass in vielen Großbranchen inzwischen tarifliche Regelungen bestehen, die analog der aktuellen Gesetzeslage eine hundertprozentige Entgeltfortzahlung ohne Karenztag vorsehen. Eine Gesetzesänderung würde im Bereich der Tarifbindung daher zumeist ohne jegliche Kostenerleichterung für Arbeitgeber bleiben.
TK und AOK bestätigen Negativrekorde
Die Techniker Krankenkasse (TK) verzeichnete in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 einen neuen Rekord bei den Krankschreibungen. Wie die Krankenkasse im Oktober 2024 berichtete, war jeder Erwerbstätige in diesem Zeitraum durchschnittlich 14,13 Tage krankgeschrieben. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 13,82 Tage. Vor der Coronapandemie lagen die Fehlzeiten deutlich niedriger – 2019 beispielsweise bei 11,40 Tagen.
Auch Analysen der der Krankschreibungen der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) zeigen: Die Krankenstände bewegten sich 2024 auf historisch hohem Niveau. Der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder aus 2023 wurde bereits im Zeitraum von Januar bis August 2024 erreicht – und damit schon vor der zu erwartenden Erkältungswelle im Herbst und Winter.
Den durchschnittlichen Krankenstand beziffert die AOK für 2023 mit 6,6 Prozent. Im Handel lag er bei 6,5 Prozent, im Gegensatz zu 4,7 Prozent 2013. Die höchten Fehlzeiten hat der Öffentliche Dienst mit 7,5 Prozent (2013: 5,7 Prozent).
AOK-Chefin Reimann verteidigt telefonische Krankschreibung
Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann widerspricht allerdings der These, dass die telefonische Krankschreibung zu mehr Fehlzeiten führe. „Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigen“, so Reimann.
Verschiedene Auswertungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zu den Fehlzeiten in der Pandemie hätten gezeigt, dass mit der Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden sei. Weder 2020 noch 2021 seien im Zusammenhang mit der damals neu eingeführten Option höhere Krankenstände zu verzeichnen gewesen. Die telefonische Krankschreibung könne vielmehr dazu beitragen, die Arztpraxen gerade in Infektionswellen zu entlasten, meint Reimann. Sie spreche sich daher für eine Beibehaltung dieser Möglichkeit aus, die der Gemeinsame Bundesausschuss im Dezember 2023 dauerhaft beschlossen hatte.
Auch elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in der Kritik
Der Handelsverband kritisiert ferner die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das seit Anfang 2023 verpflichtende Meldeverfahren sei zu aufwendig und nicht praxistauglich. Die Arbeitgeber müssten die Bescheinigungen bei den Krankenkassen eigenständig abfragen. Der Verband forderte stattdessen ein automatisiertes Verfahren, bei dem die Krankenkassen die Arbeitgeber über Krankschreibungen informieren.
Allianz-Chef hatte die Debatte angestoßen
Die Debatte um Krankschreibungen und Konsequenzen hatte Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender der Allianz-Versicherung, angestoßen. Er schlägt die Wiedereinführung des so genannten Karenztages vor. Der Anspruch auf Lohnfortzahlung würde dann für den ersten Fehltag entfallen.
Nach Zahlen aus dem Bundesarbeitsministerium haben die Arbeitgeber 2023 für erkrankte Mitarbeiter 67,9 Milliarden Euro gezahlt. Das war mehr als doppelt so viel wie 2010. Allerdings spielt bei diesem Plus auch der allgemeine Lohnanstieg eine Rolle. Oliver Bäte hat sogar 77 Milliarden Euro errechnet. Das sei deutlich über dem EU-Durchschnitt, unterstreicht er.