Der Abgesang ist abgeblasen: Die Nachfrage nach Fleischersatzprodukten hat wieder angezogen, allen Unkenrufen zum Trotz. Doch den Herstellern vegetarisch-veganer Varianten von Schnitzel und Bratwurst fällt es schwerer, die Käuferschaft weiter auszubauen. Die Überarbeitung von Rezepturen und Kooperationen mit Start-ups, die Alternativen zu den bisherigen Basisrohstoffen Soja, Weizeneiweiß oder Erbsenprotein bieten, sollen eine neue Generation der Fleischalternativen und damit Wachstum ermöglichen. Zuvor gilt es, einige Hürden zu nehmen, um die Produkte verfügbar und preislich attraktiv zu machen.
Aktuelle Zahlen zeigen: Verbraucher kaufen in diesem Jahr wieder mehr Fleischersatz, dank sinkender Preise. Bis 11. August 2024 gingen 131,7 Millionen Packungen Fleischalternativen im Wert von 320,7 Millionen Euro über die Ladentheken. Der Absatz stieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 14,4 Prozent, der Umsatz um 5,6 Prozent, ermittelten Nielsen und Hersteller Vivera. Laut GfK sank die Käuferreichweite jedoch erstmals. Sie lag im Juni 2023 bei 38,4 Prozent, ein Jahr später bei 37,9 Prozent. Der diesjährige Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zeigt, dass der Anteil der Flexitarier gesunken ist und mehr jüngere Menschen (14- bis 29-Jährige) täglich oder mehrmals täglich Fleisch und Wurst konsumieren (Anstieg von 17 auf 26 Prozent im Vergleich zu 2023), während der Anteil der jungen Menschen, die täglich Alternativen essen, bei 18 Prozent stagniert.
Die Marktforscher von Mintel sehen die Lebenshaltungskostenkrise, geschmackliche und gesundheitliche Bedenken als Ursache für diese Entwicklung. „Letztendlich müssen die Bedürfnisse der Verbraucher in Bezug auf Geschmack, Erschwinglichkeit und Ernährung erfüllt werden, damit die Kategorie in eine neue Entwicklungsphase eintreten und wieder an Kaufkraft gewinnen kann“, meint Megan Stanton, Director Mintel Food and Drink.
Laut BMEL-Ernährungsreport greifen 52 Prozent der Käufer von Alternativprodukten zu, „weil diese gesund sind“. Diese Erwartung wollen Hersteller mit Clean-Label-Rezepturen bedienen. So punktet die junge Marke Billie Green mit den Störern „Frei von Zusätzen“ oder „Ohne Zusatz von“. „Die Umsätze haben sich im zweiten Jahr gegenüber dem ersten Jahr verdoppelt“, teilt der Hersteller The Plantly Butchers mit. Zurückzuführen sei dies vor allem auf neue Produkte, die einen Mehrwert, wie hohe Proteingehalte oder Freiheit von Zusatzstoffen, böten.
Die Marke The Green Mountain (Hilcona) bewirbt mehr und mehr Produkte mit dem Claim „100 Prozent natürliche Zutaten“ und verbannt Hilfsmittel wie Methylcellulose aus den Rezepturen. Für die optimale Konsistenz der „plant-based“ Steaks und Filets werde im Moment noch Methylcellulose eingesetzt, doch „darauf werden wir mittelfristig verzichten“, heißt es auf Anfrage. Bereits umgestellt wurde die Rezeptur der Schnitzel, bald sollen Burgerpattys ohne Methylcellulose in Deutschland eingeführt werden.
Pilzmyzel: die neue Wunderzutat?
Auf der Suche nach neuen Produktkonzepten mit kurzen Zutatenlisten und einem geringen Verarbeitungsgrad schaut die Branche aktuell auf Start-ups, die sich mit Pilzmyzel beziehungsweise „Mykoprotein“ als Basis für vegane Produkte beschäftigen. Mykoprotein entsteht durch die Fermentation von Pilzmyzelien in Bioreaktoren. So hat Rewe in Infinite Roots investiert, das Myzelium von Kynda Biotech steckt bereits in ersten Produkten, die bei Edeka und Käfer erhältlich sind, und Nosh Bio steht nach eigenen Angaben kurz vor dem Launch des weltweit ersten Fleischersatzprodukts mit nur einer Zutat in Zusammenarbeit mit Tönnies. Eingesetzt wird der Koji-Pilz. „Im Gegensatz zu vielen pflanzlichen Alternativen, die häufig aus einer Vielzahl von Komponenten bestehen und trotzdem kein fleischähnliches Kaugefühl bieten, haben unsere Koji-basierten Produkte eine zarte, saftige Konsistenz, die dem Biss und dem Mundgefühl von echtem Fleisch sehr nahekommt“, erklärt Alicia Feldhues-Martin, Brandmanagerin Gutfried Veggie (Tönnies), die Vorteile. Auch gebe es keinen unangenehmen Beigeschmack.
Prozent Absatzplus für Fleischersatz in den ersten 32 Wochen 2024 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Quelle: Nielsen
Prozent der Deutschen bezeichnen sich als Flexitarier (2023: 46 Prozent).
Quelle: Ernährungsreport 2024
Unternehmen weltweit arbeiten aktuell mit unterschiedlichen Myzeliumsträngen.
Quelle: European Circular Bioeconomy Fund
Milliarden Euro: geschätzte Gesamtinvestitionen in Start-ups, die Lebensmittel auf Basis von Myzelium entwickeln.
Quelle: European Circular Bioeconomy Fund
„Aus unterschiedlichsten Myzelsträngen in Verbindung mit unterschiedlichen Substraten können unendlich viele Produkte hergestellt werden, Fleischersatz, Alternativen zu Käse, sogar essbare Farben“, sagt Mridul Pareek, Investor beim European Circular Bioeconomy Fund (ECBF). Auch seien die Produkte nachhaltiger, da in der Produktion im Bioreaktor weniger Fläche und Wasser eingesetzt werden, dafür jedoch oft Nebenprodukte aus der Lebensmittel- und Getränkeindustrie. So arbeitet Infinite Roots mit Biertrebern der Bitburger Brauerei. Diese verstärken den natürlichen Geschmack der Produkte, erklärt das Start-up.
Eine große Hürde: Zulassungsverfahren. „Arbeitet ein Unternehmen mit Pilzmyzel, dessen unbedenkliche Verwendung in Lebensmitteln bereits vor dem 15. Mai 1997 dokumentiert wurde, so ist die Zulassung der Produkte unproblematisch“, so Pareek. Wenn nicht, könne das Zulassungsverfahren gut zwei Jahre dauern. Ohne Zulassung keine Verbraucherstudien. „Und diese wiederum sind ein wichtiger Faktor, um einige Investoren zu überzeugen“, weiß er.
Infinite Roots bringt die ersten Myzelium-basierten Produkte in den nächsten Wochen in Asien auf den Markt. „Wir müssen unsere Technologie und Innovation aktuell exportieren“, sagt Cathy Hutz, Mitgründerin. Denn die Zulassungsprozesse liefen in einigen asiatischen Ländern deutlich schneller ab. In Europa wartet das Start-up noch auf eine Entscheidung, ob es direkt in den Markt eintreten kann oder einen gesonderten Novel-Food-Prozess durchlaufen muss. „In Europa benötigen wir nun einen sinnvollen regulatorischen Rahmen – auch um eine breite Akzeptanz für alternative Proteine zu erreichen“, so Hutz. Der Marktstart in Deutschland wird für Mitte 2025 angestrebt.
Wettbewerber Kynda hat dagegen einen Vorteil: „Unser Pilzstrang fällt nicht unter die EU-Novel-Food-Verordnung, sodass unsere Produkte heute in Deutschland vertrieben werden können“, sagt Gründer und CEO Daniel MacGowan-von Holstein.
Für den Erfolg braucht es zusätzlich zu einem guten Produkt möglichst Preisparität zu Fleisch, weiß Investor Pareek, daher verfolgten Start-ups unterschiedliche Ansätze, um ihre Produktion effizient zu skalieren. „Um die Skalierung voranzutreiben und die Preisparität mit Huhn- und Fleischprodukten zu erreichen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen, unsere Produktionskapazitäten auszubauen, während wir die Chargen-Variabilität minimieren, um die gewünschte Qualität konstant sicherzustellen“, erklärt Nosh-Bio-CEO Tim Fronzek. Bereits jetzt habe Nosh die Preisparität mit Rindfleisch erreicht, sagt er.
Infinite Roots will unter der eigenen Marke produzieren, aber auch Partnerschaften mit anderen Lebensmittelunternehmen eingehen, erklärt Mitgründerin Hutz. „In Asien setzen wir bereits auf ein Modell ähnlich dem ‚Intel Inside‘-Ansatz, bei dem das Myzelium in den Produkten der Partner eine Schlüsselrolle spielt. Diese Dualstrategie ermöglicht es uns, verschiedene Marktsegmente zu bedienen und unsere Reichweite zu maximieren“, sagt sie.
Kynda dagegen geht einen anderen Weg. „Unser Business-Modell zielt primär darauf, unsere Technologie unseren Partnern zu geben, damit sie ihre eigene Fermentation durchführen können. Unsere Technologie beinhaltet den Bioprozess, die Bioreaktoren und die Starterkulturen, die wir liefern können, damit unsere Partner auch ohne Fermentationserfahrung oder Wissenschaftler vor Ort ihre Nebenprodukte in Mykoprotein verwandeln können“, erklärt MacGowan-von Holstein. Das geerntete „Kynda-Fleisch“ könne ohne weitere Verarbeitung direkt in veganen oder hybriden Produkten verwendet werden. „Im kommenden Jahr werden wir unsere erste modulare Plug-and-Play-Anlage bei einem unserer Kunden aufstellen, um dort zu fermentieren, wo die Nebenströme sind oder das Endprodukt produziert wird.“