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Tierwohl beim Milchvieh Offen diskutieren

In der Tierwohldebatte wird allzu schnell der Mainstream mehrheitsfähig geredet: Bio ist gut, konventionell nicht. Aber wann ein Tier sich wohlfühlt, „wird oft unheimlich vermenschlicht“, sagt Manfred Tannen.

Freitag, 16. April 2021 - Zentrale
Markus Wörmann
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Bildquelle: Maren Ziegler

Milchviehbetriebe stecken seit Jahren in der Krise, weiß Manfred Tannen zu berichten. Der 54-jährige Senior-Chef steht vor seinem Familienbetrieb und blickt im flachen Ostfriesland auf die umliegenden Höfe. „Das waren alles mal Milchbauern“, erzählt Tannen, „heute sind wir die letzten hier.“ Dabei ist die Milchviehhaltung in der „alten Marsch“ keinesfalls nur der Tradition geschuldet. „Die Böden sind gut, aber für Ackerland nur an wenigen Stellen zu nutzen“, erklärt der Landwirt. Zu nass sind viele Flächen im Frühjahr bei der Bestellung und im Herbst bei der Ernte. Grasanbau, also Wiesen und Weiden, hätten sich daher bewährt.

Genau diese Weiden sind Teil des Tierwohlkonzepts der Familie, aber eben nur ein Teil und kein Allheilmittel, erklären Manfred und sein Sohn Keno Tannen. Der 25-Jährige ist inzwischen der Betriebsleiter auf dem Familienbetrieb, während Senior Manfred mit „schlauen Sprüchen aushilft, wo ich kann“, wie er selbst sagt. Die Weidehaltung seiner Kühe sei gut und richtig, ist Keno Tannen überzeugt, habe aber Nachteile, die man in Kauf nehmen müsse. So nehmen insbesondere Jungrinder – genau wie Pferde und Schafe – mit dem Gras Larven von Parasiten auf. Das ist ganz natürlich, aber diese „Würmer“ schädigen die Magen- und Darmwände. Die Folge: Die Jungtiere werden in ihrer Futterverwertung beeinträchtigt und fühlen sich unwohl. In der Weidesaison von Mai bis September muss Familie Tannen deshalb vermehrt sogenannte Wurmkuren geben.

Gegen eine ganztägige Weidehaltung seiner Kühe in den Sommermonaten spricht für Keno Tannen noch ein wichtiger Aspekt. „Ich habe die einzelne Kuh im Stall besser im Blick“, erklärt der Junglandwirt und zeigt auf die Ohrmarken mit Sensor. Hierüber kann er im Computer erkennen, ob jede einzelne Kuh beispielsweise genug Futter an den Stationen abgerufen hat. Dort gehen die Tiere selbstständig ein und aus. So erhalten sie über den Tag verteilt ausreichend Futter. „Und auf der Weide kann ich eben nicht 100-prozentig erkennen, ob die Kuh genug frisst und entsprechend gut drauf ist“, erklärt Keno Tannen. Denn wie bei den meisten Tieren ist die Lust am Fressen ein wichtiger Indikator für Gesundheit. Familie Tannen hat sich daher für einen Kompromiss entschieden. Tagsüber laufen die Kühe in der Weidesaison draußen, nachts sind sie im Stall unter „besonderer Beobachtung“.

Auf der anderen Seite fördert der Weideauslauf den Muskelaufbau und reinigt die Klauen. Deshalb werden die jungen Rinder, die noch keine Milch geben, ab Mai Tag und Nacht draußen gehalten. Aber auch das ist kein Garant mehr für uneingeschränktes Tierwohl. Denn im Nachbarlandkreis Aurich ist der Wolf inzwischen angekommen. Vor einem Jahr hat ein Exemplar des Raubtieres in Osteel vier Schafe gerissen. „Wir Milchviehbetriebe können schneller auf Stallhaltung umstellen als so mancher Schafhalter“, ist sich Manfred Tannen sicher. Dennoch stehe der gewünschten Weidehaltung, egal ob Rinder, Schafe, Pferde oder Geflügel, die weitere unkontrollierte Ausbreitung des Wolfes entgegen, erklärt der Landwirt. Ob wolfssichere Zäune eine Option sind? „Wenn es die überhaupt gibt, muss man sich nicht nur fragen, wer das bezahlen soll, sondern auch, ob wir eine derart gegatterte Landschaft bei uns in Deutschland haben wollen“, entgegnet Manfred Tannen, der ehrenamtlich als Vizepräsident des niedersächsischen Bauernverbandes tätig ist. Aber der Wolf sei ein „heißes Thema“, das hochemotional zwischen Wolfsbefürwortern und solchen, die auch die Schattenseiten der Ausbreitung sehen, diskutiert werde. Aber wenn man über Tierwohl und Weideauslauf von Nutztieren rede, müsse man auch sachlich über die Gefahren sprechen können, fordert der 54-Jährige.

Wie ist Tierwohl definiert?
In der gesamten Debatte über mehr Tierwohl werde vieles zu sehr vermenschlicht, glaubt Manfred Tannen. „Das fängt schon mit der richtigen Temperatur an“, erklärt der Landwirt, der auf seinem Familienbetrieb auch Ferienwohnungen anbietet. „Wenn die Gäste zu Ostern noch frösteln, fühlen sich unsere Kühe am wohlsten“, weiß der Fachmann. Von -7 bis +17 Grad Celsius seien seine Kühe der Rasse Holstein-Friesian am besten drauf und gäben auch entsprechend gut Milch. Deshalb plädiert Tannen eindringlich, sich beim Tierwohl an wissenschaftlichen Fakten zu orientieren. Auch die Politik lasse sich hier oft zu sehr vom Mainstream treiben, resümiert er für sich die aktuelle Debatte.

Die sogenannte Borchert-Kommission habe hier zumindest erste Ansätze geliefert, was der Umbau zu mehr Tierwohl in den deutschen Ställen über die nächsten Jahre kosten wird. „Hier hat die Politik richtig erkannt, dass die Landwirtschaft diese Investitionen nicht aus den zu erwartenden Erzeugerpreisen stemmen kann“, erklärt Manfred Tannen. Zu sehr sei der deutsche Verbraucher auf einen niedrigen Preis konditioniert, sagt er. Zur Wahrheit gehört sicher auch, dass die Landwirtschaft in Deutschland über Jahrzehnte auf Kostenoptimierung und Exportsteigerungen getrimmt wurde. Das war politisch gewollt und rächt sich, wenn ein gesellschaftlicher Wandel eintritt, wie er sich nun auch in der Tierwohldebatte widerspiegelt.

Der Landwirt aus Bensersiel befürwortet eine offene Debatte über die Zukunft der Landwirtschaft und damit auch über Tierwohl. Dabei vermisst er ein deutliches Bekenntnis von der Politik, dass man Landwirtschaft in Deutschland will, um die mehr als 80 Millionen Einwohner zu ernähren. Denn im Grunde habe man nur hier die Chance, Themen wie Tierwohl aktiv mitzugestalten. Geben immer mehr Landwirte auf, verlagert sich auch die Tierhaltung ins Ausland. Deshalb müsse man den Bäuerinnen und Bauern nicht nur mehr Auflagen machen, sondern Perspektiven aufzeigen.

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