LP-Roundtable Süßwaren Was kommt nach dem Boom? - Wie steht die Branche zum Nutri-Score?

Der Lebensmittelhandel hatte ein bombastisches Jahr, gerade zuletzt, als alle anderen Handelsformate geschlossen waren und sich die Kunden nur dort versorgen konnten. Doch wie geht es jetzt weiter, welche Veränderungen wie der gestiegene Onlinehandel müssen dauerhaft angerechnet werden – und wie kann das gute Ergebnis des Jahres 2020 zumindest weiter gehalten werden. Was die Branche jetzt an Innovationen und Impulsen braucht – darüber sprachen die Teilnehmer des LP-Roundtables Süßwaren 2021.

Freitag, 16. April 2021 - Süßwaren
Andrea Kurtz
Artikelbild Was kommt nach dem Boom? - Wie steht die Branche zum Nutri-Score?
Bildquelle: Getty Images, Lebensmittel Praxis

Gesunde Ernährung scheint sich weiter zu etablieren. Die Kennzeichnung dafür auch. Wie stehen Sie zum Nutri-Score?
Perry Soldan:
Der Nutri-Score forciert eine Einteilung in gute und schlechte Lebensmittel, die es aus unserer Sicht nicht gibt. Viele Hersteller und auch Handelsunternehmen sind jetzt schon vorgeprescht und kennzeichnen ihre Produkte so. Für mich ist aber noch nicht belegt, wie der Konsument damit umgeht; ich würde gern von Unternehmen, die schon in diese Kennzeichnung investiert haben, wissen, ob sich das rechnet. Dieser Beleg steht für mich noch aus.
Joachim Mann: Gerade auch als Exporteur in über 60 Länder müssen wir uns zum Nutri-Score positionieren, auch wenn der Sinn für unsere naturbelassenen Produkte nicht ganz klar ist. Warum beispielsweise hat eine Mandel ein grünes „A“, eine Paranuss aber nur „C“? Wir können diese Einteilungen wissenschaftlich oft nicht nachvollziehen. Wir sind absolut für Transparenz. Ddas aber versucht wird, auf Basis einer „staatlichen französischen Organisation zur öffentlichen Gesundheitspflege“ mit dem Nutri-Score französisches Recht in Europa durchzudrücken, halten wir nach wie vor für schwierig. Wir benötigen hier europaweit abgestimmte Rahmenbedingungen, sonst funktioniert der freie Warenhandel in der EU einfach nicht.
Sascha Loehr: Wir Schokoladenhersteller können ja machen was wir wollen, wir werden beim Nutri-Score einfach kein A bekommen, sondern immer eine schöne rote Kennzeichnung haben. Das weiß der Kunde bei der Schokolade ja auch und will bewusst genießen, sich bewusst belohnen. Beim Nutri-Score geht es doch eher um die versteckten Inhaltsstoffe. Dazu kommt: Die internationalen Einkäufer unserer Handelspartner wissen oft gar nicht, wie sie mit diesem Thema umgehen sollen.
Michael Wilhelm: Ich bin grundsätzlich für Transparenz bei Lebensmitteln., Nutri-Score ist ein bisher freiwilliges Nährwertkennzeichnungssystem. Wir vertreiben unter anderem die Cerealien Weetabix Original, die seit mittlerweile mehreren Monaten den Nutri-Score „A“ auf der Packung ausweisen. Auch andere Hersteller haben den Ausweis des Nutriscores angekündigt. Wir beobachten die Entwicklung weiterhin sehr aufmerksam.
Sonja Lischka: Ich musste spontan loslachen, als ich beim Einräumen das A auf einem TK-Kartoffelprodukt gesehen habe. Wir können doch nicht ein Label für den Konsumenten einführen, weil wir ihn für unmündig halten und ihm dann so etwas verkaufen! Jedenfalls kann ich keinem Kunden sagen, achte doch auf den Nutri-Score, wenn Du Dich gesund ernähren willst.
Solveig Schneider: Einige Unternehmen bringen den Nutri-Score auf ihren Verpackungen an. Andere Unternehmen, gerade Mittelständler sind zurückhaltend. Ein freiwilliges Kennzeichnungsmodell sollte der besseren Orientierung der Verbraucher dienen. Das Label ist in unseren Augen hierfür nicht das richtige Modell. Der Verbraucher wird in einer falschen Sicherheit gewogen, sich gesund zu ernähren, wenn er nur noch „A“ Produkte essen würde. Dies ist aber nicht der Fall. Entscheidend ist für den BDSI vielmehr, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher aus einer Nährwertkennzeichnung klare Schlüsse ziehen können, welchen Beitrag das Lebensmittel in Bezug auf den Energie- und Nährstoffgehalt leistet.
Josef Stollenwerk: Für uns ist zweierlei wichtig. Zum einen möchten wir unsere Produkte nicht verändern, denn der Genuss steht im Vordergrund: Wir wollen und können Produkte, die der Kunden seit Jahrzehnten schätzt nicht einfach verändern. Zum anderen fordern wir, dass man europäisch gesamtheitlich vorgeht. Es ist doch völlig absurd, dass der Nutri-Score in Ländern wie Tschechien verboten ist und wir für unterschiedliche Länder unterschiedliche Verpackungen brauchten.

Komplexes Thema also. Wird sich der Nutri-Score auf Süßwaren dennoch durchsetzen?
Frank Gemmrig:
Für mich ist noch nicht geklärt, ob wir beim Verbraucher mit dem Label überhaupt Transparenz schaffen oder ob wir ihn weiter verunsichern. Außerdem zeigt unsere Erfahrung aus dem Vertrieb in Ländern, die eine pechschwarze Tonne als Warnhinweis auf Süßwaren haben, dass das unserem Absatz überhaupt nicht weh getan hat. Der Kunde weiß bei Schokolade und Co., dass er Zucker ißt und das das ein bewusster Genuss ist. Für unsere Branche ist der Nutri-Score nicht relevant und wird nicht schaden – es sei denn, er wird verpflichtend.
Michael Temel: Wir vertreiben in über 100 Länder und müssen uns daher mit dieser Thematik intensiv auseinander setzen. Dabei fragen wir uns auch, ob der Nutri-Score dem Konsumenten wirklich hilft, sein Wissen über Ernährung zu vergrößern oder ihn nur in falscher Sicherheit wiegt. Das reicht ja bis zu der Frage, ob der Ersatz von Zucker in einem Produkt wirklich die bessere Alternative ist.
Mohammed Bahlaoune: Wir bereiten Genuss, Freude, wir wollen Belohnen. Doch mit dem Nutri-Score wird unsere ganze Branche mit einem roten oder orangen Label an den Pranger gestellt – ohne das die Vergleichbarkeit des Verzehrs von Nahrungsmitteln wirklich einleuchtend ist. Wie soll denn ein Kunde beispielsweise den Genuss eines Bieres oder eines Glas Weins einordnen, wenn er das gar nicht in Bezug zu einem Stück Schokolade setzen kann.
Perry Soldan: Für mich ist der Nutri-Score ein erster Schritt, um von Gesetzgebungsseite in der Folge für rote oder orange Produkte eine Zuckersteuer oder ein Werbeverbot zu verhängen. Deswegen haben wir ewig dafür gekämpft, einen Nutri-Score zu verhindern. Nun ist es eine freiwillige Sache, aber wir können sicher sein, dass es auch Gesetz werden wird. Das ist unsere große, langfristige Sorge.
Joachim Mann: Ich bin auch davon überzeugt, dass der Verbraucher, der sich mit seiner Ernährung auseinandersetzt, Farblabel oder Tonnen nicht benötigt. Im Gegensatz, ich kann allein durch ein Vertrauen auf ein „A“ in die völlig falsche Richtung laufen, weil ich keine Nährwerte, sondern nur leere Kalorien zu mir nehme. Gute Ernährung, die wir alle anpeilen sollen, bekommen wir so nicht hin.
Josef Stollenwerk: Vor allem wünsche ich mir, dass auch von wissenschaftlicher Seite her noch einmal deutlich Position bezogen wird. Normalerweise gibt es im Bereich Ernährung zu allem und jedem Studien und Untersuchungen; zum Nutri-Score nicht. Mir fehlen die tatsächlichen Belege.

Wie mündig ist der Verbraucher denn wirklich?
Michael Seidl:
Ich habe schon den Eindruck, dass der Verbraucher schon vor Corona begonnen hat, sich mehr mit Ernährung zu beschäftigen und sich bewusster zu ernähren. Er kauft auch gesündere Produkte. Bei Fertiggerichten macht für mich ein Nutri-Score deswegen auch Sinn, denn diese kann er schlechter einschätzen. Bei Süßwaren ist ein Label für den Kunden irrelevant.
Benjamin Löding: Viele Kunden haben in der Pandemie mutmaßlich mehr Zeit mit Kochen verbracht. Das lässt sich am Einkaufsverhalten deutlich erkennen. Das Bewusstsein dafür, ob und wie viel Süßes verzehrt wird, scheint zuzunehmen. Ein Label fördert das in unseren Augen nicht weiter. Stattdessen sollte mehr Aufklärung angeboten werden. Persönlich habe ich in der Schule zwei Fächer vermisst: Finanz- und Ernährungsbildung.
Markus Lischka: Ich habe das Gefühl, dass das Siegel vor allem dazu dient, die Politiker reinzuwaschen, damit diese unter Beweis stellen können, dass sie alles für die Wähler tun. Der Verbraucher wird dabei völlig unterschätzt, der holt sich die Information, die er will. Inzwischen haben die meisten Kunden Ihr Smartphone dabei und zücken dieses auch, wenn sie eine Auskunft suchen. Die Kunden wissen oft mehr über glutenfreie Produkte oder Laktoseintoleranz als wir. Wenn wir das alles belabeln wollen, wünsche ich nur viel Spaß beim Verpackungs-Design.

Inzwischen ist ja mit einem Klimaschutzlabel ein weiteres Siegel in Deutschland im Gespräch. Wie stehen Sie dazu?
Solveig Schneider:
Die wissenschaftliche Grundlage ist in unseren Augen nicht gegeben. Dazu kommt: Worauf soll der Verbraucher bei all diesen Labeln denn noch achten – und auch der Platz auf der Verpackung ist ja begrenzt.
Perry Soldan: Ich bin ja auch schon seit vielen Jahren mit im BDSI tätig – und nach diesem „irren Ding“ mit dem Nutri-Score kommt jetzt die nächste Hürde. Es nimmt einfach kein Ende mit den Regulierungen und ich fordere die Politik auf, endlich Ruhe einkehren zu lassen. Das ist auch mein Appell an diese Runde hier: Unterstützt uns in der politischen Arbeit für den mündigen, aufgeklärten Konsumenten. Denn dieser steht im Hinblick auf eine bessere und gesündere Ernährung im Mittelpunkt, nicht irgendwelche Regelwerke. Wenn ich davon ausgehe, dass der Verbraucher unmündig ist, nimmt das mit den Regeln und Verboten kein Ende.
Michael Seidl: Grundsätzlich halte ich es für gut, wenn auf Dinge wie den ökologischen Fußabdruck hingewiesen werden. Das sollte aber freiwillig sein, denn ein Hersteller, der sich besonders engagiert, sollte auch die Chance bekommen, dazu direkt mit dem Verbraucher zu kommunizieren. Eine weitere Kontrolle sollte es hier nicht geben.
Benjamin Löding: Mit Siegeln sind die Kunden vermutlich schon heute überfrachtet. Ich bezweifle, ob die Verbraucher bei der Mehrzahl der Siegel wissen, was inhaltlich konkret dahinter steht.
Sascha Loehr:
Unsere Aufgabe als Hersteller ist es doch, den Kunden auch in die Lage zu versetzen, nachhaltig agieren zu können. Das schließt letztendlich alle Aspekte ein, von Papierverpackung bis hin zu regionalen Produkten. In bin sicher, die Konzepte liegen bei uns allen in der Schublade – und werden, wenn auch erst nach Corona, wieder forciert werden.

Wird der Kunde preissensibler? Oder belohnt er sich im Gegenteil häufiger mit hochwertigen Lebensmitteln?
Michael Wilhelm:
Ich bin davon überzeugt, dass der Konsument auch künftig das Besondere sucht und auch weiterhin bereit ist für Premiumartikel einen angemessenen Preis zu zahlen.
Sonja Lischka: Das steht und fällt jetzt mit den politischen Entscheidungen der nächsten Wochen und der Entwicklung der Solidargemeinschaft. Es hängt davon ab, wie gut kommen die Menschen durch die Krise, welche Gewerbe wird es noch geben oder wie sehr unterstützen die Unternehmen ihre Mitarbeiter. 2020 sind wir noch mit einem blauen Auge davon gekommen; den wirklichen Dämpfer der Wirtschaft haben wir noch vor uns. Das werden wir im Supermarkt zuerst zu spüren bekommen, denn bei uns kaufen alle ein und beim Essen wird zuerst gespart. Unser sehr gutes Jahr 2020 im Lebensmittelhandel verhindert einen grundsätzlichen Einbruch nicht.

Welche Entwicklung sehen Sie bei den Eigenmarken?
Sonja Lischka:
Diese sind stark, aber derzeit in der Tat ein bisschen gedämpfter im Verkauf. Der „Ich-Gönne-Mir-Was-Gedanke“ ist bei den Kunden noch sehr verbreitet. Ich vermute aber, dass wird sich ändern, sobald die Zahlungen von Kurzarbeitergeld enden.
Josef Stollenwerk: Ich sehe auf jeden Fall die Schere zwischen Marke und Eigenmarke deutlich mehr auseinandergehen. Marken punkten mit dem gewachsenen Vertrauen bei den Verbrauchern, sie vermitteln Werte wie Authentizität, Ehrlichkeit und Herkunft. Ich sehe aber auch, dass Faktoren wie Regionalität oder Bio zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Dr. Jürgen Brandstetter: Ich sehe es als unsere hervorstechendste Aufgabe an, die Marke zu stärken. Wir profitieren vom Vertrauen der Kunden, gerade in diesen Zeiten, und sollten alles daran setzen, dieses Vertrauen auszubauen. Es wird zwar ein Nebeneinander von Marke und Eigenmarke geben, aber den Vorsprung der Marke sehe ich deutlich.

Welche Faktoren bestimmen derzeit bei Werbung?
Joachim Mann:
Schaut man auf die Startups oder solche Beispiele wie Tony Chocolonelys, sind es die digitalen Tools, die diese Unternehmen zunächst bekannt machen. Aber gekauft wird – noch – eher nicht online, deswegen will jedes Startup in den Handel. Deswegen werden wir weiterhin Maßnahmen für den Handel kreieren – auch wenn wir ebenfalls künftig digitaler vorgehen.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wäre das?
Solveig Schneider:
Ich würde mir wünschen, dass die Politik die Einschränkungen und Einbußen der Süßwarenindustrie nicht noch durch neue bürokratische Regelungen verschärft. Stichwort nationales Lieferkettengesetz, wenn zeitgleich an einem europäisches gearbeitet wird. Wir brauchen auch derzeit keine neue Öko-Verordnung samt Label. Die Unternehmen brauchen in der Nach-Corona-Phase die Luft zum Atmen.
Perry Soldan: Früher hätte ich mir an dieser Stelle mehr Zusammenarbeit zwischen Industrie und Handel gewünscht. Denn in den vergangenen Jahren haben wir oft ein Ringen in den Konditionsverhandlungen gesehen, das meist außerordentlich hart war. Hier erlebe ich derzeit eher ein Miteinander, gerade weil wir in den letzten Monaten alle eine harte Zeit hatten. Für mich zählt gerade das gemeinsame Bemühen um die richtigen Produkte und Aktionen für den Kunden. Diesen Tenor werde ich auch unseren Key-Accountern mitgeben.
Michael Wilhelm: Da die Platzierung von Neuprodukten in den letzten Monaten stark eingeschränkt war, ist mein Wunsch wieder mehr die Vermarktung von Innovationen in den Fokus nehmen zu können und dadurch auch die Attraktivität des Einkaufserlebnisses im Geschäft zu erhöhen.

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