Erinnert sich jemand noch an Ministerin Julia Klöckner? In ihrem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) wurde 2018 die NRI entwickelt, die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten. Ziel ist, den Verbrauchern durch optimierte Rezepturen zu helfen, sich gesünder zu ernähren. In der Folge hat sich etwa der Verband Deutscher Großbäckereien verpflichtet, bis Ende 2025 den Salzgehalt in verpacktem Brot und Kleingebäck pro 100 Gramm auf durchschnittlich 1,1 Prozent zu reduzieren. Die Branche machte sich dran, die Hersteller lieferten in der Folgezeit. Das Monitoring der Fortschritte liegt beim Max-Rubner-Institut (MRI). Dies monierte jetzt, dass unter anderem bei „Wurstwaren, Fleisch sowie Brot und Kleingebäck die Gehalte von Energie, Zucker, Fetten und Salz seit dem Monitoring 2020 größtenteils kaum gesunken seien“. Klassenziel also verfehlt?
Ganz entschieden nicht. Sagt Tobias Schuhmacher, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Großbäckereien: „In der Pressemeldung heißt es ja auch, dass wir ‚nah am selbst gesteckten Ziel‘“ seien. Im Produktmonitoring „erkennt man im Detail, dass wir bei einem Mittelwert von 1,2 Prozent Salzgehalt pro 100 Gramm sind, bei vielen sogar darunter“. Schuhmacher sieht die Branche „gerade im Hinblick auf das bisher Erreichte und in Anbetracht des Zeitmoments auf einem guten Weg“.
In dieser Dimension ist das Thema Salz vor allem ein Thema für diejenigen, die verpacktes Brot und Kleingebäck herstellen. Wobei im Rahmen der NRI auch unverpacktes Brot und Kleingebäck auf die Verwendung von Salz erfasst werden, wie Dr. Elisabeth Sciurba vom Institut für Sicherheit und Qualität des MRI betont. Die Kochsalzerhebung 2022 brachte ernüchternde Ergebnisse: Von 2012 auf 2022 steig der Salzgehalt bei Kleinbetrieben, Filialisten und Biobäckereien über alle Backwarentypen hinweg. Die vergleichsweise niedrigen Werte der Biobäckereien (1,5 Prozent) liegen damit über den Salzgehalten, die von der verpackten Ware industrieller Hersteller erreicht werden müssen.
Der Fokus liegt weiterhin wegen der besseren Erfassbarkeit auf verpackter Ware. Friedemann Berg: „Das Bäckerhandwerk hat in den vergangenen Jahren den Salzgehalt der Produkte deutlich reduziert. Wir setzen auf Freiwilligkeit und Selbstverpflichtung.“ Das Monitoring auch auf das Handwerk auszudehnen, hält der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Bäckerhandwerks für keine gute Idee: „Die deutsche Brotkultur lebt von der Rezepturvielfalt und wäre in Gefahr, wenn das BMEL den Weg zum Rezepturdiktat weiterverfolgt: Wir warnen davor.“
Raus aus der Kennzeichnung
Eine andere Entwicklung gibt es bei der Nährwertkennzeichnung Nutri-Score. Sinnack Backspezialitäten verzichtet nach der Überarbeitung des Algorithmus jetzt ebenfalls auf die Verwendung auf den Markenprodukten. Harry-Brot hatte das Aus schon Anfang des Jahres angekündigt. Ein weiterer Großer der Branche, Lieken (Marke Golden Toast, Lieken Urkorn), hatte gleich ganz verzichtet.
Nach dem neuen Algorithmus führen der Salz- und Zucker- sowie der Ballaststoffgehalt (etwa bei Misch- oder Toastbroten) zu teils deutlichen Abwertungen – aus A wird C. Holger Wüpping-Sinnack aus der Sinnack-Geschäftsleitung: „Die jüngste Entwicklung, die Nutri-Scores trotz gleichbleibender und gesunder Rezepturen nach Belieben abzuwerten, suggeriert dem Verbraucher sicherlich, dass sich die Produkte negativ verändert haben.“ Dabei sei der Nutri-Score eigentlich eine transparente und leicht verständliche Orientierungshilfe gewesen. „Wir sehen es grundsätzlich auch als unsere Verantwortung, diese Transparenz zu gewährleisten. Noch wichtiger ist es jedoch, die Produkte mit gesunden Rezepturen, sprich mit niedrigem Salz- und Zuckergehalt herzustellen. Dabei müssen aber Qualität und Geschmack eines guten Brötchens auch gewährleistet werden können. Man darf es nicht überziehen!“
Frank Kleiner, CEO von Harry-Brot, will künftig das „auszeichnen, was für die Verbraucher die höchste Relevanz hat“: Vegane Brote werden passende Label tragen.
Lieken sieht sich bestätigt: „Unser klassischer Golden Toast würde durch die Verarbeitung von Weizenmehl keine A-Bewertung mehr erhalten“, sagt Felix Neuberger, Head of Marketing. Derzeit werde zudem die „Nachsichtigkeit des Nutri-Scores beim Thema Zucker kritisiert“. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass es zu weiteren Anpassungen kommen könnte: „Während dies erneut mit einem hohen Aufwand für die Hersteller verbunden wäre, würden sich die Auswirkungen für die Konsumenten in einem schlecht nachvollziehbaren Ergebnis widerspiegeln.“
Prof. Dr. Ulrike Detmers ist weiter überzeugt vom Nutri-Score, von der Transparenz, die er dem Verbraucher bietet. „Wir passen unsere Rezepturen daher an und entwickeln sie weiter“, sagt die Geschäftsführende Gesellschafterin der Großbäckerei Mestemacher. Dazu nutzen die Gütersloher die zweijährige Übergangszeit, die bis Ende 2025 läuft. In dieser können vorhandene Etiketten und Folien weiter im Markt verwendet werden. „Der Nutri-Score ist ein guter Wegweiser im Supermarktregal und daher für uns nach wie vor ein wichtiges Kennzeichnungselement unserer Produkte.“
Aber beeinflusst der Nutri-Score überhaupt das Einkaufsverhalten? Das wollte das BMEL wissen, die Ergebnisse wurden im „Ernährungsreport 2023“ veröffentlicht. 84 Prozent der Befragten haben ihn im Regal schon wahrgenommen, 7 Prozent mehr als im Vorjahr. 34 Prozent derjenigen, denen der Nutri-Score aufgefallen war, haben ihn zum Vergleich von Produkten herangezogen. Und bei 37 Prozent hat er die Kaufentscheidung beeinflusst. Sind es schon 37 oder nur 37 Prozent? Immerhin reagiert die Mehrheit anscheinend nicht auf den Nutri-Score.
Unverpackt ist noch fein raus
Für die Hersteller von SB-Brot und -Backwaren bleibt damit ein Problem: Ihre Produkte stehen in direkter Konkurrenz zu Backstationen, Filialbäckereien und Handwerksbäckereien. Brot mit einem höheren Salzgehalt nehmen Menschen als geschmackvoller wahr. Und gerade die Backstationen haben mit dem Ende der Corona-Zeit ihre Kundschaft zurückgeholt und sind mit einem breiten Angebot die günstigere Alternative zum Handwerksbäcker. Lieferanten wie Aryzta setzen hier verstärkt auf sogenannte „Clean-Label-Produkte“ – margenstärkere Snacks, Croissants, Donuts für den Handel ohne bestimmte Zusatzstoffe. Der Salzgehalt ist dabei nicht immer im Fokus.
INTERVIEW MIT STEFFEN GÖHRINGER VON ARYZTA FOOD SOLUTIONS
Konsumenten in Preisangst
Und dann ist da noch die Gefühlslage der Einkaufenden: „Sechs von zehn Konsumenten sagen, dass ihnen Preissteigerungen persönlich Angst machen“, sagt Dr. Susanne Eichholz-Klein, „das ist das Gefühl, das alles prägt.“ Sie ist Bereichsleiterin Market Insights und Mitglied der Geschäftsleitung beim Institut für Handelsforschung in Köln (IFH Köln). Die Zahlen stammen aus dem jüngsten Trend Check Handel der IFH-Tochtermarke ECC Köln. 36 Prozent der Endverbraucher hatten im April bereits die Ausgaben reduziert. 33 Prozent planten dies zu tun. „Hierzulande haben wir einen vergleichsweise starken Preisfokus. Die Preise der Einkaufsstätten werden stark verglichen, Haushaltsgelder strategisch eingesetzt.“ Das bedeutet: Statt Torte gibt es Teilchen. Die Verbraucher schichten die Ausgaben um, großer Gewinner waren 2023 nach GfK-Angaben die Backstationen, „und das scheint sich 2024 fortzusetzen“. Brötchen und Feinbackwaren wie Teilchen oder Kuchenstücke sind die Gewinner.
Derzeit ist der Markt um 3,7 Prozent in der Menge geschrumpft (GfK Consumer Index 05/24). An sich nicht beunruhigend: „Beim Brotkonsum blicken wir durch Corona auf einen stark gestiegenen Konsum“, sagt Eichholz-Klein. Stichwort Abendbrot. Nun wird wieder mehr gesnackt oder auswärts gegessen.
Toast- und Sandwichbrote waren neben Aufbackbrötchen die Gewinner in der Pandemie. Auch hier pendeln sich die Absätze langsam wieder ein, sprich: Sie gehen zurück. Für eine Bewertung für die Zukunft ist der Blick auf die Preisentwicklung unerlässlich: „Gegenüber 2020 sehen wir aktuell trotz Preissenkungen in den letzten Monaten immer noch ein Plus von rund 50 Prozent“, sagt Eichholz-Klein. Sie verweist auf Daten des Statistischen Bundesamtes. Im Juni 2024 lag der Verbraucherpreisindex bei 148,7 Prozent. Gleiches gilt für Aufbackbrötchen: Gegenüber 2020 sind die Preise im Juni 2024 54,3 Prozent höher. Die Folgen: Beim Bäcker haben die Konsumenten nicht immer den genauen Preis für ein Brot im Kopf, weil sie die Sorte wechseln, „aber beim Toastbrot oder Aufbackbrötchen kennen sie tendenziell die Preise“, sagt Eichholz-Klein. Gegen diesen Konsumverzicht müssen nun alle ein Rezept finden.