Hinter den Kulissen So entsteht ein neuer Bio-Joghurt

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Von der Idee zum fertigen Produkt sind viele kleine Schritte notwendig. Das gilt auch für Joghurt-Saisoneditionen. Ein Blick hinter die Kulissen der Andechser Molkerei Scheitz.

Montag, 11. November 2024, 07:00 Uhr
Dr. Friederike Stahmann
Bio-Joghurt: Mann in Kittel an einer Industrieanlage
Bildquelle: Andechser Molkerei

Auf dem Tisch im Besprechungsraum steht ein gewöhnliches Mehrwegglas mit grünem Schraubdeckel. Auf den ersten Blick verrät das durchsichtige Glas wenig über den Inhalt. Ein Naturjoghurt? Ja, vielleicht. Weiß ist der Inhalt schon. Aber halt nicht so reinweiß, wie es Joghurts sind, die ausschließlich das Ausgangsprodukt Milch enthalten. Da muss noch was anderes drin sein. Das Glas in der Hand, löst das Etikett das Rätsel auf: Es ist die Wintersaisonsorte „Kokos-Tonka“.

Wir treffen uns in der Biomilchstraße 1 – passender könnte die Adresse für eine Biomolkerei wohl kaum lauten – im bayerischen Andechs am Ammersee. Mir gegenüber sitzt der Erfinder des ungewöhnlichen Joghurts. Andreas Bertsch lacht, als wir ihn so bezeichnen. Der 34-jährige Bertsch, der in Weihenstephan Lebensmitteltechnologie studiert hat, arbeitet seit drei Jahren als Produktentwickler bei der Andechser Molkerei Scheitz. Zu seinem Arbeitsbereich gehört es auch, die saisonal wechselnden Joghurtsorten zu kreieren.

„Ich wusste schon vor dem Studium, dass ich später einmal Lebensmittel erfinden will“, sagt Bertsch. Dass hier Beruf und Berufung zusammenkommen, wird schnell klar, wenn er in einer Art Zeitraffer erklärt, was ansonsten ein halbes Jahr dauert: die Entwicklung einer Winterjoghurtsorte, die seit einigen Wochen nun schon in den Frischeregalen des Handels erhältlich ist.

Am Anfang jeder Neukreation stehe erst einmal Kopfarbeit, erzählt Bertsch. Über Tage stecke ein kleines Team aus Produktentwicklern, Marketing und Vertrieb die Köpfe zusammen: Welcher Geschmack bietet sich an? Lebkuchen, Vanillekipferl oder Bratapfel? Was verkaufe sich auch noch nach Weihnachten? Zwar soll eine Wintersorte mit winterlich kalten Tagen im Advent und festlichen rund um Weihnachten assoziiert werden. Da sie aber vom 1. Oktober bis 1. März in den Regalen des Handels stehe, brauche es gleichzeitig eine Mischung, die auch vor und noch nach den Festtagen „funktioniere“. So wie „Pflaume-Zimt“ im vergangenen Jahr und eben in diesem Jahr die Liaison aus Kokosmakrone und Tonkabohne.

Woher die Ideen für Neukreationen kommen? Aus einem eigenen, schier unendlichen Ideenpool und aus vielen Brainstorming-Runden, erklärt Bertsch. Auch der Blick in Eistruhen, Gewürzregale und die Dessertabteilungen dieser Welt helfe weiter. Vor allem Speiseeishersteller „sind häufig innovationsgetrieben“, weiß Irmgard Strobl, Leiterin der Produktentwicklung, die ebenfalls heute mit am Besprechungstisch sitzt. Im Gewürzbereich von Desserts und Gebäck sei das Must-have derzeit unumstritten die Tonkabohne. Impulsgeber sind zu guter Letzt auch die Kunden selbst.

Bei aller Kreativität muss der Produktentwickler aber auf die lebensmittelrechtliche Seite schauen. So schreibe, erzählt Andreas Bertsch, beispielsweise die Milcherzeugnisverordnung vor, dass ein Fruchtjoghurt „Fruchtjoghurt“ heißen darf, wenn er maximal 30 Prozent Fruchtzubereitung enthält. Was ansonsten passiere, will ich wissen. Bertsch lacht: „Dann heißt und ist das Endprodukt beispielsweise Kirschpüree mit Joghurt.“

Doch bei allen Gedankenspielen über die „richtige“ Mischung stünden noch zwei ganz banale, aber nicht minder entscheidende Fragen im Raum, erzählt Bertsch: Gibt es die ausgesuchten Zutaten auch ausreichend in Bioqualität, und liegt die fertige Kreation im Preisbudget?

Den Geschmack auf der Zunge

Sobald die Entscheidung für eine neue Sorte gefallen ist, entwirft Andreas Bertsch eine Mischung. Basis für jede Joghurt-Neukreation in Andechs ist der hauseigene Naturjoghurt. Ob „Kokos-Tonka“ oder „Pflaume-Zimt“: Schon vor der ersten Testphase „habe ich das Endprodukt auf der Zunge“, weiß Bertsch, wohin die geschmackliche Reise gehen soll.

Der Weg dorthin hat viele kleine Schritte: Wie viele und wie große Kokosstücke sollen im Joghurt sein? Lieber Flocken oder besser Raspeln? Wie viel von der herb-vanilligen Tonkabohne darf in die Gesamtmischung, damit eine Harmonie zwischen Joghurt, Kokos und Gewürz entsteht? Antworten auf diese Fragen stellt er in einem Briefing für die Zulieferer, die bei den Andechsern „Partner“ genannt werden, zusammen. Bioqualität ist Pflicht. Auch der Zuckergehalt und die Herkunft des Zuckers – heimischer Rübenzucker – im Endprodukt stehen von Anfang an fest.

Rund vier Wochen braucht es, bis die Zulieferer die erste Variation der Kokos-Tonka-Mischung – abgefüllt in Marmeladengläser – schicken. Zeit für Andreas Bertsch, seinen Büroarbeitsplatz gegen den im Labor zu tauschen. Mit Schneebesen und Schüssel rührt er per Hand die ersten Versuche an. Teelöffel für Teelöffel. Die Kollegen aus der Abteilung dürfen dann zum ersten Mal kosten: Stimmt die Haptik im Mund? Sind die Kokosraspeln zu lang oder zu dick? Ist die Farbe wie gedacht? Die Mischung etwas zu süß? Entschieden wird nach dem Mehrheitsprinzip.

Nach der ersten Verkostung spezifiziere er den Wunschkatalog, was in einem zweiten Briefing an die Zulieferer endet. Wieder muss Bertsch warten. Sobald die neue Charge da ist, kommt der Thermomix zum Einsatz. Ziel: eine so homogene Mischung wie später im Endprodukt zu erzielen. Um den vollen Geschmack zu entfalten, bekommen die einzelnen Joghurtmischungen zudem 24 Stunden Zeit.

Ein Sensorik-Panel aus sechs bis sieben geschulten Kollegen trifft sich zur Verkostung. Eine feine Zunge, die Nuancen herausschmeckt, sei gefragt. Tabu vor einer Verkostung seien neben Koffein und ­Nikotin auch stark oder scharf gewürzte Speisen, ­erzählt Strobl. Verkostet wird auch nicht direkt nach dem Frühstück oder dem Mittagessen. Neutrale Geschmackspapillen werden gebraucht.

Zimt und Rosinen spalten

Die Diskussion hinterher „ist wirklich sehr spannend“, beschreibt Bertsch die ersten Begegnungen „seiner“ Neukreation mit den Versuchsprofis. Bewusst sei ihm im Vorfeld, dass es vor allem bei Aromen wie Zitrus, Karamell, Zimt und Rosinen eine starke Polarisierung gebe. Was so viel bedeute wie ­lieben oder ablehnen. Auch die Präferenzen für die optimale Farbe und Textur seien sehr individuell.

Weitere Optimierungsrunden folgen. Ist die gewünschte Mischung gefunden, bestellt Bertsch, statt wie sonst Vormischungen in Größe von Marmeladengläsern, diese in Stahlcontainern. Die ersten 1.000 Joghurtgläser werden professionell in der Werkhalle gemischt und abgefüllt. Der Arbeitsplatz des dynamischen Produktentwicklers ist nun die Abfüllanlage. Passt die Dosiergeschwindigkeit? Tropft nichts nach und verschmiert gar die Gläser? Ist die Durchmischung wie angedacht? Maschinen werden programmiert und Zutaten justiert. Schmeckt die industriell abgefüllte Winteredition so wie das Handmuster?

Kinder wollen keine Fruchtstücke

Wie eine Studie des Fachbereichs Lebensmittelwissenschaften der Universität Kopenhagen zeigt, bevorzugen sechsjährige Kinder glatte Konsistenzen bei Lebensmitteln. So mögen sie zum Beispiel keine Erdnussbutter mit Stückchen, Marmelade mit Beeren oder Joghurt mit Fruchtstücken. Die Autorin Ching Yue Chow vermutet, dass das auf „Nahrungs-Neophobie“ zurückzuführen sei, also die Vorsicht, neue Lebensmittel zu probieren. Dieses Verhalten könnte Kinder davor schützen, schädliche Nahrung zu sich zu nehmen, wenn sie beginnen, selbst bewusst Entscheidungen zu treffen.

Passt alles, dürfen nun 50 bis 100 sogenannte Genussprofis ran. Es sind Kunden, die sich bei der Molkerei als Tester beworben haben und sensorisch geschult worden sind. Per Post erhalten sie die ­Produktpakete. Nach dem Joghurtlöffeln vergeben­
sie über ein digitales Tool Punkte für Aussehen, Konsistenz, Geruch, Geschmack und Beschaffenheit nach dem DLG-Prüfschema.

Die letzten Hürden bis ins Regal

In der Zwischenzeit wechselt Andreas Bertsch wieder ins Labor. Die Nährwerte im Endprodukt müssen analysiert, eine exakte Zutatenliste erstellt und eine Beschreibung möglicher Allergien und lebensmittelrechtlicher Vorschriften angefertigt werden. Auch Tests zur Mindesthaltbarkeit stehen nun an. Zurück am Schreibtisch geht es gemeinsam mit der Marketingabteilung ans Layout des Etiketts. Dass er einen guten Riecher für die Geschmackswelt der ­Andechser-Kunden hat, zeigt sich beim Ergebnisrücklauf der Genussprofis. „Da herrscht meist Konsens“, freut sich Bertsch. Noch eine Hürde ist zu nehmen, bevor es an Listungsgespräche mit dem Handel geht: Die Einkäufer des Lebensmitteleinzelhandels dürfen nun verkosten.

Läuft alles nach Plan, stehen wie in diesem Jahr seit 1. Oktober die 500-Gramm-Mehrwegjoghurt­gläser „Kokos-Tonka“ und „Bratapfel“ in den Frische­regalen. Sie lösen die Sommersorten „Zitrone“ und „Drachenfrucht-Guave“ ab. Mehr als zwei Sorten pro Saison vertrage der Markt nicht, so Strobl. Insgesamt bringe man rund 15 neue Produkte über die Gesamtrange der Molkerei pro Jahr auf den Markt.

Andechser Molkerei – wo alles bio ist

Andechser

Die familiengeführte Andechser Molkerei Scheitz mit Sitz im oberbayerischen Wallfahrtsort Andechs ist mit rund 220 Mitarbeitern und 680 Zulieferern die größte deutsche Molkerei für Biolebensmittel. Mit ein Markenzeichen ist das von Hundertwasser inspirierte Werksgebäude. Die energetisch nachhaltige Produktion steht im Zentrum.

Das Bio-Sortiment reicht von Trinkmilch, Joghurts und Desserts über Drinks, Butter und Sahne, Topfen und Quark bis zu Käse und Ziegenmilchprodukten. Kunden sind neben dem Naturkosteinzelhandel und den Reformhäusern vor allem der Lebensmitteleinzelhandel.

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