Die Limetten sind zu gelb, die Zitronen zu grün, die Gurken zu krumm. Raphael Kennerknecht, Geschäftsführer des Bio-Importeurs und Erzeugers Lehmann Natur, ärgert sich darüber, dass manche frischen Produkte unter anderem wegen Schönheitsfehlern aus der Lieferkette verschwinden (müssen). Und dann? „Bestenfalls vermarkten wir sie an die weiterverarbeitende Industrie. Was sie nicht verwendet, spenden wir Tafeln oder sozialen Einrichtungen. Schlimmstenfalls müssen wir die Ware entsorgen“, berichtet Kennerknecht und ergänzt: „Damit mich niemand falsch versteht: Die EU-weit einheitlichen Vermarktungsnormen sichern eine gleichbleibend gute Qualität von Obst und Gemüse. Trotzdem stellt sich die Frage: Tragen bestimmte Anforderungen der Vermarktungsnormen sowie zusätzliche handelsspezifische Kriterien zur Lebensmittelverschwendung („Food Waste“) bei? Dazu gab es bisher keine validen Daten. Und genau hier setzt das EU-Projekt „Breadcrumb“ (siehe Kasten am Ende des Beitrages) an.
Ziele des Breadcrumb-Projektes
Die Projektpartner analysieren zunächst, ob und wie sich die Vermarktungsnormen auf die Lebensmittelverschwendung auswirken. Dafür erheben sie Daten entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Anschließend sollen die Projektbeteiligten Lösungen entwickeln, wie optisch weniger ansprechende, aber qualitativ einwandfreie Produkte in den Handel gelangen können. Produzenten und Großhändler sollen Unterstützung bekommen, geeignete Vermarktungskanäle und Geschäftsmodelle für diese Ware zu erschließen. Das Breadcrumb-Projekt beleuchtet in 16 Fallstudien übrigens auch andere Produktgruppen – also nicht nur Obst und Gemüse.
Lehmann Natur ist eines der wenigen freien Unternehmen, die an dem Projekt teilnehmen. „Als Bio-Importeur und Erzeuger mit Handelspartnern vom Discounter bis zum Naturkostladen können wir im Rahmen unserer Fallstudie eine Datengrundlage für bestimmte Obst- und Gemüsearten schaffen“, ist der Geschäftsführer überzeugt. Er erläutert: „Wir können zeigen, an welchem Punkt der Lieferkette Lebensmittel aufgrund von Vermarktungsstandards aussortiert und weggeworfen werden. Dafür haben wir 39 zufällig ausgewählte Chargennummern von Limetten, Zitronen, Tomaten, Gurken und Paprika aus unserem System untersucht. Zudem haben wir Reklamationen der Handelsunternehmen analysiert und geprüft, welche Reklamationen auf Verstöße gegen Vermarktungsstandards zurückzuführen sind. Außerdem haben wir Interviews mit Lieferanten geführt, um deren Perspektive einzubeziehen.“ Die Fallstudie führte Lehmann Natur in Kooperation mit dem Collaborating Centre on Sustainable Consumption and Production (CSCP) durch.
Ergebnisse auswerten
Erste Ergebnisse der Fallstudie zeigen, dass Lebensmittelverschwendung mitunter bereits zu Beginn der Lieferkette beim Erzeuger stattfindet: So musste ein Farmer aus Kolumbien etwa 30 Prozent der Bio-Limetten aussortieren, weil sie nicht die richtige Größe aufwiesen oder zu gelb waren. Dabei beeinflussen Gelbfärbung und Größe weder Qualität noch Geschmack der Früchte.
Anderes Beispiel: Lehmann Natur konnte nur 83 Prozent einer Gurkenlieferung an den Lebensmitteleinzelhandel vermarkten. Fast 13 Prozent mussten entsorgt werden, weil die Bio-Gurken weiche Enden aufwiesen. 4 Prozent hat Lehmann Natur an Tafeln oder soziale Einrichtungen verschenkt.
Bei Tomaten und Paprika hat Lehmann Natur in der Fallstudie festgestellt: Reklamationen aufgrund von strengen Toleranzen bei Verderb führen zu Warentourismus. Raphael Kennerknecht betont: „Reklamationen von Handelspartnern aufgrund von Verderb sind im Obst- und Gemüsehandel nicht ungewöhnlich. Problematisch ist jedoch der Rücktransport – meist wird die gesamte Partie zurückgeschickt, nicht nur der betroffene Teil. Dabei verdirbt auf dem Rückweg häufig weitere Ware. So entsteht ein unnötiger Transport – zulasten der Umwelt.“
Deshalb sucht der Geschäftsführer den Dialog mit dem Handel: „Wir möchten im Rahmen des Breadcrumb-Projektes mit Branchenvertretern diskutieren, an welchen Stellschrauben wir gemeinsam drehen können“, sagt Raphael Kennerknecht und nennt Beispiele: „Wie können Retourenprozesse optimiert werden, um Ressourcen und ökologische Belastungen einsparen zu können? Monetäre Rückvergütung statt Warentourismus sind denkbar. Oder: Auch wenn Plastikverpackungen ökologische Nachteile mit sich bringen, zeigen Untersuchungen, dass Gurken in Plastikfolie länger haltbar bleiben. Ist eine saisonale Folierung möglicherweise auch eine Möglichkeit, Food Waste zu vermeiden? Und: Sind alle handelsspezifischen Anforderungen tatsächlich erforderlich? Wir suchen Lösungen, die für alle Beteiligten praktikabel und sinnvoll sind, um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Es geht darum, ohne erhobenen Zeigefinger noch mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, wo in der Lieferkette Wertschöpfung verloren geht und wie sich dies vermeiden lässt.“
Wunsch nach perfekter Ware
Wie steht es um das Bewusstsein für weniger Food Waste im Handel? Laut Edeka ist das Angebot sogenannter „nicht perfekter Ware“ seitens der Erzeuger geringer als erwartet. Dafür gebe es gut funktionierende Vermarktungswege, zum Beispiel in der Lebensmittelindustrie. Rewe sieht das Problem eher bei den Verbrauchern, wie ein Sprecher sagt: „Verbraucher haben für Lebensmittel mit optischen Abweichungen eine geringere Kaufbereitschaft und sind für diese auch (deutlich) weniger bereit zu zahlen als für das makellose Pendant. Außerdem erhöht das zusätzliche Angebot an Produkten mit Makeln die Gesamtnachfrage nach der Artikelgattung nicht. Ergo verkauft auch der Obstlieferant nicht mehr, jedoch zu einem geringeren Preis. Deshalb rechnet sich eine durchgehende Vermarktung von Produkten mit Makeln im Supermarkt für Handel und Landwirtschaft oft nicht. Alternative Vermarktungsformen sind für die Landwirtschaft dann oft die effizientere, praktikablere und rentablere Lösung.“
Für die Produzenten bleibt das von Verbrauchern und Handel gewünschte optisch perfekte Obst und Gemüse allerdings nicht ohne Folgen, wie Philipp Ackermann, Leiter Qualitätsmanagement bei Landgard, berichtet: „Für die Erzeugerbetriebe sind diese Wünsche nur mit immer höheren Produktionskosten, zum Beispiel durch steigende Arbeitslöhne und höhere Energiepreise, zu erreichen. Auch die Einschränkung der verfügbaren zugelassenen Pflanzenschutzmittel macht es immer schwieriger, Krankheiten und Schädlinge zuverlässig zu bekämpfen. Damit steigt der Anteil der Ernte, der nicht die gewünschte Qualität erreicht. Auch im nachgelagerten Bereich steigen die Kosten für qualitätserhaltende Maßnahmen. Hier öffnet sich eine Schere zwischen Erwartungshaltung und wirtschaftlich Machbarem.“
Lebensmittel retten
Was jedoch nicht heißt, dass sich der Handel nicht für weniger Food Waste einsetzt. Ob es Rettertüten von Lidl, Krumme Dinger von Aldi Süd, Bio-Naturhelden von Penny oder Spenden für die Tafel sind – die Handelskonzerne geben nicht perfektem Obst und Gemüse durchaus eine zweite Chance. Erst seit Anfang Februar vertreiben Landgard und Rewe West Wetteräpfel und -birnen unter der Marke „Anders Perfekt“. Auch was die Toleranzen bei den EU-Vermarktungsnormen für Obst und Gemüse betrifft, gibt es bereits ein Entgegenkommen: Rewe passt wo immer nötig die jeweiligen Spezifikationen an beziehungsweise erweitert bewusst die Toleranzen im konventionellen Obst- und Gemüsesortiment, beispielsweise bei Liegestellen von Melonen oder Blattrandknospen bei Salaten. Bei Aldi Nord entspricht zum Beispiel ein großer Teil der oberirdisch wachsenden Bio-Obst- und -Gemüseartikel der Handelsklasse 2, da sie wegen des Verzichts auf chemische Pflanzenschutzmittel oftmals kleinere optische Makel aufweisen. Dies akzeptieren die Kunden auch so.
Weitere, individuelle Standards
Und wie sieht es mit handelsspezifischen Anforderungen aus? Die Deutsche Umwelthilfe hat in einer aktuellen Studie untersucht, welche Handelsunternehmen zusätzliche Standards fordern (siehe Kasten). Lidl fordert zum Beispiel einen höheren Weißanteil bei Porree/Lauch. Ein möglicher Grund dafür: Verbraucher verbinden damit mehr Frische und einen höheren verwertbaren Anteil der Porree-/Lauchstangen. Dabei muss man die grünen Blätter nicht wegwerfen, auch sie kann man verwenden.
Ganz ohne spezifische Anforderungen geht es jedoch nicht immer, wie Marketingleiter Jens Anderson von Elbe Obst weiß: „Apfel-Clubsorten definieren zum Beispiel bei Festigkeit, Zuckergehalt und Farbe eigene Mindestwerte, um eine in etwa gleichbleibende Qualität zu gewährleisten. So muss bei einer Apfelmarke die Deckfarbe einen bestimmten Anteil Farbe in einer bestimmten Intensität haben, damit das gewünschte Geschmackserlebnis eintritt. Das haben Verkostungen und Messungen eindeutig ergeben.“
Mehr Wertschätzung in der Gesellschaft
Fakt ist: Es braucht klare Handelsnormen, um die Erzeuger- und Verkaufspreise marktgerecht zu gestalten. Sollte die EU in Anbetracht des Food Waste bestimmte Kriterien der Vermarktungsnormen lockern? „Das ändert im ersten Schritt leider nichts am Einkaufsverhalten der Verbraucher“, ist Philipp Ackermann von Landgard überzeugt. „Dennoch sollte man darüber nachdenken, ob wir weiterhin den Krümmungsgrad der Gurke als Qualitätsmakel ansehen, wenn dieser zu stark ausgeprägt ist.“ Viel wichtiger als eine Überarbeitung der Vermarktungsnormen sei eine grundlegend höhere Wertschätzung für frische Obst- und Gemüseprodukte in der Gesellschaft. Wer aus einer perfekten Social-Media-Welt mit Beautyfiltern kommt, möchte im Supermarkt meistens keine dreibeinige Möhre sehen.
Das sieht auch Raphael Kennerknecht so: „Wir brauchen nicht nur die Unterstützung des Einzelhandels, sondern auch die Akzeptanz der Verbraucher. Deshalb möchten wir im Rahmen des Projektes zusätzlich Kampagnen initiieren, um das Bewusstsein der Verbraucher zu schärfen. Wir möchten sie zum Bespiel darüber aufklären, dass gelbe Limetten und grüne Zitronen nicht minderwertig sind. Auch dazu freuen wir uns auf den Austausch mit dem Handel.“
Breadcrumb-Projekt in Kürze
Ziel des EU-Projektes ist es, die Auswirkungen der Vermarktungsnormen auf die Lebensmittelverschwendung besser zu verstehen, sie zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen, um so Lebensmittelverluste signifikant zu reduzieren. Das Projekt startete im Januar 2024 und läuft bis Dezember 2026. 21 Partner aus acht europäischen Ländern sind beteiligt. Das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont der Europäischen Union unterstützt das Breadcrump-Projekt mit einem Budget von 5 Millionen Euro. Geplant sind 16 Fallstudien in den fünf Lebensmittelgruppen Obst und Gemüse, Fleisch, Getreide, Eier und Fisch.
„Zur Verarbeitung bestimmt“
Seit dem 1. Januar 2025 gibt es für den Lebensmitteleinzelhandel eine erweiterte Regelung zum Verkauf von nicht perfekt aussehendem frischen Obst und Gemüse, das für den privaten Bedarf „zur Verarbeitung bestimmt“ ist. Die Allgemeine Vermarktungsnorm der Europäischen Union ist einzuhalten, eine Angabe der Klasse oder Sorte ist aber nicht erforderlich. Bisher galt die Regelung nur für Äpfel und Birnen. Jetzt gilt sie für alle Erzeugnisse, die unter die Speziellen Vermarktungsnormen der EU oder unter die Allgemeine Vermarktungsnorm der EU fallen. Gemeint sind auch Obst und Gemüse der UNECE-Normen, sofern sie den Anforderungen der Allgemeinen Vermarktungsnorm unterliegen, wie Melonen, Zucchini oder Fenchel.
Pakt gegen die Verschwendung
Im Jahr 2023 hatten sich 14 Handelsunternehmen dazu verpflichtet, die Lebensmittelabfälle bis zum Jahr 2025 um 30 Prozent und bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zu reduzieren. Ein Jahr nach der Umsetzung des Paktes konnten Betriebe ihre Abfälle insgesamt um 24 Prozent reduzieren. Eine der wesentlichen Maßnahmen ist die Zusammenarbeit mit den Tafeln in Deutschland. (Quelle: BMEL, Dezember 2024)