Bioregelung unter Druck Wenn die Weide fehlt – warum tausende Biomilchhöfe jetzt umstellen oder aufgeben müssen

Hintergrund

Die EU will durchsetzen, dass alle Biokühe auf die Weide können. Nicht zu machen, sagen einige Bauern. Die Politik sucht nun nach Lösungen. Geht die Verbrauchertäuschung also weiter?

Freitag, 02. Mai 2025, 05:40 Uhr
Dr. Friederike Stahmann
Auslauf oder Weide: Bisher ging für Biomilcherzeuger beides. Bildquelle: Verbraucherzentrale Bundesverband

Die Kuh auf der Weide gehört zur Öko-Landwirtschaft dazu wie die Milch zum Müsli.“ Die Aussage stammt von Noch-Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir Anfang März im baden-württember­gi­schen Biberach beim Gespräch mit Landwirten. Warum er das so plakativ und überdeutlich ausspricht, dass Biokühe auf der Weide zu stehen haben? Weil es unter den Biomilcherzeugern im Süden rumort.

Nach der Berichter­stattung in der Ausgabe 3/2025 unter dem Titel „Ende der falschen Biomilch“ bekam das auch die Lebensmittel Praxis zu spüren. Grund genug, um noch einmal nachzuhaken. Zuvor die Fakten: Vor vier Jah­ren leitete die EU-Kommission ein sogenanntes Pilotverfahren zum verpflichtenden Weidegang für alle Pflanzenfresser auf Bio-Betrieben gegen Deutschland ein. So ein informelles Prüfverfahren wird dann angescho­ben, wenn die EU-Kommission Zweifel hat, dass in einem Mitgliedstaat Diskrepanzen zwischen nationalem und EU-Recht bestehen.

Anlass für das Pilotverfahren war ein Merkblatt des Landes Baden-Würt­temberg zur Weidehaltung. Darin stand, dass unter Weidegang „sechs Stunden pro Tag und an 120 Tagen im Jahr“ zu verstehen sei. Zu wenig, so die EU-Kommission. Denn die EU-Öko-Verordnung 2018/848 fordert, dass Biorindern „ständiger Zugang zu Weideland“ zu ermöglichen ist.

Bund und Länder haben an einer Lösung gefeilt und im November 2024 ein „Weidepapier“ vorgelegt. Das hat die EU-Kommission akzeptiert. Rechtlich bleibt damit klar, so das Bundes­land­wirtschaftsminis­terium: „Die Weidepflicht für Bio-Pflanzenfresser ergibt sich unmittelbar aus der EU-Öko-Verordnung 2018/848 – die Vorgaben gelten unverändert.“

Wo das Problem nun liegt? Weidegang ist in Deutschland alles andere als Alltag. Laut Statistischem Bundesamt grasen nur 31 Prozent aller Kühe und Rinder hierzulande unter freiem Himmel. Besser sieht es aus, wenn man sich biologisch wirtschaftende Betriebe anschaut. Insgesamt gibt es rund 5.000 Biomilchviehbetriebe in Deutschland, der Großteil davon hat seine Höfe in Süddeutschland. Davon rund 3.000 allein in Bayern. Und die, so zeigt eine Auswertung der Landesvereinigung für den ökologischen Landbau in Bayern, praktizieren zu 85 Prozent Weidehaltung. Aber halt nicht 100 Prozent. Daher verwundert es nicht, dass Manfred Gilch, Vorstand des Bundesverbands Deutscher Milchviehhalter, in Bezug auf die Einhaltung des Weidepapiers prognos­tiziert: „Für mindestens ein Viertel der Biomilcherzeuger in Süddeutschland bedeutet diese Weideverpflichtung das Aus ihrer Biomilcherzeugung.“

Landwirte in die Irre geleitet?

„Jahrelang wurden wir beraten, unsere Ställe nach höchsten ökolo­gi­schen Standards umzubauen – mit großzügigen Freilaufflächen, eingestreuten Liegeflächen und innovativen Haltungssystemen“, kritisiert Landwirt Jens Keim von der Interessenge­mein­schaft „Kein Zwang zur Weide“. Dass das nun nicht mehr reiche, sei „Verrat an den Bauern, die Bio von Anfang an getragen haben“, so der Biomilcherzeuger aus dem mittelfränkischen Feuchtwangen.

Publikumswirksam machte die Interessengemeinschaft die Biofachbesucher Mitte Februar in Nürnberg auf ihr Problem aufmerksam: mit einem schwarzen Sarg, darauf ein Paar Holzclogs und der Aufschrift „Hier ruht 20 % Bio“, dazu Lautsprecherdurchsagen und Handzettel. Es seien spezielle Ortslagen, verkehrsreiche Straßen­que­run­gen oder nicht arrondierte Weideflächen, die sie davon abhielten, ihre Kühe auf die Weide zu lassen. Dass diese wie auch weitere Proteste von Biomilchbauern Wirkungen zeigen, verdeutlichen die Reaktion des grünen Bundeslandwirtschaftsministers Cem Özdemir und Bayerns CSU-Agrarministerin Michaela Kaniber. Sie wollen sich nun für Ausnah­megenehmigungen starkmachen. Das kommt einem Rollback gleich.

Auch die milchverarbeitende Industrie springt den in die Bredouille geratenen Biomilchbauern zur Seite. „Die kurzfristige Information von Politik und Behörden wird das Aus für viele Betriebe bedeuten“, be­fürchtet beispielsweise die Molkerei Schrozberg, die sich ausschließlich auf die Verarbeitung von Deme­ter-­Milch spezialisiert hat.

Die Existenzsorgen sind auf politischer Ebene angekommen. So sei Cem Özdemir im Austausch mit der Kommission, um Lösungen für die Härtefälle bei Bestandsbetrieben zu erwir­ken, bestätigt das Ministerium auf Nachfrage. Ziel sei es, „diesen Betrie­ben mehr Zeit zu verschaffen, sodass sie Konzepte entwickeln und umsetzen können, mit denen sie ihre Betriebe weiter ökologisch bewirtschaf­ten können“. Es geht also um Zeit. Zeit, Weiden anzusäen oder Nachbarn zum Tausch geeigneter Flächen zu bewegen. Cem Özdemirs Parteikol­legin und Bundestagsabgeord­nete Ophelia Nick formuliert es so: „Tierschutz ist ein Grundpfeiler in der Bio-Landwirtschaft. Ich unterstütze die Nachbes­serungen, die die EU im Sinne der Tiere verlangt, denn die Weidehaltung ist die artgerechteste Haltung. Diese Nachbesserungen müssen aber auch für die Betriebe praktikabel sein, damit die Bio-Höfe erhalten bleiben.“

Mehr noch versucht die bayerische Landwirtschaftsministerin für „ihre“ Biomilcherzeuger zu erreichen. Sie möchte eine Änderung der EU-Öko-Verordnung. Nach ihrem Willen soll es den zuständigen Behörden erlaubt werden, in einzelnen Härtefällen Ausnahmen von der Weidepflicht für Teile eines Tierbestands zu erteilen, falls ein Weidezugang aus strukturellen Gründen nicht möglich ist. 2025 stelle ein Übergangsjahr dar, so das bayerische Landwirtschaftsminis­te­rium. Sollten die Öko-Kon­troll­stel­len bei der diesjährigen Überprüfung einen Verstoß gegen die Weidepflicht notieren, „wird das 2025 noch keine Konsequenzen […] nach sich ziehen“, so Simon Springer, stellvertretender Pressesprecher der Ministerin Kaniber gegenüber der Lebensmittel Praxis.

Wieder ein Kompromiss?

Biomilcherzeugung ganz ohne Weide wird aber zukünftig, wie die Dinge stehen, wohl nicht mehr möglich sein. „Praktikabel und sinnvoll wäre es, den Weidegang für Rinder ab 13 Monaten zu verpflichten und Weidegang für jüngere Tiere als freiwillige Maßnahme zu akzeptieren“, schlägt Siegfried Meyer, Vorstand der Molkerei Schrozberg, vor. So könnten Mensch und Tier nahe viel befahrener Straßen geschützt werden und das Austreiben für kleinbäuerliche Familienbetriebe überhaupt bewältigt werden. Ob es Biomilch „light“, also ohne den kompletten Weidegang aller Tiere, geben wird, bleibt bis zur Entschei­dung aus Brüssel in der Schwebe. Die Molkereien reagieren schon mal im Vorfeld und labeln inzwischen teilweise ihre Biomilch, die von weidenden Kühen stammt, als „Bio-Weide­milch“.

Und auch der Handel reagiert. Rewe bietet beispielsweise neben verschiedenen Bio-Milch-Varianten explizit auch Bio-Weidemilch an. Was auch „prominent kenntlich gemacht“ werde, so Pressesprecher Thomas Bonrath gegenüber der Lebensmittel Praxis. Ob das den Verbraucher eher verwirrt als „schlauer“ macht, bleibt dahingestellt.

Die Bio-Landwirte in Österreich zeigen, dass die Weidevorgabe für Rinder umsetzbar ist. Auch sie waren von der EU deswegen angemahnt worden. Seit 2022 haben im Alpenstaat nun alle ökologisch gehaltenen Tiere ständig Zugang zu Freigelände. Im Winter können sie auf Auslaufflächen rund um den Stall, in der Vegetationsperiode aufs Grün. Der Weidegang darf nur durch witterungsbedingte Umstände (z. B. Trockenheit) oder ungünstige Bodenzustände (z. B. durch Regen) eingeschränkt werden. Ausnahmeregelungen, wie zu wenig Weideland oder die schwierige Erreichbarkeit, gelten dagegen nicht mehr.

3 Fragen an

Jutta Jaksche, Referentin im Team 
Lebensmittel beim Verbraucherzentrale Bundesverband

Sollte Biomilch, die ohne oder nur zum Teil mit Weidegang erzeugt wird, speziell gekennzeichnet werden?
Jutta Jaksche: Verbraucher müssen sich darauf verlassen können, dass es Tieren in Bio-Haltung besonders gut geht und sie mit dem höheren Preis auch mehr Tierwohl einkaufen. Dass einige Biobetriebe aufgrund ihrer Lage und Flächen nicht in der Lage sind, Weidegang zu ermöglichen, ist ein Problem. Auch für Verbraucher, die davon ausgehen, dass ein Bioprodukt genau das liefert. Der Hinweis „ohne oder mit nur teilweisem Weidegang“ könnte vorübergehend die Kennzeichnung ergänzen.

Sind Übergangsfristen die Lösung des Problems?
Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft hat eine Übergangsfrist von fünf Jahren vorgeschlagen, die aus unserer Sicht praktikabel ist. Nun liegt es an Bund und Ländern, sich auf ein einheitliches Vorgehen zu einigen. Für die Übergangszeit sollten sie Tierschutzleistungen festlegen, die die Betriebe anstelle der Weidehaltung erbringen müssen.

Funktioniert Biomilch zu jedem Preis?
Auch eine höhere Zahlungsbereitschaft für Produkte mit mehr Tierwohl ist vielfach belegt. Trotz Preissteigerungen gibt es insgesamt eine höhere Nachfrage nach Bio-Eigenmarken. Das zeigt, dass den Verbrauchern die Herkunft wichtig ist und Bio-Artikel gut angenommen werden, wenn sie bezahlbar sind.

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