Roundtable Tierwohl lebt - nur die Kunden sparen

Die Landwirte Simona und Carl-Hendrik May haben vor Kurzem in einen Tierwohlstall investiert. Aber ist auch der Kunde in der Krise am Thema interessiert? Beim Treffen des Arbeitskreises „Bauern treffen Händler – Händler treffen Bauern“ tauschen sich Landwirte und Händler aus.

Freitag, 15. September 2023 - Fleisch
Jens Hertling
Artikelbild Tierwohl lebt - nur die Kunden sparen

Wie verkauft sich das Thema Tierwohl in Zeiten der Krise? Sind Schweinehalter, die in mehr Tierwohl investiert haben, die Verlierer der aktuellen Krise? Nein, so die Meinung der Mitglieder des Arbeitskreises „Bauern treffen Händler“. Beim fünften Treffen des Arbeitskreises „Bauern treffen Händler – Händler treffen Bauern“ tauschten sich Landwirte und Lebensmittelhändler aus. Ins Leben gerufen haben den Arbeitskreis die Redaktionen Lebensmittel Praxis und Top Agrar.

Der Schweinesektor in Deutschland befindet sich in einer schweren und multiplen Krise: der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, steigende Inflationsraten sowie die Corona-Pandemie wirken sich nicht nur negativ auf die Produktionskosten, sondern auch auf die Nachfrage nach Fleisch und Wurst aus. Insbesondere Schweinehalter, die ihre Tiere nach höheren Tierschutzstandards halten, sind davon betroffen. Welche Chancen hat Tierwohlfleisch in Krisenzeiten? Dieser und anderen Fragen sind die Zeitschriften Lebensmittel Praxis und top agrar gemeinsam mit Lebensmitteleinzelhändlern und Landwirten nachgegangen. In einer Online-Diskussion der Arbeitsgruppe „Landwirte treffen Händler - Händler treffen Landwirte“ berichteten sie über ihre Erfahrungen. Die wichtigsten Diskussionspunkte sind hier zusammengefasst.

1. These: Die Multikrise führt zu Einbußen

„Von Preissteigerungen betroffen sind alle Warengruppen. Kunden greifen offensichtlich verstärkt zu Angeboten oder Eigenmarken. Verändert hat sich aber auch das Ernährungsbewusstsein. Es gibt nach wie vor viele Kunden, die das Fleisch aus Tierwohlprogrammen nutzen“, sagt Frank Schmitt, Tierwohlkoordinator, der das Strohwohlprogramm der Rewe betreut. „Was das allgemeine Kaufverhalten betrifft, so stellen wir jedoch fest, dass die Kunden zurückhaltender werden. Zu beobachten ist, dass die Discounter ihre Umsätze steigern. Aber wir bewegen uns immer noch auf einem recht hohen Niveau. Es ist höher als vor Corona“, sagt Dietmar Tönnies, Inhaber von Rewe-Tönnies in Odenthal. Der Verzehr von Fleisch sei aber rückläufig, so Tönnies. Der Rückgang gegenüber dem Vorjahr wird vom Händler auf 3 bis 5 Prozent geschätzt.

Die Rewe testet deshalb unterschiedliche Konzepte aus dem Nichtfleischsegment. „Wir müssen auch die Flexitarier im Blick haben, die nicht jeden Tag Fleisch essen wollen“, so Frank Schmitt. In einigen Rewe-Märkten wurden deshalb vegane Bereiche an den Bedientheken eingerichtet, in denen die Kunden Fleischersatzprodukte finden. Da sich die Verbraucher immer weniger Zeit zum Kochen nehmen, geht der Trend auch in den Bedientheken zu Convenience-Produkten. „Tierwohl und Convenience sind Segmente, in denen wir die Einbußen durch den Rückgang des Kaufs von Fleisch und Wurst kompensieren können“, so Schmitt.

„Die Krise macht sich auch bei uns in der Fleischtheke bemerkbar. Deshalb haben wir die Werbung ausgeweitet,“ sagt Thomas Richter, Abteilungsleiter Frische beim Warenhaus Bungert in Wittlich. Vor dem Hintergrund eines zunehmend preissensiblen Einkaufsverhaltens der Verbraucher hat er deshalb seine Strategie geändert: „Um den Umsatzrückgang aufzufangen, mussten wir die Anzahl der Aktionsprodukte im Fleischbereich von 13 auf 20 Artikel erhöhen“. Darüber hinaus stellt Richter fest, dass Fleisch aus artgerechter Haltung eher am Wochenende im Einkaufskorb landet.

2. These: Landwirte, die sich mit dem Thema Tierwohl beschäftigen, sind auf dem richtigen Weg

„Die Kunden sind sehr stark preisgetrieben. Die ersten Tierwohlfleischprogramme mussten wir leider wieder einstellen“, berichtet Niko Brand, Geschäftsführer vom Schlachthof Brand in Lohne. Vor allem im Gespräch mit vielen Landwirten spürt Niko Brand eine große Unsicherheit. „Ich bin bestrebt, den Landwirten Perspektiven aufzuzeigen. Fehlende Rahmenbedingungen verunsichern viele Betriebe. Meine Hoffnung ist, dass sich die Lage bald wieder normalisiert, damit wir mit den Landwirten wieder über neue Konzepte sprechen können“. Dennoch sieht Brand die Landwirte nicht als Verlierer der Krise: „Landwirte, die sich jetzt mit dem Thema Tierwohl auseinandersetzen, sind auf dem richtigen Weg“. Laut Brand sind die bestehenden Wertschöpfungsketten unglaublich stark. „Dies sollte noch viel stärker als bisher nach außen kommuniziert werden. Ich glaube, dass wir den Vorsprung, den wir uns hier erarbeitet haben, besser nutzen können, als wenn wir abwarten“.

Auch Simona und Carl-Hendrik May aus dem münsterländischen Drensteinfurt haben den Schritt zum Tierwohl nicht bereut. In den neu gebauten Stall mit der Haltungsformstufe 4 wurden im vergangenen Jahr die ersten Schweine eingestallt. Das Fleisch wird nicht nur direkt, sondern auch über Supermärkte in der Region und über die Gastronomie vermarktet. Carl-Hendrik May ist überzeugt: „Der Verbraucher will wissen, woher die Ware kommt. Das Wohl der Tiere ist daher ein wichtiger gesellschaftlicher Trend, der die aktuelle Krise auf lange Sicht überdauern wird.“ Bei Fleisch aus artgerechter Tierhaltung sollte es sich, so Simona May, um Produkte mit Identität handeln. „Auf dem Produkt muss der Name und das Gesicht des Erzeugers erscheinen. Produkte mit Identität haben einen ganz anderen Stellenwert als No-Name-Tierprodukte“, sagt Simona May.

Landwirt Timo Jürgens aus Ostercappeln hat ein weiteres Problem ausgemacht: „Nicht jeder Landwirt kann in die Direktvermarktung einsteigen.“ Er bewirtschaftet einen Betrieb im geschlossenen System mit Offenstallhaltung und vermarktet seine Tiere an den Schlachthof Brand und an Rewe Dornseifer. Jürgens: „Häufig wird mit Festpreisen für Tierwohlfleisch gearbeitet. Die Differenz zwischen den Erlösen für Tierwohlfleisch und konventioneller Ware ist daher für den Erzeuger aufgrund der gestiegenen Schweinepreise derzeit gering.“

3. These: Tierwohlfleisch ist erklärungsbedürftig

Tierwohlfleisch müsse gut erklärt werden, sagt der Bungert-Abteilungsleiter Thomas Richter. „Die Kollegen an der Theke müssen von den Produkten überzeugt sein“, so Richter. Kommunikation und Transparenz sind daher laut dem Fachmann der Schlüssel für die Vermarktung von Produkten aus artgerechter Tierhaltung an den Verbraucher. Daher ist es wichtig, dass auch das Thekenpersonal in der Lage ist, die Besonderheit dieses Fleisches kompetent zu kommunizieren. Das Personal hinter der Theke müsse dem Verbraucher ehrlich und mit Begeisterung erklären können, warum das Tierwohlfleisch mehr kostet als das Stück Fleisch aus dem Einstiegssegment, so Richter. Landwirt Timo Jürgens ergänzt: „Das funktioniert nur, wenn die Mitarbeiter gut ausgebildet sind, um die Fragen der Kunden entlang der gesamten Wertschöpfungskette beantworten zu können“. Die Mitarbeiter hinter der Theke müssen mit Herzblut bei der Sache sein, meint Frank Schmitt. Er ergänzt: Aber wenn der Mitarbeiter etwas verkauft, ist es wichtig, dass er das Produkt mit eigenen Augen gesehen hat, dass er es mit eigenen Augen gerochen und vor allem auch geschmeckt hat“. Ab diesem Zeitpunkt ist der Verkäufer fähig, das Produkt an andere Personen zu verkaufen. Schmitt: „Entscheidend ist, dass der Verkäufer eine Geschichte dazu erzählen und dem Kunden den Mehrwert erklären kann.

Eine Geschichte über das Produkte zu erzählen ist auch für Nico Brand wichtig: „Unser Ziel ist es, die individuellen Konzepte einzelner Landwirte auf den Markt zu bringen. Es geht nicht nur darum, Tierwohl zu verkaufen, sondern darum, die ganze Geschichte dahinter zu verkaufen.“ Dazu gehöre auch die Schulung der Mitarbeiter über das, was sich dahinter verbirgt, so Brand. Dazu werden viele Fahrten mit dem Verkaufspersonal zu den Landwirten unternommen. Dort wird erklärt, was das Besondere an Tierwohl-Fleisch ist.

4. These: Zwischen den Vertragspartnern muss die Chemie stimmen.

Carl-Hendrik May rät Neueinsteigern, sich nicht auf die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verlassen: Diese ändern sich häufig. „Das Gesamtkonzept muss stimmen. Alles andere kommt von selbst.“ Der Handel versucht, den Erzeugern mit einer Vielzahl von Lösungen unter die Arme zu greifen. „Es kommt immer auf das Programm und den Einzelfall an,“ sagt Frank Schmitt. Wichtig ist immer die Gleichberechtigung aller Partner. Ziel der Rewe ist die Förderung der Kommunikation der Landwirte untereinander. „Sie sind nicht als Konkurrenten, sondern als Partner für die Zusammenarbeit gedacht.“

5. These: Der Verbraucher wird Tierwohl weiter kaufen

Für entsprechende Qualität gebe es immer Kunden, die das Mehr am Tierwohl auch bezahlen, lautet die Einschätzung von Frank Schmitt. „Eine gute Marketingorganisation wie damals die CMA fehlt der Branche allerdings“, bringt es Frank Schmitt auf den Punkt. „Ein wenig Lobbyarbeit würde der Fleischindustrie guttun“. Dietmar Tönnies ergänzt: „Es wird immer Menschen geben, die ein qualitativ hochwertiges Angebot nutzen. Es ist auch eine Aufgabe als Händler, für diese Kunden ein entsprechendes Angebot zu haben.“ Auch Dietmar Tönnies geht davon aus, dass es langfristig einen Trend zu weniger Fleischkonsum geben wird.

Niko Brand betont dagegen, dass der Landwirt ein Einkommen braucht, das nicht nur reicht, um zu überleben, sondern auch, um zu leben. Laut Brand liegen die Vertragslaufzeiten zwischen einem und zehn Jahren. „Ich kann keine Sicherheit für die nächsten 10 bis 20 Jahre geben. Viel wichtiger ist jedoch die Art und Weise, wie die Wertschöpfungskette funktioniert und wie sie zusammenarbeitet.“

6. These: Optimistisch in die Zukunft

Alle Teilnehmer des Runden Tisches sind optimistisch und blicken zuversichtlich in die Zukunft. „Die Stärke, die wir in den Wertschöpfungsketten haben, müssen wir viel stärker herausstellen. Ich bin der Meinung, dass wir als Wertschöpfungskette sehr viel schneller sind als der gesamte Rest der Fleischwirtschaft“, sagt Niko Brand. „Auch Thomas Richter ist für die Zukunft optimistisch gestimmt: „Ein Schlüssel für die Zukunft ist das Vertrauen in die Lieferanten und in die Mitarbeiter. Dieses Vertrauen geben sie an ihre Kunden weiter.“

Beim Thema Tierwohl, so Simona May, habe man es mit Überzeugungstätern zu tun. Dies gelte sowohl für die Verbraucher als auch für die Wertschöpfungskette. „Die Unternehmen sind gefordert: Sie müssen ihren individuellen Weg finden. Es gibt keine Lösung, die für jeden Betrieb passt.“ Gemeinsam in der Kette eine Lösung zu finden, sei aber eine gute Sache.

„Schwierige Zeiten sind auch Zeiten für Unternehmer“, so Kaufmann Dietmar Tönnies mit Blick auf die Zukunft. „Mit Augenmaß und Menschlichkeit werden wir uns auch in Zukunft behaupten.“

Landwirt Timo Jürgens ist überzeugt: „Der Weg zu mehr Tierschutz ist mit Risiken verbunden. Doch der Trend zu mehr Tierschutz ist nicht mehr rückgängig zu machen.“ Nach Ansicht von Jürgens wird das Risiko für die Landwirte aber auch in Zukunft nicht abnehmen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass zwischen allen Beteiligten stets ein gleichberechtigtes Verhältnis besteht, wie es auch im eigenen Fall der Fall ist.

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