Planetare Grenzen Die neue Kultur-Landwirtschaft

Fleisch und Fisch auf Zellbasis sollen zur Lebensmittelversorgung innerhalb der planetaren Grenzen beitragen. Für Landwirte könnte der Markt neue Geschäftsfelder eröffnen.

Mittwoch, 27. September 2023 - Sortimente
Bettina Röttig
Artikelbild Die neue Kultur-Landwirtschaft
Bildquelle: Michael Magulski

Tierleid, Treibhausgase, Schwermetalle, Antibiotika: Die klassische Fleisch- und Fischproduktion bringt unerwünschte Nebeneffekte mit. Alternativen aus zellulärer Produktion sollen künftig ein Baustein einer nachhaltigeren Proteinversorgung werden. Dass gerade Landwirte die neue Technologie und einen Umbau der Ernährungswirtschaft nicht zu fürchten haben, sondern an dieser teilhaben könnten, das betonen Pioniere wie Dr. Sebastian Rakers, Gründer von Bluu Seafood (ehemals Bluu Biosciences), einem deutschen Start-up, das schon bald Fischstäbchen und -bällchen auf Basis von kultivierten Fischzellen auf den Markt bringen möchte.

Eine der größten Hürden auf dem Weg zur Marktreife haben Rakers und sein 25-köpfiges Forscher- und Entwicklerteam bereits genommen: Das Nährmedium, das die Zellen zum Wachsen anregt, basiert nicht mehr auf fötalem Kälberserum, sondern auf Ackerfrüchten. Und genau hier liege Potenzial für deutsche Landwirte. „Unsere Nährmedien bestehen unter anderem aus Kartoffeln und Kichererbsen, hierfür benötigen wir Lieferanten“, erklärt Rakers.

Bauern noch stärker einbinden möchte die internationale Stiftung Respect Farms. Weniger Tiere, mehr Tierwohl und ein langes Leben für Rinder: Die Zukunft der zellulären Fleischproduktion könnte dezentral auf konventionellen Rinderzuchtbetrieben stattfinden, so die Vision. Der Landwirt versorgt die Tiere, die nicht für die Schlachtung, sondern für die Zellentnahme gehalten werden, baut Futtermittel und Inhaltsstoffe der Nährmedien an und produziert kultiviertes Fleisch im eigenen Labor.

Anfang 2023 hat Respect Farms, gegründet von Ira van Eelen, Florentine Zieglowski, Ralf Becks und Ruud Zanders, die Genehmigung zum Start von Machbarkeitsstudien zur dezentralen Fleischproduktion mit einem europäischen Konsortium erhalten. Zu den Forschungspartnern gehören unter anderem der Pionier für kultiviertes Rindfleisch Mosa Meat und die Rügenwalder Mühle. Die Forschung werde sich mit der tiergerechten Biopsieentnahme, dem Nährmedium sowie der Entwicklung funktionaler Bioreaktoren für landwirtschaftliche Betriebe und eines geeigneten Geschäftsmodells für Landwirte beschäftigen.

Deutsche Bauern interessiert
Erste Ergebnisse seien für Sommer 2024 zu erwarten, die erste Farm solle 2025 als Blaupause für den anschließenden Roll-out entstehen, erläutert Ira van Eelen die nächsten Schritte. Eine zentrale Voraussetzung: die nötige Finanzierung. Auch müssten erst Regulierungen geschaffen werden, die es Landwirten ermöglichten, kultiviertes Fleisch auf ihren Betrieben zu produzieren. „Hinsichtlich der Verbraucherakzeptanz sehe ich persönlich keine Hürden“, so Mitgründerin Zieglowski. „Wenn ein Produkt oder System besser ist als andere, dann setzt es sich auch durch.“

Insbesondere in Deutschland sehen van Eelen und Zieglowski großes Potenzial. „Im Moment bewerben wir unser Konzept nicht. Dennoch sehen wir großes Interesse von deutschen Bauern. Sie finden uns, weil sie nach Antworten suchen, wie sie ihr Geschäftsmodell zukunftssicher aufstellen können“, berichtet van Eelen. Deutschland spiele eine Schlüsselrolle im europäischen Fleischmarkt. Mit ihren Investitionskapazitäten und ihrem Produktions-Know-how könne die deutsche Fleischbranche künftig auch eine zentrale Rolle in der zellulären Landwirtschaft spielen.

Doch: „Die deutsche Unternehmenskultur ist eher konservativ und risikoscheu“, meint Zieglowski auf die Frage nach Hürden. Echte Innovationen seien zeit- und kapitalintensiv. Dies müsse akzeptiert werden, betont sie. Und: Es brauche auch in Deutschland eine profunde Strategie für alternative Proteine – und damit Unterstützung von Konzepten wie kultiviertem Fleisch. „Andernfalls werden Länder wie die Niederlande ihre Expertise und Position im europäischen Markt für zelluläre Landwirtschaft ausbauen und Deutschland abhängen.“

Die Politik ist gefordert
„Wir sind in Deutschland zu zögerlich, zu abwartend und fokussieren uns zu stark auf Probleme anstatt auf Lösungen. Das ist für Food-Biotech-Start-ups wie uns ein großes Risiko“, sagt auch Dr. Sebastian Rakers. Der Gründer von Bluu Seafood, spezialisiert auf Fischprodukte aus kultivierten Zellen von Lachs, Forelle und Co, steht vor der Standortfrage. Die Markteinfüh-rung der ersten Fischbällchen und -stäbchen ist zunächst in Singapur geplant. Die Zulassung erwartet Rakers im zweiten Halbjahr 2024. Auch in den USA läuft bereits der Zulassungsprozess: „Wir müssen und wollen innerhalb der planetaren Grenzen wirtschaftlich erfolgreich sein. Logischerweise werden wir unsere ersten Produktionsstandorte daher dort eröffnen müssen, wo sich die Märkte zuerst öffnen, beispielsweise in den USA, wo die ersten Produkte bereits zugelassen sind und künftig voraussichtlich eine Genehmigung der Lebensmittelüberwachungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) ausreichen wird.“ Auch Europa und Deutschland müssten sich bewegen, der Druck werde größer, die Potenziale der Technologie nicht zu blockieren, so Rakers.

Derweil arbeitet Bluu Seafood mit Hochdruck an dem Sprung in die industrielle Produktion. Erst im Sommer hat das Unternehmen eine neue Finanzierungsrunde in Höhe von 16 Millionen Euro abgeschlossen. Diese ermögliche es, die nächsten Ziele zu erreichen. „Ab Oktober beziehen wir unsere neuen Forschungs- und Entwicklungslabore am neuen Standort in der Marzipanfabrik in Hamburg“, so der Forscher.

Skalierung startet
Seit Gründung vor drei Jahren habe man schon viel erreicht: Meilensteine waren die Entwicklung von gentechnikfreien, immortalisierten Zelllinien und Wachstumsmedien ohne tierisches Serum. „Zudem haben wir erreicht, die Fischzelllinien an das 3-D-Wachstum in Suspension – ohne den Einsatz von Mikroträgern oder anderen Gerüsten – anzupassen. Zellen wachsen also auf Zellen“, erläutert Rakers. Das sei die Basis für die Produktion in Fermentern im industriellen Maßstab. Sobald das neue Labor und die Pilotproduktion am neuen Hamburger Standort hochgefahren sind, werden Rakers und sein Team mit 50-Liter-Fermentern arbeiten. Später sollen mit Partnern 200 bis 300 Liter fassende Fermenter zum Einsatz kommen und der Prozess dezentral skaliert werden.

Die Skalierung ist der Knackpunkt für die Marktreife. Denn erst mit einer ausreichenden Menge werden die Produkte auch preislich interessant. In Singapur will Bluu Seafood die Vermarktung über Restaurants zu Premium-Preisen starten. Das Preisniveau werde vergleichbar sein mit den ersten zellbasierten Chicken-Nuggets, die Eat Just dort anbietet. „Aktuell bezahlt man dort für drei Nuggets von Eat Just rund 20 Dollar. Der Preis wird von Tech-affinen Genießern bezahlt“, meint Rakers.

Zusatznutzen kommunizieren
Einen bedeutenden Preisfaktor stellen die Nährmittel dar. „Wir wollen für die Nährmedien genauso wie andere Food-Tech-Start-ups weg vom sogenannten Pharma Grade zum Food Standard. Es wäre auch gut, wenn die großen Hersteller für Nährmedien die Potenziale sehen und in die Produktion der Nährmittel einsteigen würden. Das würde sich günstig auf den Preis von kultiviertem Fisch und Fleisch auswirken“, erklärt er.

Auch die richtige Kommunikation wird eine zentrale Rolle dabei spielen, die Akzeptanz der Verbraucher zu erlangen. Das Unternehmen legt Wert auf positive Begrifflichkeiten. So spricht Rakers von Kulturfisch und Fermentern, meidet Begriffe wie Bioreaktor oder Laborfleisch. Es werde in der Kommunikation jedoch vor allem darum gehen, die Vorteile zu erklären: „Wir werden den echten Fisch verkaufen – in gesünder: Wir möchten betonen, dass unsere Produkte den vollen Geschmack bieten und zugleich frei sind von Mikroplastik, Antibiotika und Schwermetallen. Sie tragen nicht zur Überfischung der Meere bei und bieten eine Antwort auf Umweltzerstörungen.“ So werde die Bluu-Fabrik der Zukunft etwa komplett auf regenerative Energien setzen. Beim Lachs breiten sich infolge des Klimawandels und höherer Wassertemperaturen Krankheiten wie die Lachslaus aus. Bluu-Produkte könnten somit auch dazu beitragen, die Lebensmittelversorgung der Zukunft zu sichern, meint er.

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