Immer weniger Kühe Wie Molkereien um die letzten Milchbauern kämpfen

Top-Thema

Die Milchbranche ist in Bewegung. Einige Player mussten sich in den letzten Jahren verabschieden, andere suchen mit großzügigen Angeboten nach neuen Milcherzeugern.

Dienstag, 16. Juli 2024, 06:00 Uhr
Dr. Friederike Stahmann
Artikelbild Wie Molkereien um die letzten Milchbauern kämpfen
Bildquelle: Adobe Stock

Gerade einmal noch halb voll ist das Milchglas: 126 Milliliter Vollmilch, teilent­rahm­te Milch und Magermilch trinkt jeder Bundesbürger im Durchschnitt täglich. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1990, weiß die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Zu Beginn der Statistik war das Milchglas mit gut 185 Milliliter noch gut gefüllt. Seit Jahren sinkt der Konsum langsam, aber stetig.

Doch genau genommen ist das Milchglas 
gar nicht leerer geworden: Die Herkunft des weißen Goldes im Glas hat sich nur verändert. Egal ob aus Hafer, Soja oder Reis: Pflanzliche Milchalternativen sind in der Mitte der Gesellschaft und im Milchglas angekommen. Die Molkereien haben den Weckruf vernommen. Berührungsängste, wie noch vor Jahren, verschwinden. Genossenschaftlich organisierte Molkereien überzeugen ihre Mitglieder, die Milchviehhalter. „Als größte Molkereigenossenschaft Deutschlands wissen wir, wie pflanzenbasierte Milchalternativen schmecken müssen, und können unser jahrzehntelang aufgebautes Know-how genau dafür nutzen. Eine Reihe von Produkten bereichert deshalb auch das Portfolio von DMK – ohne dem Milchsortiment Konkurrenz zu machen“, so die Marketingabteilung des Branchenprimus Deutsches Milchkontor. Auch private Labels, beispielsweise Ehrmann, sind inzwischen mit einer veganen Range am Start.

Molkereien-Karussell dreht sich

Die veganen Wadenbeißer treiben Markt und Macher um, ohne Frage. Doch die Milchbranche steht vor größeren Herausforderungen. Seit einiger Zeit dreht sich das Molkereien-Ka­rus­sell. Die einen verschwinden vom Markt, andere zeigen eine breite Brust. Und das binnen nur eines Jahres.

Ein kleiner Exkurs ins Frühjahr 2023: Nach zwei Jahrzehnten zieht sich die niederländische Genossenschaft Friesland Campina mit Marken und Milchverarbeitungsstandorten aus dem deutschen Markt zurück. Eine Nachricht, die auch für Insider überraschend kam, „denn dort schienen ja lange Jahre nur richtige Entscheidungen getroffen worden zu sein und die Zufrie­den­heit der Milcherzeuger mit dem Unternehmen waren gegeben“, so Branchenkenner Hans-Jürgen Seufferlein, Geschäftsführer des Verbands der Milcherzeuger Bayern.

Marken mit neuen Eigentümern

Friesland Campina stolperte über zu hohe Auszah­lungs­preise an die Landwirte – jedenfalls im Vergleich zu den sinkenden Abgabepreisen für Basismolkereiprodukte. Das Betriebsergebnis geriet in Schieflage. Zwar konnte die niederländische Molkerei im ersten Halbjahr 2022 mit 0,5 Prozent mehr Milch auch 4,6 Prozent mehr Umsatz erlö­sen als im Jahr zuvor, erlitt aber gleichzeitig drastische Gewinneinbußen. Das Betriebsergebnis schrumpfte um 86 Prozent auf 47 Millionen Euro. Unterm Strich blieben davon 8 Millionen Euro als Überschuss übrig.

Das tat so weh, dass die Geschäftsführung für die Weiße Linie den Rückzug aus dem deutschen Markt einläutete. Für den Verbleib der Marken Chocomel, Valess, Frico, Holland Master und Frau Antje – überwiegend Käsespezialitäten – entschied man sich im gleichen Atemzug. Ein Kaufinteressent für die Sortimente der Weißen Linie war mit der Theo-Müller-Gruppe schnell gefunden. Das Kartellamt entschied nach inten­siver Prüfung, dass Müller die Marken „Landliebe“ und „Tuffi“ sowie drei Standorte kaufen darf. In diesem Zug sagte Müller zu, exklusive und unwiderrufliche Markenlizenzen zu vergeben. Für „Landliebe“ in den Segmenten Frische Milchmischgetränke und Frischmilch sicherte sich Schwarzwaldmilch mit Sitz in Freiburg eine dieser Markenlizenzen. Milchreis unter dem Label „Landliebe“ stellt inzwischen Hochwald her. Die haben zudem die komplette Marke „Tuffi“ von Müller erworben, mit einem klaren Ziel. „Wir werden die Marke ‚Tuffi‘ in Nordrhein-Westfalen kraftvoll weiterentwickeln und machen sie wieder zur Heimatmilch-Marke aus NRW für NRW“, gibt Thilo Pomykala, CSO bei Hochwald, die Marschrichtung vor.

Müller selbst wird am Standort Aretsried Landliebe-Produkte herstellen. Wie die Augsburger Allgemeine berichtet, soll dafür ein Neubau entstehen, um dort Joghurt in Gläser abfüllen zu können. Die Unternehmensgruppe werde für den Neu- und Umbau einen „unteren zweistelligen Millionenbetrag“ investieren, so der Geschäftsführer Christian Goldammer. Bis Frühjahr 2026 werde die neue Produktion laufen.

„Dass starke Marken immer noch einen gewissen Reiz haben, hat die Müller-Gruppe jüngst wieder mit ihren Einkäufen bewiesen“, resümiert Seufferlein die aktu­elle Entwicklung. Und zwar nicht nur bei den Molkereien selbst, sondern auch bei den Kunden, wie die Analyse der GfK im Consumer Index vom März bestätigt. So konnten Premium-Herstellermarken in den letzten Monaten ein überdurchschnittliches Umsatzplus verzeichnen und damit ihren Marktanteil stabilisieren. „Wie schon in den Jahren zuvor verlieren dagegen die Mittelmarken“, weiß Marktforscher Dr. Robert Kecskes.

Das Thema Wertschöpfung treibt auch das DMK um, unter dem Motto „Mehr Ertrag aus Rohmilch“. „Das lässt sich über den Liter Standard-Trinkmilch mit nur noch mehr Siegeln nicht nachhaltig schaffen“, wird Oliver Bartelt deutlich. Das sei „blanke Illusion“. Mehr Ertrag funktioniere nur über Segmente, die nachhaltig mehr bringen und „nicht nahezu monatlichen Schwankungen unterlegen sind und am Ende im Regal auch auf einen komplett preisgetriebenen Verbraucher stoßen“.

Nachhaltigkeit Top-Thema

Aber nicht nur die Frage „Marke oder Nicht-Marke“ treibt die Branche um. „Die Themen Nachhaltigkeit und eine verbesserte Klimabilanz spielen eine zentrale Rolle“, bringt es Arla-Chef Gottschalk auf den Punkt. Und zwar vom Hof bis ins Kühlregal. Einen jährlichen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlichen inzwischen fast alle größeren Akteure. Wie der Weg zur grünen Molkerei beschritten wird, ist unterschiedlich. Die einen setzen ihren Fokus mehr auf die Urerzeugung. Andere priorisieren Maßnahmen zur Energieeinsparung in der Herstellung und Verpackung. Dabei geht die Palette von E-Tankstellen für Mitarbeiter über moderne Blockheizkraftwerke, kombiniert mit einem Druckluftheizkraftwerk und einer Energiespeicherung, ein Eiswassersilo wie bei der Andechser Molkerei bis hin zu innovativen, recycelfähigen Verpackungslösungen.

Neben Milchalternativen, Marken und Nachhaltigkeit treibt ein viertes Thema die Branche um – die Rohstoffgewinnung. Auch hier zuerst einmal ein kleiner Exkurs. Frühjahr 2024: Deutschlands größte Molkerei, das DMK, informiert über die Schließung seiner Molkerei in Dargun im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Als Grund für die Betriebsschließung nannte das Unternehmen den Rückgang des Milchaufkommens in der Region. Allein zum Jahresende 2023 hätten etwa 500 Milchbauern ihre Lieferverträge mit dem DMK gekündigt, was einer Gesamtmilchmenge von beachtlichen 10 Prozent entspricht. In landwirtschaftlichen Fachmagazinen wird als Grund die Unzufriedenheit mit dem Auszahlungspreis genannt.

„Die Anforderungen an die Unternehmen steigen“, gibt der Vorsitzende des Milchindustrieverbandes, Peter Stahl, bei der diesjährigen brancheneigenen Frühjahrstagung ganz offen zu. Nach einem Jahrzehnt des Wachstums – der Wegfall der Milchquote machte dies erst möglich – geht die Milchproduktion in Deutschland nun zurück. So sank die Zahl der Milchviehbetriebe allein von 2020 bis 2023 um 14 Prozent auf aktuell 46.600 Betriebe mit 3,8 Millionen Milchkühen (-4 Prozent). Diesen Rückgang spüren auch die Molkereien an der angelieferten Rohmilchmenge. Das Minus allein in diesen drei Jahren beläuft sich auf eine Million Tonnen Milch und liegt jetzt bei 31,45 Millionen Tonnen.

In Europa fehlt Milch

Der Blick über den Tellerrand zeigt, dass auch in den großen „Milchländern“ um uns herum, wie Frankreich, den Niederlanden und Irland, die Milchmengen zurückgehen. „Der Kampf um den Rohstoff hat bereits begonnen, auch wenn möglicherweise der Konsum von Milch und Milchprodukten zumindest hierzulande noch weiter abnehmen sollte“, gibt Dr. Seufferlein zu bedenken. Selbst Friesland Campina ist trotz Rückzug aus der Weißen Linie auf der Suche nach neuen Lieferanten. Im Interview mit dem LP-Schwestermagazin Top Agrar erklärt Hermann Klümpen, Vorsitzender des deutschen Distrikts von Friesland Campina, dass man sogar bereit sei, das sogenannte Eintrittsgeld auszusetzen. Bisher hätte ein Betrieb, der beispielsweise jährlich 1 Million Kilogramm Milch liefern kann, 50.000 Euro bezahlt, um überhaupt anliefern zu dürfen.

Immer mehr Milchviehbetriebe werfen das Handtuch. Denn auch in der Urerzeugung türmen sich Proble­me. Die gehen von einer geschwächten Rentabilität über Umwelteinschränkungen, eine zum Teil ungelöste Hofnachfolge, das Fehlen geeigneter Arbeitskräfte und extremere Wetterbedingungen bis hin zu Unsicherheit über bevorstehen­de politische Änderungen (Stichworte: Anbindehaltung, Haltungskennzeichnung). Zumal für den Umbau der Milchviehhaltung auf einen höheren Tierwohlstandard derzeit kein Geld im Bundeshaushalt zur Verfügung steht. Hinzu kommt, dass die Betriebe an ihrer Arbeitskapazitätsgrenze angelangt und die notwendigen Wirtschaftsfutterflächen teuer sind – nicht zuletzt durch die Flächenkonkurrenz mit Agri-Photovoltaik. Die zukünftige Betriebsleiter­ge­ne­ration tickt anders als noch die Babyboomer und will nicht nur arbeiten, sondern auch – zumindest ein bisschen – leben.

Um als Molkerei langfristig an den Rohstoff Milch zu kommen, spielt die Bindung der Erzeugergemeinschaft an die Verarbeiter eine große Rolle. Kündigungsfristen und Andienungspflicht bei den Genossenschaften werden zunehmend infrage gestellt. Das bedeutet ganz konkret: Milchpreisauszahlungen unter Schnitt führen inzwischen nicht selten dazu, dass Landwirte „ihrer“ Molkerei den Rücken kehren. „Ein Vergleich zum Arbeitsmarkt ist hier durchaus angebracht: Heute können sich Arbeitnehmer den Arbeitgeber anders und vor allem ‚aktiver‘ aussuchen als noch vor 30 Jahren“, erklärt Seufferlein die aktuelle Situation.

Für das DMK ist das Motto daher klar. „Als Molkerei-Genossenschaft haben wir zwei Zielsetzungen, die Priorität genießen: Im Eigentum von Landwirten soll die Genossenschaft am Ende nachhaltig wettbewerbsfähiges Milchgeld für die angelieferte Rohmilch auf die Höfe bringen, gleichzeitig werden wir sortimentsseitig weiter daran arbeiten, aus der angelieferten Rohmilch hochwertige Produkte herzustellen, für die Kunden und Konsumenten auch bereit sind, höhere Preise zu zahlen“, so Oliver Bartelt. Eine Managementaufgabe, die ebenso von privaten Molkereien gelöst werden muss.

Neue Produkte