Haltungsform Wie viel Tierwohl darf es sein?

Die Haltungsformkennzeichnung soll es möglich machen: Verbraucher können am Mopro-Regal entscheiden, wie viel Tierwohl sie Kühen gönnen. Vier Tierwohlstufen kommen. Je mehr, desto teurer wird es an der Kasse. Was gibt es auf welcher Stufe? Wir ordnen ein.

Dienstag, 14. Dezember 2021 - Molkereiprodukte
Dr. Friederike Stahmann
Artikelbild Wie viel Tierwohl darf es sein?
Bildquelle: Frederike Stahmann

Vier Tierwohllabels – angelehnt an den Fleischsektor – soll es ab 2022 auch für Milch geben. Von Stufe 1 aus „Stallhaltung“ über „Stallhaltung plus“ für Stufe 2 bis hin zur Stufe 3 für „Außenklima“ und Stufe 4 mit der Labelung „Premium“. Neben wenig ausdifferenzierten Anforderungen zur Fütterung, Komforteinrichtungen und unterschiedlichen Gesundheitsmonitorings ist Dreh- und Angelpunkt die Kennzeichnung des Haltungssystems für Milchkühe. Der Name ist hier Programm. Nach der einfachen Formel: Mehr Bewegung und Quadratmeter bringen mehr Tierwohl.

Initiiert wurde das Projekt von der Gesellschaft zur Förderung des Tierwohls in der Nutztierhaltung, kurz ITW. Dieser Zusammenschluss umfasst beim Thema Milch alle Mitglieder der Wertschöpfungskette – von der Landwirtschaft über die Molkereien bis hin zu den Partnern des Lebensmitteleinzelhandels und hier ganz explizit Aldi Nord und Süd, Edeka, Kaufland, Lidl, Netto, Penny und Rewe. Warum sich Händler für das Tierwohl einsetzen? „Die kontinuierliche Verbesserung des Tierwohls liegt uns sehr am Herzen“, so das Credo von Robert Pudelko, Einkaufsleiter Nachhaltigkeit bei Kaufland. Und auch bei Aldi Süd spricht man sich ganz ausdrücklich für eine Labelung mit Tierwohlstandards aus: „Wir unterstützen die Bestrebungen, die Haltungsform nach und nach auf weitere Warengruppen auszuweiten. Daher begrüßen wir, dass ab 2022 auch die Kennzeichnung von Milchprodukten möglich sein soll.“ Discounter werden zu Tierschützern? Kann sein. Es kann aber auch daran liegen, dass Tierwohl-Produkte bei der Kundschaft en vogue sind und daher Markt und vor allem auch Marge bringen. Satte. Derzeit liegen zwischen einem Liter Standard-Vollmilch und einem Liter Weidemilch (jeweils aus konventioneller Herkunft) im Discounter-Regal 38 Prozent Preisunterschied. Die neue Haltungsformkennzeichnung kann also Geld in die Kassen spülen. Heute schon zeigt der Verkauf wertiger Milch, welches Potenzial hinter der neuen Kennzeichnung stecken könnte: Bei Aldi Süd stammen aktuell schon rund 50 Prozent der verkauften Frischmilch von zertifizierten Betrieben, die die Haltungsformen „Außenklima“ oder „Premium“ erfüllen würden. Die Haltungsstufenkennzeichnung soll ab dem 1.1.2022 in den Mopro-Regalen des Discounters zu finden sein.

Ampelsystem plus eins
Die vier Stufen des neuen Systems sind hierarchisch angeordnet. Von Rot, der Eingangsstufe, über Blau, Orange bis zu Grün, der Premiumstufe. Auf einen Blick soll man erkennen, was Sache ist: Je höher die Stufe, desto mehr Tierwohl wird den Tieren gegönnt. Stufe 1 – rot – entspricht dem gesetzlichen Standard. Alle Varianten der Stallhaltung ohne zusätzliche Tierwohlkriterien werden hier zusammengefasst. Auch die der Anbindehaltung. Und hier fangen die Konflikte an: Kann Milch aus Anbindehaltung ein Tierwohl-Label – wenn auch der niedrigsten Stufe – bekommen? Die Tierschutzorganisation Peta sagt definitiv Nein, spricht bei diesem Haltungsverfahren sogar von Tierquälerei.

Wie viele Landwirte praktizieren überhaupt dieses System? Viele! Enorme 40 Prozent der deutschen Milchviehbetriebe sind es nach den Ergebnissen der Landwirtschaftszählung 2020. Die Anzahl der Kühe, die angebunden im Stall stehen, ist jedoch viel geringer. Nur ein Achtel der deutschen Milchkühe verbringen ganzjährig oder über mehrere Monate fixiert den Tag. Zwei Drittel davon in Bayern. Wie viele davon 365 Tage im Jahr angebunden sind, ist nicht bekannt. „Wir bleiben aber für Bayern bei unserer bisherigen Schätzung von etwa 10.000 Betrieben mit Schwerpunkt im nord- und ostbayerischen Raum“, so Dr. Hans-Jürgen Seufferlein, Direktor des Verbandes der Milcherzeuger Bayern. Aufgrund der kleinen Betriebsgrößen könnte das schätzungsweise rund 200.000 Kühe betreffen.

Alte Systeme sterben aus
Tendenz sinkend, wie man auch bei Ehrmann weiß. „Diese Betriebe unterliegen einer natürlichen Selektion. Viele Betriebsleiter haben keinen Nachfolger und stellen somit in den nächsten Jahren ihre Betriebe ein. Höfe, die weitermachen wollen, werden investieren müssen und einen Laufstall bauen“, so Gunther Wanner für den Joghurt-Hersteller. Teilweise wird aber auch aktiv Druck vonseiten der Molkereien ausgeübt. Einige Molkereien zahlen den Bauern bereits weniger Milchgeld, wenn die Kühe angebunden im Stall stehen. Andere wollen in absehbarer Zeit Milch aus ganzjähriger Anbindung nicht mehr abholen, wie die Molkerei Schwarzwaldmilch ab 2030. Warum erst dann? „Als genossenschaftliches Unternehmen tragen wir eine große soziale Verantwortung unseren Milchbauern gegenüber. Das bedeutet für uns, dass wir unseren Landwirten Planungssicherheit bieten müssen und möchten. Ein früheres Verbot der traditionellen Anbindehaltung wäre für manche Betriebe existenzgefährdend“, so das Freiburger Unternehmen.

Auch die Politik hat das Problem erkannt: So bezeichnet Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber die ganzjährige Anbindehaltung als Auslaufmodell. Beratungsinitiativen für Landwirte und großzügige staatliche Förderungen für Umbauten und Neubauten sollen für Veränderung sorgen. Nicht wegzureden ist aber das Hier und Jetzt: Anbindehaltung existiert, vor allem in Bayern. Daher verwundert es nicht, dass Dr. Seufferlein unter anderem deshalb sagt: „Von bayerischer Seite sehen wir der Einführung der Haltungsformkennzeichnung mit gemischten Gefühlen entgegen.“ „Wer weiter melken möchte, sollte sich schnellstmöglich um eine Weiterentwicklung der Haltungsform Anbindehaltung kümmern“, meint auch Seufferlein. Damit meint er die Kombinationshaltung, die so auch in Stufe 2 der Haltungskennzeichnung beschrieben wird.

Wie die in der Praxis aussehen kann, machen uns die Österreicher seit Jahren vor. Die ganzjährige Anbindehaltung ist dort verschwunden. Auch in den entlegensten Gebirgsdörfern schauen Kühe im Winter Skifahrern von Laufhöfen aus zu. Möglich machen es ideenreiche bauliche Lösungen – teilweise auch für kleines Geld. Egal ob Initiativen wie die Arge Heumilch oder Molkereien: Alle fordern von ihren Lieferanten, dass deren Kühe mindestens 120 Tage Auslauf oder Weidezugang, oftmals in Form einer Alpung in den Sommermonaten, haben müssen.
Wer Kühen rund ums Jahr Bewegung gönnen möchte, greift zu Milch der Stufen 3 oder 4. Aber Vorsicht: Bewegung ist nicht gleich Weidegang. Wer das möchte, kommt am Kauf von Milch der Premiumstufe nicht vorbei. Denn nur dort gehört Weidegang von mindestens 120 Tagen zum Ausschlusskriterium.

Weide bleibt ein Luxus für Kühe. Laut Statistischem Bundesamt konnten im Jahr 2019 3,6 Millionen Rinder – also Kälber, Jungvieh, Färsen, Bullen, Ochsen und Kühe –, was einem Drittel des deutschen Gesamtbestandes entspricht, auf Weiden grasen. Rinder, nicht Kühe! Im Zehnjahresvergleich zeigt sich sogar ein Rückgang. 2010 hatten noch 37 Prozent die Möglichkeit zum Weidegang. In Bayern, dem Bundesland, in dem die meisten Rinder gehalten werden, lag der Anteil der Weide‧nutzung bei 17 Prozent. In Niedersachsen, dem Land mit dem zweitgrößten Bestand, hatten 34 Prozent der Rinder Weidegang.

Was würden Kühe wählen?
Das Votum ist eindeutig: Weide. Denn Weide ist mehr als Platz und Bewegung. Weide umfasst alle Kriterien des Tierwohls inklusive Gesundheit, Wohlbefinden, die Möglichkeit, artgerechtes Verhalten auszuleben, Licht, Luft und wenig Stress. Bis auf ganz wenige Ausnahmen, und die kennt Gundula Hoffmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Digitales Tierwohlmonitoring und Tierschutzbeauftragte am Leibniz-Institut: „Untersuchungen haben gezeigt, dass es vielen Kühen im Sommer auf der Wiese eher zu heiß ist – sie leiden dann unter sogenanntem Hitzestress. Und auch die Insekten können nerven. Deshalb suchen Kühe, gerade im Hochsommer, den Schatten oder gehen in den Stall.“

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