Molkereiprodukte Elternzeit für Kühe

Ein Nischenprodukt im Biobereich, in punkto Tierwohl ein noch wenig bekannter Ansatz: Milch aus kuhgebundener Kälberaufzucht. Was dahinter steckt, und wie Erzeuger und Handel darüber denken.

Freitag, 25. September 2020 - Molkereiprodukte
Heidrun Mittler
Artikelbild Elternzeit für Kühe
Bildquelle: Lucas Wahl

Hans Möller ist leidenschaftlicher Milchbauer, vertritt aber deutlich andere Ansichten als der Großteil seiner Kollegen. Er wettert gegen immer größere Strukturen in der Milchwirtschaft, in der Erzeugung und bei den Molkereien. Als Reaktion hat er sich vor zehn Jahren mit vier gleichgesinnten Landwirten zusammengetan und die „Öko Melkburen“ (plattdeutsch für Öko-Milchbauern) gegründet.

In dieser Vereinigung arbeitet er nach Bioland-Richtlinien, seine Kühe dürfen zum Beispiel das ganze Jahr über auf die Wiese. Die Landwirte, allesamt in der Nähe von Hamburg beheimatet, suchen mit Verkostungen die Nähe zum Kunden. Dabei ist er oft von Verbrauchern gefragt worden: „Warum bekommen die Kälber Milch aus dem Eimer und nicht direkt von der Kuh?“ Die Melkburen haben beschlossen, es anders zu machen als fast alle anderen Milcherzeuger: Sie lassen die Kälber bei den Kühen.

Eine Art Kindergarten
Möller kommt geradezu ins Schwärmen, wenn er von seiner „Kindergartengruppe“ berichtet. Die neugeborenen Kälber bleiben erst ein paar Tage dicht bei der Mutter, danach zieht es sie auf die Weide, zu den anderen Jungtieren. „Es ist eine große Freude, den Kälbern zuzuschauen, wenn sie über die Wiese tollen“, berichtet Möller. Dabei trinken die Kälber bei den Müttern, so oft und so viel sie wollen.

Vital, gesund, selbstbewusst
Er ist überzeugt: „Die Natur will es so, dass Kühe und Kälber zusammenbleiben.“ In seinen Augen hat die Haltungsform nur Vorteile: Seine Kälber seien viel vitaler, gesünder und selbstbewusster als Tiere aus traditioneller Aufzucht. Außerdem herrsche auf seinem Hof „ein positiver Geist“, denn durch die Art, wie er mit den Tieren umgeht, „passiert auch etwas mit uns Menschen“.

Hörner und Heu
In Süddeutschland haben sich 35 Milchbauern zusammengeschlossen, zur Erzeugergemeinschaft der „Demeter Heumilchbauern“. Rolf Holzapfel, geschäftsführender Vorstand, erläutert, warum sich seine Kühe selbst um ihre Kälber kümmern dürfen: „Der Sozialkontakt, das Belecken, die Körperpflege durch ihre Mütter und Ammen und das Saugen am Euter tun den Kälbern gut.“ Der Landwirt weist auf zwei andere Alleinstellungsmerkmale seines Produktionssystems hin: Alle Kühe tragen Hörner und fressen ausschließlich Heu und frisches Gras.

Der Antrieb, auf kuhgebundene Kälberaufzucht umzustellen, soll laut Holzapfel „eine offene Flanke“ der Milch- und Fleischerzeugung schließen. Es geht darum, was mit den männlichen Kälbern geschieht: Nach frühestens 14 Tagen kommen sie zu einem Mäster, dort stehen sie meist nur im Stall – eine Methode, die von Tierschützern kritisiert wird.

Moralische Verantwortung
„Wir Landwirte tragen eine moralische Verantwortung gegenüber dem Tier“, sagt Demeter-Bauer Holzapfel. Gemeinsam mit der Edeka Südwest Südwest und der Tierschutzorganisation ProVieh hat die Gemeinschaft die Initiative „Zeit zu zweit für Kuh und Kalb“ gegründet. „Und wir haben eine Erfolgsgeschichte geschrieben“, sagt Holzapfel nicht ohne Stolz. Heute produziert die Vereinigung sieben Millionen Kilogramm Milch, die in unterschiedlichen Molkereien und Käsereien verarbeitet wird: etwa zu Trinkmilch, Mozzarella, Joghurt und Hartkäse. Neben ihrer eigenen Marke stellen die Demeter-Heumilchbauern auch Eigenmarken für den Lebensmittel- und Naturkostfachhandel her.
Diese Milch kommt als Heumilch in den Verkauf. Dabei wird die muttergebundene Aufzucht im Fließtext auf der Rückseite des Etiketts beschrieben.

Die spezielle Milch muss sortenrein erfasst, transportiert und verarbeitet werden, das verteuert die Produktion. Doch die Verbraucher sind bereit, für die „Kuh und Kalb“-Produkte tiefer als üblich in die Tasche zu greifen. So kostet der Ein-Liter-Tetrapack Milch im Lebensmittelhandel zwischen 1,80 und 2 Euro. „Unsere Produkte gehen wie geschnitten Brot.“ Manche Verbraucher sind offensichtlich bereit, mehr Tierwohl und eine hohe Qualität zu belohnen. „Meiner Ansicht nach hat Tierwohl mindestens so viel Kraft wie das Thema Regionalität“, fasst Holzapfel zusammen.

Nischenprodukte im Handel
Im traditionellen Lebensmittelhandel ist die kuhgebundene Kälberaufzucht zurzeit noch kein Thema. Auch nicht bei den großen Molkereien. Es handelt sich um einen kleinen Bereich innerhalb des Bio-Sortiments, also um eine Nische in der Nische.

Aber: Verbraucher, die sich um Tierwohl kümmern, werden zunehmend sensibel für dieses Thema.

„In den letzten Jahren hat das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Thema zugenommen“, bestätigt Kerstin Barth. Die Wissenschaftlerin arbeitet beim Thünen-Institut und beschäftigt sich intensiv mit diesem Komplex.

Ein Thema für morgen
„Gerade junge Verbraucher fragen nach, ob Kuh und Kalb zusammengehalten werden“, weiß Wolfgang Wagener, der im HKL Hamburger Käselager als Category Manager und Scout arbeitet. Seiner Erfahrung nach interessiert die Haltungsform insbesondere bei Bio- Produkten, in der Direktvermarktung und auf Wochenmärkten. Aus dem traditionellen Lebensmitteleinzelhandel hatte der Scout bislang noch keine Anfragen dazu. Dabei könnte er sie positiv beantworten, denn HKL hat einige Käse im Sortiment, die aus entsprechender Milch hergestellt werden, zum Beispiel den „Bio Fiete“. Bei dem Lieferanten Hofberg in Dannau können sich die Kunden am Tag der Offenen Tür sogar anschauen, wie die Haltungsform funktioniert.

Bei Andechser im Blickpunkt
„Aus unserer Sicht gewinnt das Thema zunehmend an Bedeutung in der Wahrnehmung“, sagt Barbara Scheitz, Geschäftsführerin der Andechser Molkerei Scheitz in Oberbayern. Hier besteht bereits seit Längerem ein Arbeitskreis zur kuhgebundenen Kälberaufzucht. Bauern tauschen sich zu diesem Thema aus, unter anderem bei Exkursionen zu Bio-Bauern, die diese Haltungsform schon länger praktizieren, und lernen Möglichkeiten der Umsetzung kennen.

Zahlreiche „Andechser Natur Bio-Bauern“ probieren bereits Wege zur kuhgebundenen Kälberaufzucht aus: Es gibt von der muttergebundenen Aufzucht bis zur Ammenkuhhaltung (dann bekommt das Kalb nicht zwangsläufig die Milch der eigenen Mutter) verschiedenste Ansätze, die je nach Gegebenheiten des Hofes umgesetzt werden.

Warum sich Barbara Scheitz in die Diskussion einbringt? Die Gründe sind ethisch-moralisch bedingt, kommen von den Bauern selbst, aber auch vor dem Hintergrund, dass es „ein Thema in der heutigen Zeit ist“ und das Tierwohl „in der natürlichsten Art und Weise der Haltung noch weiter unterstützt“.

Kennzeichnung fehlt noch
Eine Kennzeichnung der Produkte ist aktuell nicht geplant, da noch keine einheitlichen Voraussetzungen in der Umsetzung und damit Bewertung festgelegt sind. „Wir arbeiten aber daran, unterstützen unsere Betriebe beim Austausch und der Weiterentwicklung und eruieren zukünftige monetäre Prämien“, verspricht die Geschäftsführerin.

Edekaner ziehen mit
Zurück zu den Öko Melkburen, die etwa die Hälfte ihrer Erzeugnisse im Lebensmittelhandel unter dem Begriff „Vier Jahreszeiten“-Milch vertreiben. Die Geschäfte der meist selbstständigen Kaufleute sind alle rund um Hamburg angesiedelt. Dirk Möller, Inhaber des Edeka-Marktes in Bad Bramstedt, bestätigt, dass die Produkte „dem Zeitgeist entsprechen“. Er weiß, dass sich immer mehr Verbraucher die Mühe machen, die Thematik zu recherchieren. Außerdem freut er sich, dass er nachhaltige Ware aus der Region anbieten kann, schließlich lebt und arbeitet er schon lange in Bad Bramstedt.

Rewe-Händler zufrieden
40 Geschäfte der Rewe Nord führen die Milch der Öko Melkburen. Alissa Nechwatal, Category Management Regionalität / Lokalität, bescheinigt ihr „eine positive Entwicklung“. Einer der Märkte ist der Rewe-Markt Flemke, Barmstedt. Hier stehen Milch, Quark und Joghurt der Öko Melkburen bei den regionalen Produkten. Nicole Fieberg, Mopro-Fachkraft bei Flemkes, spürt eine steigende Nachfrage: „Die Produkte werden bei uns sehr gut angenommen“. Der Liter Milch steht zu 1,99 Euro im Kühlregal, pro Tag gehen etwa 40 Packungen über die Ladenkasse.

Das freut auch den eingangs vorgestellten Hans Möller von den „Öko Melkburen“: Wenn der Verbraucher die Milch zu diesem Preis annimmt, „dann macht es allen Spaß, den Landwirten und dem Handel“.

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