Wahre Preise Jetzt wird neu abgerechnet

Vorsorge ist besser als Nachsorge: Wie sich betriebliche präventive Gemeinwohl-Leistungen bilanzieren und honorieren lassen, zeigt das Modell der Regionalwert-Leistungsrechnung. Erste Erfahrungen.

Mittwoch, 27. September 2023 - Sortimente
Bettina Röttig
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Bildquelle: Bohlsener Mühle

Dass eins und eins zwei ist, lernen Kinder in aller Welt spätestens im ersten Schuljahr. Mathematik gilt als universelle Sprache. Dass wir bei jedem Einkauf im Supermarkt jedoch auf falsche Rechnungen setzen, das wurde den Kunden des Discounters Penny Anfang August in einer nationalen Kampagne erklärt. Die Aktion, die versteckte Kosten in der Lebensmittelproduktion sichtbarer machen sollte, basierte auf dem Konzept des sogenannten True Cost Accountings, das beispielsweise klimaschädliche Emissionen der Landwirte, Stickstoffeinträge ins Wasser durch Düngemittel oder Gesundheitsschäden durch Pestizide mit Preisschildern versieht. Um bis zu 94 Prozent teurer wurden die ausgewählten Produkte durch Einbeziehung der Umweltfolgekosten während der Kampagnenwoche. Was nicht mit verrechnet wurde, waren die Faktoren, die positiv zu Buche schlagen. Auch Leistungen für mehr Tierwohl oder Pflanzenschutz transparent zu machen, sei sehr wichtig, bisher jedoch methodisch schwierig, erklärten die Wissenschaftler der Technischen Hochschule Nürnberg und der Universität Greifswald, Partner der Penny-Aktion.

Diese Lücke wollen Christian Hiß, Gründer der Regionalwert AG Freiburg, und Dr. Jenny Lay-Kumar, Geschäftsführerin der Regionalwert Research gGmbH, schließen. Mit der sogenannten Regionalwert-Leistungsrechnung, die auf dem Sustainable Performance Accounting basiert, sollen präventive Maßnahmen der Landwirte sichtbar gemacht und eine Basis geschaffen werden, um diese zu honorieren.

„Wir wollen diejenigen zum Glänzen bringen, die schon nachhaltig wirtschaften, aber im heutigen Wirtschaftssystem einen Nachteil haben“, erklärt Lay-Kumar. Zudem sollen wirtschaftliche Anreize für nachhaltiges Wirtschaften geschaffen werden. Der Bio-Pionier und Getreidespezialist Bohlsener Mühle hat die Regionalwert-Leistungsrechnung bereits mit Vertragslandwirten durchgeführt. In dem Ansatz sieht er Vorteile gegenüber dem viel diskutierten Wahre-Kosten-Modell. „Die Schadensvermeidung ist sowohl nachhaltiger als auch günstiger als die Schadensbehebung“, meint Philip Luthardt, Leiter Nachhaltigkeit der Bohlsener Mühle.

Rechnung zahlt auf Berichtspflicht ein
Anhand von etwa 300 Kennzahlen können Landwirte ermitteln, welche Zusatzleistungen sie in den Bereichen Ökologie, Soziales und Regionalökonomie für das Gemeinwohl erbringen. „Wir wollen zunächst die unsichtbaren Leistungen bilanzierbar machen. Konkret betrachten wir Sachaufwände, zum Beispiel für Blühstreifen sind dies Kosten für Saatgut und Zeitaufwand für die Pflege. Dann setzen wir den Aufwand in Bezug zum positiven Effekt“, erklärt Lay-Kumar.

Ein großer Pluspunkt: Die Bilanzierung soll Unternehmen dabei unterstützen, die richtigen Kennzahlen für die neue Nachhaltigkeitsberichtspflicht zu erheben. „Die Regionalwert-Leistungsrechnung ist sowohl thematisch als auch methodisch anschlussfähig an die Betriebswirtschaft und die EU-Nachhaltigkeitsberichterstattung.“ Die multidimensionale Betrachtung decke sich mit der Struktur (Environmental, Social, Governance; ESG), auf der die großen regulatorischen Werke der EU-Kommission basieren – die EU-Taxonomie und die Europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandards, erklärt die Expertin, die zudem als Mitglied einer Taskforce der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) mit der Entwicklung von sektorspezifischen Standards in der Land- und Ernährungswirtschaft für ebendiese EU-Nachhaltigkeitsberichtsstandards betraut ist.

„Jede Nachhaltigkeitsleistung, die wir sichtbar machen und mit Euro-Zeichen versehen können, zahlt auf die Nachhaltigkeitsberichtspflicht ein. Die erhobenen Kennzahlen sind für landwirtschaftliche Lieferketten die richtigen“, ist sich Luthardt sicher.

Bisher haben rund 500 Landwirte ihre Betriebe nach dem Modell der Regionalwert-Leistungsrechnung bewerten lassen. „Zusätzlich wurden in weiteren Projekten nachgelagerte Stufen betrachtet, also rund 50 Verarbeiter, Einzelhandel und Gastronomie“, so Lay-Kumar. Zu den Pionieren gehören Zulieferer von Bio-Großhändler Bodan, der Bohlsener Mühle sowie die Mühle selbst.

Subventionen umlenken
Eine erste Zahl: 32 landwirtschaftliche Bodan-Partner kommen in einem Geschäftsjahr zusammengenommen auf eine Nachhaltigkeitsleistung von mehr als 4,6 Millionen Euro. Es sei immer wieder überraschend, wie hoch die Ergebnisse der Nachhaltigkeitsleistungen ausfielen, sagt Lay-Kumar. Diese könnten 10 Prozent des Umsatzes eines Betriebes ausmachen. „Landwirte und Unternehmen könnten ganz anders arbeiten und wirtschaften, wenn diese Leistungen bezahlt würden“, betont sie. Die Pionierbetriebe setzen hier an – freiwillig.

Bio-Großhändler Bodan überlegt im Gespräch mit Höfen, Herstellern und Bioläden, welche konkreten Formen die Wertschätzung für die zusätzlichen Nachhaltigkeits- und Gemeinwohl-Leistungen annehmen könne, zum Beispiel in der Vertragsgestaltung, bei der Preisfindung oder der Präsentation am PoS, sagt Bodan-Geschäftsführer Sascha Damaschun. „Alleine über die Preise lassen sich die Zusatzkosten für die Nachhaltigkeitsleistungen nicht abdecken. Ohne eine Umwidmung öffentlich verfügbarer Mittel wird es nicht gehen.“

Auch die Bohlsener Mühle prüfe, wie sie die ökologischen und sozialen Gemeinwohl-Leistungen der Landwirte honorieren und die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstandards vertraglich regeln könne, so Luthardt. Angedacht sei ein Prämienmodell. Doch: „Eigentlich müssten Gesellschaft und Staat diese Mehrleistungen honorieren. Die einfachste Möglichkeit wären die GAP-Zahlungen.“

„Anhand der Systematik könnten GAP-Zahlungen und Subventionen anders gelenkt werden“, meint auch Lay-Kumar und erläutert weitere Möglichkeiten: „Es könnten auch regionale Fonds gegründet werden zum Aufbau der regenerativen Landwirtschaft und Stärkung der Resilienz. Steuerpolitisch könnte honoriert werden, wenn Unternehmen ökonomische und soziale Risiken vermindern. Unsere große Vision ist ein voll integriertes System, das es ermöglicht, Nachhaltigkeitsleistungen komplett in die Unternehmensbilanzen zu integrieren. Dann bräuchten wir keine Subventionen mehr. Aber das ist noch ein Stück Weg.“

Potenziale aufdecken
In der Zwischenzeit profitieren die Pilotbetriebe auf andere Art, denn die Erhebung der Leistungskennzahlen zeigt nicht nur Stärken, sondern auch Verbesserungspotenziale der Betriebe auf. Überraschend für die Bohlsener Mühle: Das „Vorurteil“, je kleiner ein Biobetrieb, desto nachhaltiger wirtschafte dieser, sei nicht bestätigt worden. „Die Größe eines Betriebes spielt keinen nachweislichen Faktor“, so Luthardt. Weitere Ergebnisse der Pilotprojekte: Bei Maßnahmen für Boden- und Klimaschutz seien die Vertragslandwirte der Bohlsener Mühle bereits sehr gut. Verbesserungsbedarf bestehe zum Teil noch beim Wassermanagement und bei der Biodiversität. Die Betriebe könnten die Ergebnisse der Leistungsrechnungen als Basis für die Detailsteuerung ihrer Nachhaltigkeitsmaßnahmen nutzen, meint Luthardt und kündigt an: „Wir legen die Ergebnisse zugrunde, um Fortbildungsangebote für unsere Vertragslandwirte genau zu diesen Themen zu schaffen.“

Der Aufwand für die teilnehmenden Betriebe sei gering. Zwischen drei und acht Stunden müsse ein Betrieb in die Datenerfassung über das Online-Tool investieren. Eine Verknüpfung mit SAP und Co. wurde modellhaft getestet und könnte den Prozess stark vereinfachen.

Der Haken: Aktuell werden nur Positivleistungen gerechnet. „Die Pioniere sollen nicht bestraft werden für ihren Mut und ihr Engagement“, meint Lay-Kumar. Vorgesehen sind künftig jedoch auch Negativwerte, beispielsweise durch Soja-Importe oder zu lange Tiertransporte.

Sie rechnet damit, dass es in den nächsten Jahren eine Synthese mit dem True Cost Accounting geben wird. „Denn insgesamt müssen wir betrachten, welche Leistungen ich erbracht habe für Klima, Biodiversität und Co., welche Schadfolgekosten einzubeziehen sind, welche Risiken ich durch präventive Maßnahmen minimiert habe oder welche Risiken für Umwelt, Klima und Zukunftsfähigkeit des eigenen Unternehmens ich in Kauf nehme, indem ich solche unterlassen habe.“ Akteure beider Methoden stehen im Dialog und haben begonnen, zusammenzuarbeiten.

Im nächsten Schritt sollen Kriterien für verarbeitende Lebensmittelproduzenten und den Handel erstellt werden. „Es wird noch dauern, bis wir in allen Bereichen der Ernährungswirtschaft alle KPIs erarbeitet haben und diese auch in der Wirtschaft Anwendung finden. Wir können jedoch nicht auf die Politik warten, daher gehen wir hier voran“, so Lay-Kumar.

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