Was erwartet der Verbraucher, der eine Flasche Biomilch kauft? Ein Premiumprodukt, was sonst. Wodurch zeichnet sich das aus? Die Antwort darauf hat das Ökobarometer, eine repräsentative Umfrage, die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft regelmäßig in Auftrag gibt. Demnach greifen 90 Prozent wegen der artgerechten Tierhaltung zu Bio. Kein Grund wird häufiger genannt.
„Für ein Premiumprodukt – gleich ob Bio oder konventionell erzeugt – Weidehaltung zu fordern, liegt nahe“, so Jutta Jaksche, Referentin für Lebensmittelpolitik beim Bundesverband der Verbraucherzentrale. Weidegang fördert das Tierwohl. Was sich darin zeige, so die Expertin, dass Rinder mit Auslauf gesünder seien.
Doch die weiße Weste des Premiumprodukts „Biomilch“ ist gar nicht so weiß. Der Bund Deutscher Milchviehhalter schätzt, dass mindestens ein Viertel der Biomilcherzeuger in Süddeutschland ihre Kühe nicht auf die Weide lassen. Ein nicht unerheblicher Teil, denn Bayern und Baden-Württemberg erzeugen zwei Drittel der gesamten Biomilch Deutschlands.
Die Emotionen kochen hoch. Verbraucher würden tiefer in die Tasche greifen, um mit Biomilch eine artgerechte Tierhaltung zu unterstützen. „Doch dass Hunderte Biobetriebe ihren Kühen keinen Weidegang ermöglichen […], ist empörend!“, so Annemarie Botzki von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Wenn das Bio-Label glaubwürdig bleiben wolle, müsse garantiert werden, dass Kühe Zugang zur Weide haben – „alles andere ist Greenwashing!“
Was ist das Problem? Eigentlich steht sie seit über 20 Jahren in den EU-Biorichtlinien: die Weidepflicht für alle ökologisch gehaltenen Wiederkäuer. Doch faktisch praktizieren sie bis heute längst nicht alle Biomilchbauern in Deutschland. Wer also im Supermarkt eine Biomilchpackung – den höchsten gesetzlichen Standard der Landwirtschaft – kauft, bekommt nicht immer den höchsten Haltungsstandard, also Stufe 5. „Dass es bei den Bio-Programmen nicht immer das höchste Tierwohl-Niveau gibt – in der Stufe 4 finden sich mitunter höhere – ist uns bewusst“, gibt Dr. Patrick Klein, Bereichsleiter Kommunikation bei der Initiative Tierwohl, gegenüber der Lebensmittel Praxis auf Nachfrage ganz offen zu.
Ausnahmen ade
Das soll sich in Zukunft ändern, wenn es nach der EU-Kommission geht. Sie hatte schon 2021 ein Pilotverfahren — die Vorstufe zu einem Vertragsverletzungsverfahren – gegen Deutschland angestrengt. Die Ausnahmen, die bisher noch durchgewunken wurden, seien nun aufgrund verschärfter Rechtsauslegungen nicht mehr zu halten, kündigte die zuständige Kommissionsabteilung Ökolandbau an.
Die Brüsseler Behörde bemängelte konkret die unzureichende Umsetzung der EU-Ökoverordnung: Ökobetriebe müssten ihren Pflanzenfressern – Rindern, Schafen, Ziegen – Zugang zur Weide gewähren. Laufhöfe oder Ausläufe allein reichten als Alternative nicht mehr aus.
Am Status quo der Regelungen hätte sich nichts geändert, teilte das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) mit. Anlass für das Pilotverfahren der EU-Kommission seien „unterschiedliche Auslegungen“ der bestehenden Verordnungen aufgrund bestehender Interpretationsspielräume gewesen, so eine BMEL-Sprecherin.
Grundlage für Biolandwirtschaft in Europa ist die Öko-Verordnung EU 2018/848 und die Durchführungsverordnung EU 2020/464. Die erste Bioverordnung stammt aus dem Jahr 1991. In der Verordnung EG 834/2007 aus dem Jahr 2007 steht dann erstmals die Weidepflicht.
Doch jahrzehntelang führten Biobetriebe in Deutschland, vor allem in den süddeutschen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg, bisweilen agrarstrukturelle Gründe an, wenn es darum ging, Ausnahmegenehmigungen zu erwirken. Es seien spezielle Ortslagen, verkehrsreiche Straßenquerungen oder nicht arrondierte Weideflächen, die sie davon abhielten, ihre Kühe auf die Weide zu lassen.
Plausibel erklärt und attestiert, konnte ein biokonformer Milchviehbetrieb mit Laufstall und Auslauf – aber unzureichenden Weidemöglichkeiten – über Jahrzehnte das Label und die Fördergelder als Biobetrieb nach EU-Öko-Verordnung einstreichen. Auch Verbände wie Bioland oder Demeter, die im Selbstverständnis sogar über die EU-Biostandards hinausgehen, bestehen bei ihren Mitgliedsbetrieben nicht zu 100 Prozent auf die Weidepflicht.
Für den Dachverband der deutschen Öko-Verbände, den Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), steht laut eigener Aussage Tierwohl bei Bio „an erster Stelle“. Die Weidehaltung entspreche dem Selbstverständnis der Biobauern und sei Vorgabe des Bio-Rechts. Notwendig sei aber auch, dass die Öko-Verordnung auf die unterschiedlichen Bedingungen in Europa eingehe: „Sie gilt schließlich von Finnland bis Malta, vom Flachland bis in Gebirgsregionen.“
Politisch gesehen ist die Kuh vom Eis und stattdessen seit November „auf der Weide“. Der Streit zwischen Brüssel und Berlin ist abgewendet. Fast geräuschlos und erst auf Nachfrage lässt das BMEL wissen: „Das sogenannte Pilotverfahren wurde inzwischen von der EU-Kommission geschlossen.“ Auf nationaler Ebene gab es in den letzten drei Monaten „eine breite Abstimmung“ zwischen den Länderbehörden, dem Bund, den Öko-Kontrollstellen, Beratern und Verbänden, so die BMEL-Sprecherin.
Damit es in Zukunft „möglichst keine Missverständnisse“ bei der Umsetzung der Weideverpflichtung mehr gibt, gilt nun das sogenannte Weidepapier der Länderarbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau. Weide ist demnach jetzt Pflicht, „wann immer die Umstände dies gestatten“. Temporäre Ausnahmen davon sieht das Papier bei extremer Trockenheit, lang andauernde Regenperioden oder bei Sturm- und Unwetterereignissen.
Bioquote sinkt
Alle Biobetriebe ohne Weidehaltung müssen nun ihre Hausaufgaben machen und ein Weidekonzept erarbeiten. Ein Jahr zur Umsetzung bleibt ihnen Zeit. Dann müssen aber wirklich alle Biokühe auf der Weide stehen. Das werden nicht alle schaffen, ist sich der Bayerische Bauernverband sicher. „Die EU-Kommission darf nicht zulassen, dass der bayerische Ökolandbau erodiert und Wertschöpfung verloren geht“, so ihr Präsident Günther Felßner. Tiere auf der Weide – das sei eine „wunderbar tiergerechte Haltungsform“, aber leider nicht überall umsetzbar.
Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber ist alles andere als erfreut. Das von Ministerpräsidenten Markus Söder postulierte Ziel, den Ökoflächenanteil bis 2030 auf 30 Prozent im Freistaat zu heben, scheint nun in noch weitere Ferne zu rücken. Die Umsetzung des Weidepapiers führe „leider“ auch dazu, „dass entgegen unserem politischen Ziel nach Ausweitung des Ökolandbaus nun einige Betriebe trotz großer Anstrengungen die ökologische Produktion werden einstellen müssen“, so Kaniber. Der Dachverband der Bioverbände BÖLW pocht auf Vertrauensschutz und angemessene Übergangsfristen.
Was geschieht also mit den Biobetrieben, die in Zukunft die Weidepflicht nicht erfüllen können? „Wir gehen davon aus, dass diese Betriebe auf konventionelle Bewirtschaftung um- oder die Milcherzeugung ganz einstellen“, äußert sich Heinrich Gropper, dessen Molkerei auch Biomilch verarbeitet, gegenüber der LP auf Nachfrage. Der Umfang sei heute „noch nicht absehbar“. Spürbare Mengenverluste gebe es aber. „Sie sind voraussichtlich nicht kompensierbar, da nur wenige Betriebe neu auf Bio umstellen.“
Was bleibt für Verbraucher? Sie können damit rechnen, dass sie ab 2026 beim Kauf von Biomilch auch gleichzeitig Weidemilch in Händen halten. Wer bis dahin nicht warten will, hat zwei Möglichkeiten. So bietet beispielsweise Rewe explizit auch Bio-Weidemilch an, „bei der durch Naturland-Verbandsvorgaben und/oder der Teilnahme an speziellen Weidemilchprogrammen der Weidegang im Fokus steht“, so Rewe-Pressesprecher Thomas Bonrath. Das würde „prominent“ auf der Verpackung kenntlich gemacht.
Erzeuger solch einer Biomilch in Weidequalität ist beispielsweise die Andechser Molkerei. Seit 2015 zahlt sie eine Weideprämie an Betriebe, die ihre Kühe grasen lassen. Bauern, die neu zur Molkerei kommen, müssen sich per se zum Weidegang verpflichten. „So erreichen wir, dass nahezu alle Biomilchlieferanten Weidegang anbieten können“, freut sich die Pressesprecherin Stefanie Miller für die Andechser Molkerei sagen zu können.