In Deutschland ist der Schutz der Tiere ein Staatsziel. Und das schon seit 2002. Verankert im Artikel 20a des Grundgesetzes. Also: heile Welt für Kuh, Pute und Schwein von Berchtesgaden bis Seebühl und von Aachen bis Görlitz? Müsste man meinen! Aber: weit gefehlt. Wie der Schutz im Detail aussieht, wird im Tierschutzgesetz festgeschrieben. Dort sind alle rechtlichen Rahmenbedingungen zur Haltung und zum Umgang mit Tieren zusammengefasst, die dem Schutz von Gesundheit, Leben und Wohlbefinden der Tiere dienen. Doch das Gesetz hat gleich mehrere blinde Flecken. So fehlen beispielsweise Vorgaben für die Haltung von Milchkühen. Aktuell bemängelt das die niedersächsische Verbraucherzentrale. „Während für Schweine, Legehennen und Kälber detaillierte Anforderungen in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung festgelegt sind, fehlen bisher spezialgesetzliche Regelungen für die Milchkuhhaltung“, erklärte Verbraucherschützerin Anneke von Reeken gegenüber der dpa.
Wo eine Gesetzeslücke klafft, gleichzeitig aber die Gesellschaft diskutiert, springen nicht selten andere für den Gesetzgeber in die Bresche. Stichwort: Nichtregierungsorganisationen. Aber auch der Lebensmitteleinzelhandel hat den Handlungsbedarf erkannt. Kein Wunder. Für Tierwohl-Produkte wird tiefer in die Tasche gegriffen. Und anscheinend nicht nur von ein paar „ideologischen Spinnern“. „Insgesamt stellen wir eine erhöhte Nachfrage nach Frischmilch aus höheren Haltungsformen fest − und somit auch eine erhöhte Bereitschaft, einen Aufpreis für mehr Tierwohl zu zahlen“, heißt es vom Handelsgiganten Aldi Süd. Höhere Nachfrage? Aldi Süd beziffert das in Zahlen: Aktuell stammten, so der Händler, bereits rund 50 Prozent der verkauften Frischmilch von zertifizierten Betrieben, die die Anforderungen der Haltungsformen 3 und 4 voraussichtlich erfüllen.
Es geht also um Markt und Mehrwert. Daher verwundert es nicht, dass sich die Gesellschaft zur Förderung des Tierwohls in der Nutztierhaltung, kurz ITW, zu der auch die Partner Aldi Nord und Süd, Edeka, Kaufland, Lidl, Netto, Penny und Rewe gehören, das Thema Milch zu eigen gemacht hat. Alle Einzelunternehmen des Lebensmittelhandels, die sich an der ITW beteiligen, werden zum 1. Januar 2022 die vierstufige Haltungsform bei Milch und Milchprodukten ausloben. „Am Beispiel Fleisch hat sich gezeigt, dass das Haltungsformsystem des Handels inzwischen zur Standard-Orientierung beim Tierwohl geworden ist. Das ist auch für die Kennzeichnung von Milch und Milchprodukten das erklärte Ziel“, so Robert Römer, Geschäftsführer bei der ITW. Die entsprechende Kennzeichnung finden Verbraucher heute schon vor allem auf SB-Frischfleischpackungen von Rind, Schwein und Geflügel.
So soll es werden
Wie funktioniert die Haltungsformkennzeichnung bei Milch? Trägerin ist die ITW. Sie organisiert die Eingruppierung von Standards und Programmen, überwacht die Anwendung und Umsetzung und unterstützt Unternehmen in der Außenkommunikation. Bei der Milch wird es vier Stufen geben. Stufe 1 steht für „Stallhaltung“, egal ob ganzjährige Anbindehaltung oder Laufstall. In Stufe 2, der „Stallhaltung Plus“, müssen Kühe in Laufstallhaltung oder einer Kombinationshaltung gehalten werden. Damit sich die Tiere bewegen können, wird der Anbindestall mit Weidegang kombiniert. Ab Stufe 3, dem „Außenklima“, gehört zum Laufstall entweder ganzjährig ein Laufhof oder Weidegang. In der höchsten Stufe, Stufe 4 bzw. „Premium“, gelten die gleichen Bedingungen wie in Stufe 3, doch zum Laufhof muss zwingend noch Weidegang kommen. Weitere Detailunterschiede, beispielsweise in der Komfortausstattung der Ställe und in der Fütterung, ergänzen die Abgrenzung innerhalb der einzelnen Stufen. Geht es Milchkühen in Deutschland also ab dem kommenden Jahr besser? „Ein System mit vier farbigen Kategorien führt ja nicht selbstredend zu mehr Tierwohl“, schränkt Dr. Björn Börgermann, Referent beim Milchindustrieverband, ein. Es klassifiziere Landwirtschaftsbetriebe nach vom Handel vorgegebenen Parametern – mehr aber auch nicht, so Börgermann. Ähnlich kritisch sieht man das auch bei der Molkerei Ehrmann: „Das Label berücksichtigt zwar viele Rahmenbedingungen, jedoch hängt das Tierwohl noch an viel mehr, beispielsweise Rationsgestaltung, Klauenpflege, Umgang und Weiterem“, ist sich Gunther Wanner sicher. Dass lediglich sechs Hauptkriterien für die Einstufung herangezogen werden und es dadurch sein kann, „dass ein sehr tierschutzdetailliertes Programm unter Umständen gleich eingestuft wird“, sieht man bei Hochland kritisch. Und Danone schränkt den Mehrwert für die Kühe durch das ITW-Label ein: „Wir haben bereits 2019 ein eigenes, europäisches Danone Tierwohl-Auditprogramm implementiert. Dieses Danone Tierwohl-Auditprogramm ist sogar umfangreicher als das ITW-Label“, meint Eva Hartl, Head of Milk Sourcing Germany bei Danone.
Biomilch hat eigene Kriterien
Da sich die ITW nur mit der Erzeugung konventioneller Milch beschäftige, sei man davon nicht betroffen, so der Biohändler Alnatura. Tierwohl, ja, das habe eine große Bedeutung – er verweist auf die strengen Richtlinien, die von Bioland, Demeter und Co. den Mitgliedern auferlegt würden, die wiederum die Milch für Alnatura lieferten. Sogar noch mit einem Top-on versieht die Biomolkerei Scheitz ihre Produkte. Zu den Bio-Verbandskriterien kommen die sogenannten „Andechser Kriterien“, die für Arten- und Klimaschutz stehen.
Fazit? Ja, die Labelung kommt – auch in den Stufen 3 und 4, sowohl auf Milch als auch auf Milchprodukte. „Dass der Mehrwert von Milch und Milchprodukten für die Verbraucher deutlicher herausgearbeitet wird und direkt am Kühlregal sichtbar werden soll, halten wir generell für sinnvoll“, so Winfried Meier, Vorstand der Bayerischen Milchindustrie. Aber es werden noch etliche Punkte wie Finanzierung, Mehrkosten für die getrennte Erfassung inklusive Warenstromtrennung und die Aufklärung beim Endkunden heiß diskutiert. Ganz zu schweigen von den Diskussionen in der Landwirtschaft selbst. Vor allem die Stufen 1 und 2 stehen im Fokus. „Die Alarmglocken der Milchbranche sollten vor allem bei der Ankündigung läuten, bis 2025 bereits völlig auf Ware der Haltungsstufe 1 verzichten zu wollen. Übertragen auf die Milch könnte dies bedeuten: keine Milch mehr aus ganzjähriger Anbindehaltung für Milch und Milchprodukte in den Eigenmarken des Handels. Eigenmarken werden nur noch als Haltungsform 2 ausgelobt. Dass in dieser Frage wieder einmal ein Unterbietungswettbewerb des Handels auf dem Rücken der Erzeuger droht, ist zu befürchten“, gibt Dr. Jürgen Seufferlein, Geschäftsführer des Verbandes der Milcherzeuger Bayern, den vielen süddeutschen Bauern mit Anbindehaltung eine Stimme.
Ein Problem, das Molkereien schon seit geraumer Zeit sehen. So hat beispielsweise Hochland mit Landwirten vereinbart, dass sich alle Milchviehbetriebe mit Anbindehaltung ab 1.1.2022 dazu verpflichten, ihren Milchkühen Weide und/oder Auslauf zu ermöglichen. Die Beratungskosten dafür bezahlte die Molkerei. Doch was wird aus denen, die nicht umstellen können oder wollen? „Wir nehmen die Verantwortung für unsere Vertragslandwirte sehr ernst und werden auch nach dem 1.1.2022 die Milch aus der ganzjährigen Anbindehaltung weiterhin sammeln und an eine andere Molkerei verkaufen“, so Sabrina Braun für Hochland.