Italienische Lebensmittel Die Macht der Mythen

Die Herkunft von Lebensmitteln und Gerichten ist von historischem Interesse – gerade bei italienischen Lebensmitteln liegen Wahrheit und Wahrnehmung oft auseinander. Ein Aufreger für die Italiener.

Mittwoch, 16. August 2023 - Sortimente
Gastbeitrag von Alberto Grandi
Artikelbild Die Macht der Mythen
Bildquelle: Adobe Stock

Das Kochen hat für die Italiener heute eine identitätsstiftende Dimension, die sich jeder Vernunft entzieht. Die Erwähnung von Insektenmehl oder des offensichtlichen amerikanischen Ursprungs vieler unserer Rezepte reicht heute aus, um pawlowsche Reaktionen auszulösen, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn jemand es wagt, ein kreatives Element in Rezepte einzubringen, die man gerne in Marmor meißeln würde, die aber sehr oft eine sehr kurze und keineswegs lineare Geschichte haben. Man denke nur an den Skandal, der in Italien jedes Mal ausbricht, wenn jemand eine Carbonara mit Sahne macht.

Die Küche der Emigranten
Es war Artusis Buch Ende des 19. Jahrhunderts, das zum ersten und wichtigsten Handbuch der italienischen Küche wurde. Aber „Science in the Kitchen and the Art of Eating Well“ wurde, noch bevor es innerhalb der nationalen Grenzen erfolgreich war, zu einem Grundlagentext der identitätsstiftenden Küche der italienischen Emigranten-Gemeinschaft, insbesondere derjenigen in Nordamerika. Denn die wahren Protagonisten der italienischen gastronomischen Renaissance waren die Italiener in Amerika, die gelernt haben, mit neuen Zutaten umzugehen, die die Tomatensoße zum Grundpfeiler unserer Küche gemacht haben, und die ein Nischenprodukt wie die Pasta zum Nationalgericht par excellence gemacht haben. Dies zu leugnen und uns weiterhin das Märchen von den Italienern zu erzählen, die dem Rest der Welt das Kochen beigebracht haben, ist nicht nur aus historischer Sicht falsch, sondern eine echte Beleidigung für die Millionen von Italienern, die gezwungen waren, ihr Land wegen des Hungers zu verlassen. In Wirklichkeit hatten die ausgewanderten Italiener in der Küche nichts zu lehren und haben das Kochen wahrscheinlich auf ihren Reisen gelernt.

Der Einfluss neuer Konsummodelle
Vor allem auf ihren Opfern baute Italien den wirtschaftlichen Aufschwung auf, der die Fesseln des Mangels und der Unterernährung sprengte, die ganze Volksschichten bis dahin geprägt hatten. Der eroberte Wohlstand ermöglichte es den Italienern in Italien, eine neue einheimische Küche zu schaffen, die das Ergebnis von Kreuzungen und Kontaminationen durch die Auswanderer und gleichzeitig von den neuen Konsummodellen war, die durch Fernsehen und Werbung vermittelt wurden. Dies sind die Wurzeln unserer Küche.

Und so wissen wir heute, dass die Carbonara nach dem Zweiten Weltkrieg dank der von amerikanischen Soldaten mitgebrachten Zutaten entstanden ist. Wir wissen, dass Lardo di Colonnata ein Produkt ist, das in den 1980er-Jahren erfunden wurde, dass der Marsala-Wein von englischen Kaufleuten erfunden wurde, um den Madeira zu ersetzen, und dass der Parmigiano-Käse noch vor 50 Jahren völlig anders war, als er heute ist. Die Pachino-Tomate ist kein uraltes Produkt, sondern eine 1989 von der Firma Hazera Genetics in Tel Aviv patentierte Hybride, die bis in die 1990er-Jahre nicht in Sizilien angebaut wurde. Der Balsamico-Essig aus Modena ist ein industrielles Produkt, das in den 1970er-Jahren aus Essig, Most und Karamell hergestellt wurde. Der traditionelle Balsamico-Essig mit geschützter Ursprungsbezeichnung hat absolut nichts mit dem Produkt zu tun, das man in den Supermärkten der ganzen Welt kaufen kann. Der Mailänder Panettone wurde 1919 von Angelo Motta erfunden und war zunächst ein Industrieprodukt. Der handwerklich hergestellte Panettone ist eine neuere Erfindung, die etwa 20 bis 25 Jahre alt ist.

Alberto Grandi

ist Historiker und lehrt an der Universität Parma. In seinem 2018 erschienen Buch „Denominazione di Origine Inventata“ („Erfundene Herkunftsbezeichnungen“) und in seinem Podcast deckt er im Namen der Wissenschaft typisch italienische Lebensmittel-Mythen auf. Die italienische Küche ist global erfolgreich und Teil des ausgeprägten Nationalstolzes der Italiener. Wer daran kratzt, begeht in ihren Augen ein Sakrileg. Alberto Grandi tut es und nimmt den Stiefelstaat-Bewohnern damit ein wenig die Butter vom Brot, tatsächlich aber zum Beispiel die Carbonara. Die LP hat ihn um einen Gastbeitrag in Form eines literarischen Leckerbissens gebeten. Sein Buch erscheint im Winter auf Deutsch. Es könnte mit Panettone zusammen unterm Weihnachtsbaum liegen.

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