Tierwohl Haltungswechsel

Alle wollen das Gleiche: Fleisch von glücklichen 
Tieren. Aber wer soll fürs 
Tierwohl bezahlen – Bauern, Verbraucher oder Händler? Eine Bestandsaufnahme.

Freitag, 16. Februar 2024 - Management
Heidrun Mittler und Jens Hertling
Artikelbild Haltungswechsel

Der Vorstoß von Aldi Nord und Süd vor zwei Jahren überraschte nicht nur die Fachwelt: Im Juli 2021 starteten die Discounter das Projekt „#Haltungswechsel“. Mit der ehrgeizigen Agenda sind Versprechen für mehr Tierschutz verbunden. So sollen bis 2030 Frischfleisch, Trinkmilch sowie gekühlte Fleisch- und Wurstwaren ausschließlich aus den Haltungsformen 3 und 4 stammen. Bei Pute und Frischmilch werden die Ziele schon in diesem Frühjahr erreicht. Andere Händler haben ganz ähnliche Ziele.

Schon damals war die Reaktion in der Branche spürbar. „Wir waren mehr als irritiert. Damit hatten wir so nicht gerechnet“, sagte Hubertus Beringmeier, Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes (hier lesen Sie das ganze Interview mit Hubertus Beringmeier). Seinerzeit hatte Beringmeier darauf hingewiesen, dass es den Landwirten nicht möglich sei, diese Forderung von Aldi zu erfüllen. Vieles ist seit dem immer noch unklar: Wie können in Zukunft die Umweltstandards, das Außenklima und der Auslauf der Tiere unter einen Hut gebracht werden und ist die Finanzierung auf lange Sicht überhaupt gesichert? Diese Fragen haben bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie stehen im Mittelpunkt einer unserer Podiumsdiskussionen im Rahmen des 32. Deutschen Fleischkongresses (21. Februar 2024, Petersberg).

Michael Schulze KalthoffWestfleisch
Michael Schulze Kalthoff
 „Wir müssen die Wünsche des deutschen Handels mit den steigenden Kosten, den zunehmenden Anforderungen aus der Politik und den Preis- sowie Qualitätsvorstellungen der Verbraucher zu wirtschaftlich vernünftigen Bedingungen unter einen Hut bekommen“, sagt Michael Schulze Kalthoff, Vorstandsvorsitzender der Westfleisch SCE. Er sieht vor allem die Landwirte alleingelassen und verunsichert. „Ihnen fehlt ein gesundes Maß an Verlässlichkeit und Planungssicherheit der Politik.“ Konkret muss die Politik dafür sorgen, dass die finanziellen und die baurechtlichen Bedingungen so gestaltet werden, dass die Landwirte umbauen können, um ausreichend Tiere in den geforderten Haltungsformen zu züchten und zu mästen, so der Firmenlenker.

Kennzeichnung wird geändert
Aktuell sorgt zudem die Umstellung auf die neue Haltungsform-Kennzeichnung für Verwirrung. Grund dafür ist die staatliche, verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung, die im August 2023 in Kraft getreten ist und ab diesem Sommer umgesetzt wird. Zu den vier Haltungsstufen der Initiative Tierwohl, die Handel und Verbraucher mittlerweile seit 2019 auf verpackten Produkten kennen, kommt eine zusätzliche für Bio-Fütterung hinzu. Außerdem erhalten die fünf Stufen jeweils neue Bezeichnungen: Stall, Stall+Platz, Frischluftstall, Auslauf/Weide und Bio. Was hinter den Stufen steckt, ist vereinfacht im nachfolgenden blauen Kasten beschrieben. Ware, die mit den neuen Begriffen gekennzeichnet wird, ist wahrscheinlich erst ab 2025 in den Kühltheken und -regalen zu finden. 

Haltungsformen

1: Stall

Haltungsform 1
Wie hat das Tier gelebt, bevor es auf den Teller kommt? Die Antwort gibt, zusammengefasst und abstrahiert, das Siegel „Haltungsform“. Es betrifft derzeit Schweine, Hähnchen, Puten, Jungbullen, Ochsen, Färsen, Mastkälber und Milchkühe. In Haltungsform 1 hat jedes Schwein 0,75 Quadratmeter Platz. Zur Beschäftigung hat es mindestens eine bewegliche Kette, kombiniert mit einem Holzstück.

2: Stallhaltung plus

Haltungsform 2
Bei der Haltungsform 2 erhält jedes Schwein zehn Prozent mehr Platz als gesetzlich vorgeschrieben. Konkret heißt das, die Mindestfläche pro Tier wächst auf 0,825 Quadratmeter an. Außerdem bietet der Landwirt dem Tier organisches Beschäftigungsmaterial aus natürlichen Materialien an, im Bild oben Stroh. Exkurs zu Hähnchen: In Haltungsstufe 1 leben maximal 39 Kilogramm Hähnchen auf einem Quadratmeter, in 2 noch 35 Kilogramm.

3: Außenklima

Haltungsform 3
In Haltungsform 3 (heißt bald „Frischluftstall“) beansprucht jedes Schwein 1,05 Quadratmeter Platz (bei einem Gewicht von 50 bis 110 Kilogramm pro Tier). Der Stall muss Außenreize
bieten, zumindest einen Offenfrontstall. So tauscht sich die Außenluft mit der Stallluft aus. Die Tiere können sich zwischen diesen Klimazonen frei bewegen, erhalten Tageslicht und können die Witterungseinflüsse erleben.

4 und bald 5: Premium/Bio

Haltungsform 4 und bald 5
In Haltungsform 4 hat ein Schwein (bis 110 kg) mindestens 1,5 Quadratmeter Platz. Es lebt im Stall, hat aber ständigen Zugang zum Auslauf oder zur Freilandhaltung. Mindestens 20 Prozent des Futters stammen aus dem eigenen Betrieb oder der Region. Ab Sommer 2024 gibt es eine weitere Stufe 5: Bio – Fütterung nur mit biologisch erzeugtem Futter, zu 30 Prozent aus dem Betrieb, Arzneimittel stark reglementiert.

Angebot und Nachfrage ausgleichen
Im Handel sind darüber hinaus die Markenfleisch-Programme wichtig. Alle großen Unternehmen haben eigene Programme aufgelegt und versorgen insbesondere die Bedienungstheken mit Fleisch aus höheren Haltungsformen. Einige Beispiele: Bauernliebe (Rasting), Strohwohl (Rewe), Hofglück (Edeka Südwest), K-Wertschätze (Kaufland). Dazu haben sie in der Regel mit Landwirten Verträge abgeschlossen, die Abnahmemengen garantieren und somit den Umbau der Ställe ermöglichen. Sowohl die Landwirte als auch der Handel gehen damit in Vorleistung, und das in erheblichem Maß.

Verständlich, dass sich einige Betreiber der Markenfleisch-Programme über ein faules Ei aufregen, das ihrer Ansicht nach in dem neuen Gesetz steckt. Vereinfacht erklärt, betrifft es die Folgen der Transformation. Schließlich dauert es (je nach Tierart unterschiedlich) eine Weile, bis die Ställe umgebaut sind und die Anforderung an die höheren Haltungsstufen komplett umgesetzt ist. Und: bis der Verbraucher das bessere Fleisch kennt und nachfragt.

Das ganze Tier vermarkten
Bis Angebot und Nachfrage sich angeglichen haben, kann es zu Überhängen kommen. Dann vermarkten die Anbieter das Fleisch aus höheren Haltungsstufen übergangsweise als Fleisch aus niedrigeren Haltungsstufen. Der Prozess wird in der Fachsprache „Downgrading“, also Herabstufen, genannt. Das aber soll beschränkt werden. Rasting nimmt als Lieferant der Edeka Rhein-Ruhr dazu folgendermaßen Stellung: „Die Möglichkeit des Downgradings ist für ein Markenfleisch-Programm mit höheren Haltungsformen insbesondere in der Aufbauphase essenziell. Im Haltungsform-3-Vertragsprogramm verpflichtet Rasting sich gegenüber regionalen Partnern in der Landwirtschaft bis dato, das ganze Tier abzunehmen. Diese vertragliche Verpflichtung sorgt für Fairness sowie Planungs- und Investitionssicherheit aufseiten der Landwirtschaft. Gleichzeitig stellt Rasting gegenüber den Kaufleuten eine permanente Verfügbarkeit sicher.“ Im Tierhaltungskennzeichnungsgesetz wird das Downgrading nach dem Prinzip 80/20 stark eingeschränkt, so Rasting. „Unsere Praxiserfahrung zeigt, dass ein Downgrading von nur 20 Prozent der Menge, wie es der Staat vorsieht, problematisch wäre – insbesondere auch dann, wenn die Kennzeichnung auf verarbeitete Produkte ausgeweitet wird.“

Wie die Produkte an den Fleischtheken laufen, hat die LP Alexander Kreuzberg gefragt, der mit seiner Familie in Koblenz und Neuwied drei Edeka-Märkte betreibt. „Der Umsatzanteil an Bauernliebe-Produkten ist bei uns stetig gewachsen“, antwortet er. Die Coronapandemie hat dem Fleisch einen regelrechten Boom beschert. Jetzt aber, in Zeiten von Krieg und Inflation, ist die Nachfrage abgeflaut. „Trotzdem bleiben wir dem Konzept treu“, sagt Kreuzberg. Der Kaufmann unterstützt Bauernliebe mit einem Teil seiner Marge. „Bauernliebe ist nicht nur besser fürs Tier und das eigene Gewissen, auch die Qualität des Fleisches ist besser“, behauptet er. Das sehen wohl auch viele Kunden so: „Ein großer Teil der Stammkundschaft kauft nichts anderes mehr.“

Strohwohl zielt auf 2030
Ein Leuchtturmprojekt verfolgt Rewe West mit dem Konzept „Strohwohl“. Es vereint nicht nur artgerechte Tierhaltung, Qualität und Regionalität, sondern steht auch für eine enge, faire und zukunftsorientierte Zusammenarbeit mit den landwirtschaftlichen Betrieben und den Verarbeitern. Das Fleisch ist mit Haltungsform 4 gekennzeichnet. Derzeit ist das Fleisch aus diesem Projekt in rund 170 Märkten der Rewe West zu kaufen, Tendenz steigend. „Bis 2030 will die Rewe ihr Frischfleisch auf die Tierhaltungsstufen 3 und 4 umstellen. Mit dem Strohwohl-Programm, das fester Bestandteil der Rewe-Strategie ist, sind wir auf einem sehr guten Weg“, sagt Frank Schmitt, Vertriebskoordinator CM Service + Gastro der Rewe West. Das Programm entwickelt sich laut Schmitt positiv. Strohwohl-Schweine machen 20 Prozent des Gesamtumsatzes Schwein aller Bedientheken aus. „Wir haben viele Anfragen von Landwirten, die gern dem Programm beitreten würden. Unser Ziel, bis 2030 nur noch Tiere der Haltungsformen 3 und 4 zu verwenden, werden wir so erreichen“, sagt Schmitt, dessen Kollegen 450 Schweine pro Woche zu Fleisch- und Wurstwaren für die Bedienungstheke verar­beiten. Die Entwicklung hängt auch davon ab, welche Rahmenbedingungen die Politik setzt, so Schmitt. „Wenn wir unsere Hofbesuche machen, hören wir oft von einer Verunsicherung. Die Landwirte wissen oft nicht, in welche Richtung die Politik ihre Entscheidungen trifft. Da 
können wir mit unserem Programm entgegenwirken, weil wir langfristige Verträge abschließen“, sagt er.

Weniger deutsche Anbieter
Norbert Baumeister, Berater und Fleischsommelier, glaubt nicht, dass das Konzept des Handels aufgehen wird: „Die Entwicklung wird in die Richtung gehen, dass es in Zukunft weniger deutsche Anbieter von qualitativ hochwertigem Schweinefleisch geben wird.“ Aus heutiger Sicht sei es nicht möglich, innerhalb von sechs Jahren eine ausreichende Anzahl von Tieren in den Haltungsstufen 3 und 4 zur Verfügung zu haben. „Wenn ich mir die Immissionsschutz-Gesetzgebung anschaue und die Sicherheiten, die sowohl der Lebensmitteleinzelhandel als auch die Politik fordern, dann glaube ich nicht daran.“ Die Landwirte bräuchten Zusagen des Handels, die weit über das bisherige Maß hinausgehen. Darüber hinaus sei eine viel stärkere Aufklärung der Verbraucher notwendig.

Auch die Vertreter der deutschen Industrie sind sich einig, dass die Ziele des deutschen Lebensmitteleinzelhandels ambitioniert sind. „Unser Ziel ist es, die Haltungsstandards Schritt für Schritt weiter anzuheben und bis 2040 unsere gesamte Produktion in Deutschland auf Tierhaltungsstufe 3 oder 4 umzustellen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass die tatsächliche Nachfrage der Verbraucher vorhanden ist und die Preisgestaltung für alle Beteiligten stimmt“, sagt Peter Wesjohann, Vorsitzender der Geschäftsleitung der PHW-Gruppe, die unter anderem die Marke Wiesenhof produziert. Nach Wesjohann müssen vor allem die baurechtlichen und umweltrechtlichen Vor-aussetzungen geschaffen werden, damit Um- und vor allem Neubauten im Sinne des Tierwohls erfolgen können.

Künftig mehr Importware?
„Dann können wir auch den hohen Selbstversorgungsgrad bei Geflügel, der aktuell bei rund 95 Prozent liegt, halten. Gelingt dies nicht rechtzeitig, könnte der Selbstversorgungsgrad auf 50 bis 60 Prozent sinken“, behauptet der Firmenchef. Der Rest müsste durch Importe aus dem Ausland zur Verfügung gestellt werden. „Dann haben wir im Durchschnitt weniger Tierwohl, weniger Umweltschutz und weniger Ernährungssicherheit in Deutschland“, so Wesjohann.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Dr. Gereon Schulze Althoff, Mitglied der Geschäftsführung der Tönnies-Gruppe: „70 Prozent unserer deutschen Tiere stammen schon heute aus den höheren Stufen. Für die Haltungsformen 3 und 4 braucht es langfristige Verträge – hier ist vor allem auch der Lebensmittelhandel gefordert. Der Unterschied zwischen dem Preiseinstieg und den höheren Haltungsformen darf nicht zu hoch sein, sonst greift der Großteil der Verbraucher weiter zu den niedrigeren Preisen.“

2 Fragen an

Dr. Torsten Staack, Geschäftsführer der ISN ‒
Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands

Was halten Sie von der Tierwohloffensive des Handels, bis 2030 nur noch Fleisch aus höheren Haltungsformen anzubieten?
Das anvisierte Ziel der verschie­denen Unternehmen des Handels ist äußerst ambitioniert. Vor allem in Anbetracht der Tat­sache, dass der Absatz von Fleisch aus höheren Haltungsformen in jüngster Zeit deutlich rückläufig ist. Die Umstellung hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen haben sich die Lebensmitteleinzelhändler meist nur beim Frischfleisch zu höheren Haltungsstufen bekannt, und es sei mal dahingestellt, wie weit Aktionsware mit einbezogen wird. Zum anderen wird es am Ende darauf ankommen, welches Angebot die Handelsunternehmen den Landwirten machen. Denn es ist nun einmal Fakt, dass die Umstellung der Ställe nicht zum Nulltarif geht – im Gegenteil: Derart hohe Investitionen sind für Schweinehalter nicht ohne Planungssicherheit und langfristig auskömmliche Erlöse möglich.

Was sollte der Lebensmittelhandel den Erzeugern zusichern?
Die Händler müssen eine sichere und langfristige Abnahme gewährleisten und einen angemessenen und deutlich höheren Preis für das Fleisch zahlen. Außerdem darf der Handel in der nächsten Krise nicht plötzlich eine Rolle rückwärts machen und die Landwirte im Regen stehen lassen. Darüber hinaus müssen die genehmigungsrechtlichen Bedingungen passen. Die Umstellung auf die höheren Haltungsstufen erfordert meist erhebliche Umbauten der Ställe mit entsprechend notwendigen Genehmigungen, die die Landwirte derzeit in der Regel dafür nicht bekommen.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen
Bild öffnen