Josef Sanktjohannser „Unsere Marge schwindet“

Ex-Rewe-Vorstand Josef Sanktjohanser verlässt den Posten des HDE-Präsidenten – mit markigen Sätzen an die deutsche Politik.

Freitag, 04. November 2022 - Management
Andrea Kurtz
Artikelbild „Unsere Marge schwindet“
Bildquelle: Die Hoffotografen GmbH Berlin

Die Brandbriefe aus der Wirtschaft an die Politik häufen sich. Der HDE war einer der ersten Akteure, die dazu gegriffen haben. Ist der Handel bedroht? 
Josef Sanktjohanser:
Ja, massiv. Unsere aktuellen Umfragen zeigen sehr deutlich, dass über 50 Prozent der deutschen Händler aufgrund der exorbitant steigenden Energiekosten in Existenzschwierigkeiten stecken. Die Einschläge kommen zusätzlich durch die deutliche Kaufzurückhaltung aufgrund der hohen Energiekosten für die privaten Haushalte näher. 

Bis jetzt hieß es immer, der Online-Handel sei der Heilsbringer, gerade auch für kleinere Händler ...
… das ist auch kein Selbstläufer mehr, die Kaufzurückhaltung ist auch hier deutlich. Und selbst bei den weltweit großen Playern sieht man, dass die Manager bei ihren Expansionsplänen auf der Bremse stehen. Nun sind die Big Player kein Vergleich mit den kleineren Handelsunternehmen hierzulande, aber es ist ein Signal.

"Die andauernde Bewältigung von Krisen – Corona, Ukraine-Krieg, Energiekosten – wird die Politik Mores lehren."
Josef Sanktjohanser, HDE-Präsident

Wie schätzen Sie als Vollblut-Lebensmittelkaufmann die Lage für LEH und Drogeriemärkte ein? 

Während Corona haben wir gesehen, dass alles, was der Konsument für sein tägliches Leben benötigt, einen enormen Schub bekommen hat. Das läuft auch weiterhin, aber mit veränderten Vorzeichen. Die Marge schwindet, wir erzielen keine realen Umsatzzuwächse mehr. Dazu kommt, dass die Kunden im gesamten Nonfood-Bereich starke Kaufzurückhaltung zeigen. Die Prognose ist also auch hier verhalten.

Wie preissensibel ist der Kunde? 
Wir sehen deutlich: Die Kunden erleben die Inflation, greifen statt zur Marke zur Eigenmarke oder vermehrt zum Preiseinstieg. Das ist für den Handel eine große Herausforderung, die jedoch dem Verbraucher ermöglicht, seine Lebenshaltungskosten bei Lebensmitteln günstig zu stellen. Außerdem befördern wir mit den Handelsmarken auch die Zusammenarbeit in der Lieferkette. Durch den starken Dialog verbessern wir die Wertschöpfung und bringen dem Kunden zumindest etwas Entspannung an der Preisfront.

Der Lebensmittelhandel muss also keine Angst vor der Zukunft haben? 
Jedenfalls derzeit nicht. Wir sind ja ohnehin nicht die Kaufleute, die offensiv und sofort staatliche Hilfsgelder und Subventionen fordern. Wir hatten im Lebensmittelbereich gute Jahre und diese wappnen uns für die Krise. Bei den Energiekosten brauchen wir aber Planungs- und Kostensicherheit!

Sie verlassen als erster Repräsentant den HDE in schwierigen Zeiten. Welche wichtigste Aufgabe übergeben Sie Ihrem Nachfolger? 
Ich werde auf keinen Fall nach dem Wechsel von der Seitenlinie in die Arbeit des Verban-des hineinrufen. Eine solide Positionierung im Markt respektive in der Politik und der Zusam-menhalt der Mitglieder sind Big Points im Amt als HDE-Präsident. Neben der Finanzie-rung ist die Anpassung der Verbandsorganisa-tion an die Branchenentwicklung eine fortdau-ernde Aufgabe. Zudem wird es wichtig bleiben, die Position des HDE im Club der größten Wirtschaftsverbände weiter zu festigen.

Hat sich die Wahrnehmung des Handels in Ihrer Amtszeit geändert? 
Wir haben über die Zeit mehr als regelmäßige Treffen mit den Regierungsverantwortlichen – bis hin zum Kanzler beziehungsweise zur Kanzlerin – aufgebaut und eine konstruktive, direkte Dialogebene geschaffen. Diese direkten Drähte zu den Ministern und ihren Leitungsstäben sind für tragfähige Beziehungen und Lobby-Resultate unverzichtbar. Das gilt auch für die Vernetzung mit den anderen Verbänden. Wir sind ein gefragter Gesprächspartner. Gesamtgesellschaftlich gesehen haben wir als Handelsverband eine hohe Legitimation durch die Struktur als gewählte Organisation in ganz Deutschland bis hin zur Vertretung in Brüssel. So ist es gelungen, die Handelsbranche mit ihren gesellschaftlichen Funktionen erheblich präsenter wahrnehmbar zu machen.

Wie erleben Sie die inzwischen ja nicht mehr neue Regierung? 
Diese Frage habe ich mir in den letzten Tagen häufig gestellt. Nebenbei: Ich habe dabei nachgerechnet, dass ich bei nur zwei Kanzlerschaften acht verschiedene Wirtschaftsminister erlebt habe. Ich werde diese Tatsache sicher noch in der ein oder anderen Abschiedsrunde kolportieren – denn die Frage liegt ja nahe: Sind es angesichts der angestrengten wirtschaftlichen Situation zu viele oder zu wenige Amtsträger? Das Signal ist für mich deutlich und die Erkenntnis klar umrissen: Es fehlt in Deutschland an einer konzeptionell und langfristig ausgerichteten Wirtschaftspolitik.

Woran fehlt es der Wirtschaftspolitik?
Vor allem in der Ordnungspolitik fehlt der Kompass. Wir in der Wirtschaft erwarten konkrete Rahmenbedingungen und die Einhaltung von ökonomischen Grundsätzen. Ich nehme Olaf Scholz als Bundeskanzler wahr, der sein Kabinett führt und eine große Erfahrung auch in wirtschaftspolitischen Fragen besitzt. Der große Einfluss einer linken, sozial umverteilenden und regulierenden Politik macht mir dennoch große Sorgen.

Und in der Ernährungspolitik? Welches Zeugnis stellen Sie dem Team Özdemir aus? 
Da habe ich ein fortdauerndes Störgefühl; das hat sich aber zu den Vorgänger-Regierungen nicht geändert. Die gesamte Agrarpolitik ist ja quasi eine Exklave der allgemeinen Wirtschaftspolitik, jedoch nicht mit dieser kongruent. Daher bin ich auch nicht einverstanden mit der aktuellen Ernährungspolitik von Cem Özdemir. Es gibt zahlreiche Eingriffe, die deutlich machen, dass es vielen Politikern an der Kenntnis von Marktprozessen mangelt; es scheint der Glaube vorzuherrschen, man könne zum Beispiel an Milch- oder Schweinefleischpreisen einfach drehen, ohne Angebots- und Nachfrageverhalten als autonome Entscheidungen von Unternehmen und Bürgern zu berücksichtigen.

Was braucht der Handel bei der Krisenbewältigung dringend von der Politik?
Es ist unsere Aufgabe, der Politik die Krisenfolgen deutlich zu machen. Wir als Händler müssen immer wieder darauf aufmerksam machen, dass für uns andere Parameter für einen möglichen Schadensausgleich gelten als für die Industrie. Unser Verhältnis Umsatz zu Wertschöpfung ist nicht einfach gleichzusetzen mit anderen Branchen und daher als Bemessungsgrundlage zur Berechnung von Entschädigungszahlungen betriebswirtschaftlich völlig daneben. Hier werden wir insistieren und hart lobbyieren.

Fachkräftemangel. Welche Unterstützung benötigt der Handel? 
Das Bürgergeld ist für mich in der Tendenz dafür jedenfalls der falsche Weg. Die Anreize für Nicht-Arbeiten wurden im Verhältnis zur aktiven beruflichen Tätigkeit gestärkt. Für mich sind die Maßnahmen der Ampelregierung nicht scharf genug. Positiv sind die Lockerungen bei Hinzuverdienstmöglichkeiten und die Entschärfung der kalten Progression zu nennen. Den Fachkräftemangel werden wir nur bekämpfen können, wenn wir die Grenzen öffnen und eine Willkommenskultur leben, die schon in den Kommunen beginnt. Schaut man auf die Integration von Ukrainern, passiert im Stillen so viel Richtiges und Gutes. Hier gilt, dass die Betriebe unmittelbar die wirksamsten Sozialleistungen erbringen. Der Arbeitskräftemangel ist nicht auf Knopfdruck zu beheben; hier braucht es viele Maßnahmen wie beispielsweise die gleichrangige Förderung von „Meister und Master“. Hands-on-Berufe müssen generell wieder mehr Wertschätzung bekommen.

Zurück zum Kaufmann Sanktjohanser. Worauf achten Sie, wenn Sie einen fremden Supermarkt betreten? 
Auf Ordnung, Sauberkeit und Hygiene. Ich sehe direkt, ob ein Markt gut geführt ist. Das ist mehr als nur die Optik der Obst- und Gemüse-Abteilung. Ich achte auf Kundenfrequenz, auf Freundlichkeit, Warenpräsenz … aber im Grunde folgt man hier automatisch dem Erfahrungswissen. Retail is detail; das ist ein guter Grundsatz für jeden Kaufmann.

Wie wird ein klassischer Supermarkt in fünf Jahren aussehen? Nur noch SB, Discounter und Genusstempel? 
Jetzt schaue ich einmal auf unser Familienunternehmen. Über vier Generationen wurde die Philosophie unserer Firma geprägt. Danach führen wir keine Genusstempel, sondern wir bedienen Kunden aus der ganzen Breite der Gesellschaft. Für die große Mehrzahl der Bürger ist der gute tägliche Einkauf weiter sehr wichtig, und Homing und Cocooning bleiben im Trend. Maß und Mitte werden weiter ihren Platz behalten. Meine Nichte Maike verantwortet die Petz Rewe GmbH als CEO und setzt daher konsequent auf die Umsetzung der alltäglichen Basisleistungen wie Sauberkeit, Freundlichkeit, reelle Preise, ein großes Sortiment, regionale Produkte, Eigenmarken, Ambiente, Ausstattung. Unsere Mitarbeiter- und Kundenbindung sind messbar überdurchschnittlich. Ebenso die lokale und regionale Verwurzelung. So haben wir beispielsweise mit fünf Landwirten Abkommen über Ganztier-Vermarktung. Nach meiner Überzeugung wird all dies auch die Basis für zukünftigen Erfolg.

Was Josef Sanktjohanser den Ministern Lindner und Habeck beim Parlamentarischen Abend des Mittelstands mit auf den Weg gab, hören Sie hier:

https://files.vbhcloud.de/index.php/s/c93jwjdRYctJFyA