Milchkarton Abgespeckt auf Kundenfang

Kaufland und Schwarzwaldmilch haben für eine Aktion den Milchkarton abgespeckt. Ohne Wiederverschluss und mit reduzierter Optik, aber stabil im Preis: Macht das Beispiel Schule?

Freitag, 09. Dezember 2022 - Verpackung
Wibke Niemeyer und Matthias Mahr
Artikelbild Abgespeckt auf Kundenfang
Bildquelle: Matthias Mahr

Ein Milchkarton ohne Wiederverschluss wäre noch vor wenigen Monaten bei Markenherstellern undenkbar gewesen. Wäre. Schwarzwaldmilch hat jetzt gemeinsam mit Kaufland eine Aktion gestartet, um der Preisfalle zu entkommen. In den SB-Warenhäusern der Schwarz-Gruppe wurde vor zwei Wochen 1 Liter Milch in einem Brik-Getränkekarton ohne Wiederverschluss und mit reduzierter Optik angeboten. Durch diese Maßnahme konnte der Preis bei 1,19 Euro gehalten werden. „Deine Milch“ lautete die Aufschrift auf dem Molkereiprodukt aus dem Schwarzwald. Dies und der Zusatz „Einfach gemeinsam füreinander in besonderen Zeiten“ sollte dem Kaufland-Kunden signalisieren: Wir sparen mit Schwarzwaldmilch an den Kosten und verringern weder die Füllmenge, noch erhöhen wir den Preis. Dem Vernehmen nach verlief die Aktion erfolgreich. Allerdings war und ist die Maßnahme nicht frei von Risiken, denn die Verbraucher sind längst an Convenience-Verpackungen gewöhnt und fragen sie auch in Zeiten des Megatrends Nachhaltigkeit nach.

Auf Nachfrage der LP teilt Moritz Collmar, Leitung Marketing und Business Development bei Schwarzwaldmilch, mit: „Es handelt sich um einen Aktions-/Postenartikel für den Lebensmitteleinzelhandel. Dessen Kostenstruktur wird unter anderem durch die Einfachheit der Verpackung – kein Drehverschluss, einfarbig – ermöglicht, ohne dass hier Abstriche bei der Qualität oder dem Auszahlungspreis gemacht werden. Als Beitrag in besonderen Zeiten ist die Preisstellung gegenüber dem Endverbraucher nur gemeinsam mit dem Lebensmitteleinzelhandel möglich.“ Gleichzeitig biete der Artikel Schwarzwaldmilch und Kaufland selbstverständlich Einblicke, wie etwa der Verzicht auf den Drehverschluss angenommen werde. Weder in Neckarsulm noch in Freiburg wollten die Verantwortlichen über die ersten Erkenntnisse der Aktion sprechen. Erstaunlicherweise kommunizieren Hersteller und Händler nur über den Preis mit dem Verbraucher. Sicher, in Zeiten der Inflation leidet die Kaufkraft, aber warum wurden seitens Kaufland und Schwarzwaldmilch keine Nachhaltigkeitsaspekte ins Feld geführt? Diese sind nämlich beträchtlich.

Ohne Drehverschluss kein Marktstandard
Doch der Reihe nach: „Deine Milch“ aus dem Breisgau ist ohne Drehverschluss eine Verpackung unter derzeitigem Marktstandard. Könnte dieser Rückbau der Verpackung einen Trend auslösen, der im „Weniger statt mehr“ bei der Verpackung endet? Reiner Graul ist einer der Convenience-Experten im Land, er schränkt ein: Ohne die genauen Hintergründe dieser Aktion zu kennen, sei es schwer, eine Einschätzung zu geben. Losgelöst vom aktuellen Fall würde der geschäftsführende Gesellschafter der Bormann & Gordon Unternehmensberatung unter dem Strich einen negativen Saldo bei den Shopperaktionen, sprich einen Umsatzrückgang, erwarten: „Ich gehe davon aus, dass man von einem leichten Preisvorteil nicht profitieren kann und der Aspekt der Nachhaltigkeitsverbesserung zu klein ist, um den Nachteil einer weniger convenienten Verpackung auszugleichen.“ Er ergänzt: „Mir ist durchaus bewusst, dass diese Packung nicht für den To-go-Konsum gedacht ist, bei dem die C-Faktoren noch wichtiger sind. Aber auch bei einer ausschließlichen Verwendung der Verpackung im Haushalt sind mit dem Verschluss Vorteile verbunden, auf die niemand verzichten will.“ Kein Kleckern beim Anfassen, Drücken oder Ausgießen der Kartonverpackung sowie ein Plus bei Hygiene und Sauberkeit seien bedeutende Vorteile einer convenienten Milchverpackung. Sind Convenience und Nachhaltigkeit aus der Sicht des Experten Gegenspieler? „Die Liste der Beispiele, bei denen die Befragten aus Gründen der sozialen Erwünschtheit des nachhaltigen Einkaufs diese Ideale gerne verbal höher halten, als sie dies anschließend beim Griff ins Regal bestätigen, kenne ich. Nachhaltigkeit ist wichtig und als Trend unbedingt zu berücksichtigen“, so Graul. Im konkreten Schwarzwaldmilch-Beispiel stellt er sich jedoch die Frage, ob mit dieser kleinen Maßnahme ein deutlicher Impact in der Nachhaltigkeitswahrnehmung zu erwarten sei. Er betont: „Müsste dann nicht ein größeres Rad gedreht werden, um tatsächlich einen großen Schritt in diese Richtung zu unternehmen?“

Geoffrey Hildbrand ist Brand and Innovation Strategist bei Popular Packaging und Co-Founder des Future Pack Labs. Der Verpackungsexperte findet die Kaufland-Aktion von Schwarzwaldmilch spannend. Dass die „Kauf-Geschichte“ im Vordergrund steht und nicht die Nachhaltigkeit, das sieht auch er als nicht markenfähig. Wie Graul sucht auch Hildbrand die größere Strategie hinter dieser Verpackungsentscheidung – etwa eine Ausdehnung auf die gesamte Linie bei Schwarzwaldmilch, eine komplett neue Markenvision. Der Innovationsstratege sieht in der Verpackungsreduktion auf das Wesentliche eine gute Tat, aus welchem Motiv heraus auch immer. Er ist davon überzeugt, dass sich keine Molkereimarke über einen Convenience-Aspekt wie den Wiederverschluss im Markt differenzieren könne. Der sei schließlich bei allen gleich. „Wenn das Produkt fliegt, könnte dieser Standard infrage gestellt werden“, lautet die Folgerung Hildbrands.

Ökologisch bestechende Entscheidung
Die Vorteile des Verpackungsrückbaus sind signifikant. Ein Wiederverschluss kostet im Schnitt 0,08 Cent pro Einheit, je nach Ausstattung. Hinzu kommt eine verbesserte Stapelfähigkeit und damit eine optimierte Palettenauslastung, beides sind positive Effekte für das Handling in der Logistik. Besonders hervorzuheben ist die verbesserte Recyclingfähigkeit. Diese zahlt direkt auf Nachhaltigkeitsziele von Marke und Handel ein. Julian Thielen, Head of „Made for Recycling“ bei Interseroh, bestätigt: Noch gibt es keine ausreichenden Recyclingkapazitäten für Getränkekartons mit Caps. Die Verschlüsse sowie die Alu- und PE-Bestandteile des Getränkekartons gehen größtenteils in die thermische Verwertung, im Klartext: werden verbrannt. Zumeist übrigens in der Zementindustrie. Der Wettbewerb hat die Aktion von Schwarzwaldmilch und Kaufland aufmerksam beobachtet. Ein Branchenkenner, der nicht genannt werden will, stellt fest: „Interessant wäre zu wissen, ob hier am Ende nicht explodierende Kosten und die deutlich knapperen Verpackungsverfügbarkeiten am Markt eine Ursache waren, gepaart mit dem Gedanken, aus der Not noch eine Tugend zu machen.“ Sollte sich „Deine Milch“ gut aus dem Regal gedreht haben, stellt sich diese Frage nicht mehr. Dann gibt es bald Nachahmer im Markt, weil sich das Kaufverhalten geändert hat und das Geld der Verbraucher nicht mehr so locker sitzt.

EU-Richtlinie geht gegen Einwegverpackungen vor

Der Vorschlag für die EU-Verpackungsrichtlinie ist veröffentlicht. Wie immer ist der Aufschrei bei Handel, Industrie und Verpackungsherstellern groß. Der Entwurf der EU-Kommission fordert bis 2040 eine Verringerung der Verpackungsabfälle um 15 Prozent im Vergleich zu 2018 und die vollständige Recyclingfähigkeit aller in der EU zum Verkauf angebotenen Verpackungen. Die Ziele sollen verbindlich für den EU-Raum gelten.

Beim E-Commerce-Versand soll die Ver‧packung künftig nicht mehr als 40 Prozent des gesamten Pakets ausmachen dürfen, betonte EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius bei der Vorstellung der Richtlinie. Einwegfolien für Obst und Gemüse sowie Einwegbehälter für Lebensmittel und Getränke, die in Bars und Restaurants konsumiert werden können, möchte die Kommission gar ganz verbieten. In Europa stammen derzeit nach Angaben des Verbandes der Europäischen Recyclingindustrie nur annähernd 13 Prozent der Verpackungsmaterialien aus der Wiederverwertung. Es gebe also einen sehr großen Spielraum, um die Zirkularität der Materialien zu verbessern, die verwendet würden, um alltägliche Produkte herzustellen, betont Verbandssprecher Emmanuel Katrakis. Die neue Regelung soll bis 2040 zu einem 37-prozentigen Abfallrückgang in der Europäischen Union führen. Der Entwurf sieht zudem eine Rechtsangleichung im Binnenmarkt vor, um zu einer Harmonisierung der Nachhaltigkeitsvorschriften in den EU-Staaten zu kommen. Unter an‧derem sollen Kennzeichnungspflichten vereinheitlicht werden. Aktuell fallen pro Kopf in der EU 177 Kilogramm Verpackungsabfall im Jahr an.
Die Kreislaufwirtschaft soll durch den neuen EU-Entwurf Fahrt aufnehmen.