Teure Arbeit Warum die Branche nichts von mehr Mindestlohn hält

Hintergrund

Von 2026 an soll der Mindestlohn auf 15 Euro steigen. Während Gewerkschaften jubeln, gehen Vertreter der Ernährungswirtschaft auf die Barrikaden. Ein Stimmungsbild.

Freitag, 04. April 2025, 05:30 Uhr
Hedda Thielking
Teure Arbeit – warum die Branche nichts von mehr Mindestlohn hält
Bildquelle: Getty Images

Friedrich Merz muss zurzeit etliche milliardenschwere Kröten schlucken, möchte er eine schwarz-rote Regierung bilden. Eine davon ist der Mindestlohn, der auf Druck der SPD zum 1. Januar 2026 von 12,82 Euro auf 15 Euro steigen soll. Ein sattes Plus von 17 Prozent, diktiert von der Politik – vorbei an der unabhängigen Mindestlohnkommission. Sie ist ein Gremium aus Vertretern der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sowie beratenden Wissenschaftlern, das alle zwei Jahre über die Anpassung des Mindestlohns entscheidet. Normalerweise. Doch schon im Jahr 2022 hatte die damalige Ampelkoalition den Mindestlohn per Gesetz auf 12 Euro angehoben. Jetzt prescht die Politik wieder vor und verweist diesmal auf eine EU-Mindestlohn-Richtlinie. Diese empfiehlt, den Mindestlohn auf 60 Prozent des Medianeinkommens zu setzen (s. Grafik).

Dass die Gewerkschaften jetzt jubeln, ist klar. „Jeder zusätzliche Cent Mindestlohn führt jährlich zu einem Plus von rund 20 Millionen Euro bei der Kaufkraft“, teilt Stefan Körzell, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), mit.

Skepsis auf breiter Linie

Dagegen schlagen Vertreter der Ernährungswirtschaft Alarm. So auch die Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG). Hauptgeschäftsführerin Stefanie Sabet: „Seit 2015 ist der Mindestlohn um 51 Prozent gestiegen – stärker als die Verbraucherpreise. Diese Erhöhung setzt Betriebe massiv unter Druck und ist in der aktuellen Wirtschaftslage weder durch die nachlaufende Tariflohnentwicklung noch die aktuelle Wirtschaftslage gerechtfertigt. Mehr Einkommen und Kaufkraft können nicht durch einen weiteren Inflationsschub erreicht werden, vielmehr braucht es eine Beitrags- und Abgabenentlastung aller Einkommen.“ Der Handelsverband Deutschland (HDE) wettert ebenfalls gegen die Pläne von Schwarz-Rot: Der Mittelstand wäre stark belastet, die Kaufkraft würde sich schlimmstenfalls verringern (s. Kasten „3 Fragen an“).

Auch Christoph Schröder, Senior Researcher für Einkommenspolitik, Arbeitszeiten und -kosten beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW), kritisiert die Pläne von Union und SPD: „Die Mindestlohnkommission sollte unabhängig entscheiden. Es ist wichtig, die Tarifautonomie zu bewahren. Viele Tariflohngruppen, vor allem in Niedriglohnbereichen, drohen durch den politischen Beschluss verdrängt zu werden.“ Es bestehe deshalb die Gefahr, dass Arbeitgeber in den unteren Lohngruppen gar keine Tarifverträge mehr abschließen. Und mit jeder Mindestlohnerhöhung nehme der Druck auf das gesamte Lohngefüge zu, besonders wenn die Lohnuntergrenze (wieder) überproportional durch „äußere Eingriffe“ steigt. „Das kann Unmut in der Belegschaft hervorrufen und erhöht den Druck, die Löhne in qualifizierteren Bereichen noch stärker anzuheben“, so der IW-Wirtschaftsexperte.Wichtig sei zudem, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht verkürzen. Schließlich komme es auf den Lohn pro Monat an. Und eine kürzere Arbeitszeit könnte wiederum eine Arbeitsverdichtung zur Folge haben.

André Diegmann, Forscher beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), gibt zu bedenken: „Die Lohndifferenzen zwischen Mindestlohn und tatsächlicher Lohnzahlung für Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung sollten hinreichend groß sein. In Berufen mit geringen Differenzen zwischen Mindestlohn und tatsächlicher Lohnzahlung könnte es in Zukunft dazu kommen, dass Auszubildende sich für eine Berufsausbildung in anderen Berufen entscheiden.“ Das kann dem Lebensmitteleinzelhandel, der ohnehin sehr häufig Mühe hat, überhaupt Auszubildende zu finden, zusätzlich zu schaffen machen.

Einfluss auf die Beschäftigung?

Christoph Schröder (IW) erwartet, dass der höhere Mindestlohn die Beschäftigungslage verändern wird. Es sei möglich, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter entlassen, dass Arbeitnehmer sich selbstständig machen oder dass sie 
zu größeren Unternehmen wechseln, die höhere Mindestlöhne zahlen können.

Das sieht Dr. Johannes Seebauer, Arbeitsmarktökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), anders: „Nach derzeitiger Studienlage hatte der Mindestlohn bisher keine signifikant negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung. Veränderungen betrafen vor allem Minijobs, die teilweise verschwanden oder die Arbeitgeber in sozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt haben. Zudem verlagerte sich die Beschäftigung von weniger produktiven zu produktiveren Unternehmen. Das könnte sich künftig fortsetzen.“ Und er sagt weiter: „Wenn wir über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen sprechen, bedeutet das nicht, dass jeder einzelne Betrieb den Mindestlohn problemlos zahlen kann. Allerdings ermöglicht es anderen wettbewerbsfähigeren Unternehmen, die Arbeitnehmer aufzunehmen, die von weniger wettbewerbsfähigen Betrieben freigesetzt werden. Aus ökonomischer Sicht kann es produktivitätssteigernd sein, wenn nicht wettbewerbsfähige Unternehmen vom Markt verschwinden. Für den einzelnen Unternehmer ist das jedoch natürlich kein positiver Effekt.“

Höhere Lohnkosten

Genau das befürchtet Dr. Friedemann Berg, Hauptgeschäftsführer beim Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks: „Die steigenden Lohnkosten infolge einer Mindestlohnanhebung könnten die Existenz vieler kleiner und mittlerer Handwerksbäckereien bedrohen und zu Filial- und Betriebsschließungen führen. Damit wären nicht nur Arbeitsplätze gefährdet, sondern auch die grundlegende regionale und dezentrale Versorgung der Bevölkerung mit Backwaren.“ Zudem bedeute die Erhöhung des Mindestlohns für das personalintensive Bäckerhandwerk eine massive Kostensteigerung, denn eine Anpassung der untersten Gehaltsstufe führe unweigerlich zu Anpassungen in den anderen Lohngruppen, um die Lohnabstände zwischen Ungelernten und Gelernten zu wahren. Dies führe wiederum zu einer Verzerrung des Wettbewerbs mit den Produkten der Backwarenindustrie, die mit weniger Personal produzieren kann. „Wir fordern dringend, von der Mindestlohnerhöhung Abstand zu nehmen, wenigstens aber den Zeitpunkt bis mindestens 2028 zu verschieben“, betont Dr. Friedemann Berg.

Noch höhere Personalkosten könnten zudem dazu führen, dass Unternehmen ihre Arbeitsprozesse stärker mechanisieren, was wiederum Arbeitsplätze gefährden könnte.

Verlässlichkeit gefährdet

Auch die deutsche Landwirtschaft würde die neue Mindestlohnregelung hart treffen. So ist beispielsweise der Obst- und Gemüsebau auf europäische Saisonarbeitskräfte angewiesen. Hans-Jörg Friedrich, Geschäftsführer der Pfalzmarkt eG, erläutert: „Die Saisonarbeitskräfte sind meist nur wenige Wochen im Jahr in Deutschland und erhalten auf vielen unserer Betriebe sogar Kost und Logis. Von den hohen Lebenshaltungskosten in Deutschland sind sie so gut wie gar nicht betroffen. Wenn die geplante Mindestlohnerhöhung auch uneingeschränkt für Saisonarbeitskräfte aus dem europäischen Ausland gilt, bedroht das die Existenz der heimischen Landwirtschaft.“

Ein weiteres Dilemma: „In der Praxis setzen sich viele Saisonarbeitskräfte ein bestimmtes Verdienstziel. Ist dieser Betrag erreicht, reisen sie teilweise von heute auf morgen und weit vor der früher üblichen maximalen Drei-Monats-Einsatzzeit ab. Für alle Pfalzmarkt-Erzeuger ist es deswegen bereits seit der letzten Mindestlohnanhebung eine riesige Herausforderung, eine wirtschaftlich tragbare und sichere Personalplanung zu gewährleisten.“ Zudem werde der Lohnkostenanteil der Erzeuger aus einem weiteren Grund nach oben getrieben: Erntespitzen sind nicht planbar. Um diese in Zeiten unzuverlässig planbarer Saisonarbeitskräfte abzufangen, müssen die Produzenten mehr Arbeitskräfte vorhalten, als sie eigentlich benötigten. „Ohne diese kostenintensive Reserve könnten wir unseren Partnern im Lebensmitteleinzelhandel nicht die verlässliche und schnelle Lieferfähigkeit gewährleisten, die uns bei Pfalzmarkt eG auszeichnet“, so der Geschäftsführer.

3 Fragen an

Steven Haarke ist HDE-Geschäftsführer 
für Arbeit, Bildung, Sozial- 
und Tarifpolitik

Wie bewerten Sie den geplanten Mindestlohn von 15 Euro?
Steven Haarke: Diesen Vorstoß der Politik lehnen wir entschieden ab! Diese Zielmarke von 15 Euro untergräbt die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission und gefährdet damit die Tarifbindung. Der Mindestlohn ist seit 2022 bereits um 30 Prozent gestiegen, hinzu kam eine für Arbeitgeber kostenintensive Ausweitung der Midijob-Grenze 2023, die auch den Einzelhandel besonders hart getroffen hat. Arbeitsplatzverluste dürften die Folge sein.

Wird sich die Kaufkraft erhöhen?
Nein. Im Gegenteil: Da die Handelsunternehmen diese enormen Kostensteigerungen auch an die Verbraucher weitergeben müssten, entsteht eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale. Dies würde schlimmstenfalls zu weniger Kaufkraft führen und die Menschen in diesen schwierigen Zeiten nur noch zusätzlich verunsichern.

Werden junge Leute lieber als Aushilfskraft arbeiten, anstelle eine vergleichsweise schlechter bezahlte Ausbildung zu machen?
Ja, diese Gefahr besteht. Wahrscheinlich würden sich viele junge Menschen dann noch deutlich häufiger für eine Aushilfstätigkeit zulasten einer nachhaltigen Berufsausbildung entscheiden. Der Ausbildungsmarkt würde so unnötig noch weiter unter Druck geraten, auch der in der Branche bestehende Fachkräftemangel würde sich in der Folge noch deutlich verschärfen. Wer früh finanzielle Verantwortung übernehmen muss, dürfte sich fortan häufiger für eine Aushilfstätigkeit entscheiden.

Deutliche Wettbewerbsnachteile

Abgesehen vom erhöhten Aufwand für die Personalverwaltung führe ein Mindestlohn von 15 Euro zu einem massiven Wettbewerbsnachteil der heimischen Erzeuger im Vergleich zu europäischen Wettbewerbern.

Marian Kopp, Geschäftsführender Vorstand der Lauffener Weingärtner eG, bestätigt: „Während südeuropäische Produzenten ihre Weine mit niedrigeren Lohnkosten anbieten können, führt eine Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland zu einem deutlichen Wettbewerbsnachteil. Kleinere und familiengeführte Weingüter, die oft bereits mit steigenden Kosten kämpfen, könnten besonders betroffen sein.“

Kritisch äußert sich auch Tina Andres, Vorstandsvorsitzende beim Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) und Geschäftsführerin der Bio-Genossenschaft Landwege in Lübeck: „Wenn der Mindestlohn noch mal stark steigt, drängt das den dienstleistungsorientierten Lebensmitteleinzelhandel aus dem Spiel.“ Deshalb fordert sie: „Bevor die Politik den Mindestlohn anhebt, muss sie Voraussetzungen schaffen: Deutsche Erzeuger können schon jetzt mit Erzeugern in Spanien oder Italien preislich nicht mithalten. Wir brauchen eine EU-weite Harmonisierung und eine Steuerpolitik, die den Menschen im Niedriglohnsektor mehr Netto vom Brutto lässt!“

Höhere Preise zu erwarten

Laut DGB zeigen aktuelle wissenschaftliche Studien, dass der Effekt des Mindestlohns auf die Preise marginal und allenfalls bei einzelnen Produkten und Dienstleistungen überhaupt im klein­stelligen Bereich messbar sei.

Dagegen prognostiziert Marian Kopp, dass der deutlich höhere Mindestlohn sehr wahrscheinlich Einfluss auf die Weinpreise im Einzelhandel und in der Gastronomie haben wird. Weine aus Deutschland würden teurer und möglicherweise weniger konkurrenzfähig im internationalen Handel. Besonders im Einstiegssegment könnte es schwierig werden, mit günstigen Importweinen mitzuhalten.

Christoph Schröder (IW) geht jedoch davon aus, dass es einen gewissen Preisdruck geben wird. Insgesamt wird die Inflationsrate dadurch nicht stark steigen, aber in Niedriglohnbranchen, wie zum Beispiel dem Gastgewerbe, könnte sie spürbar werden. Dem wollen Union und SPD mit einer geringeren Mehrwertsteuer „entgegenwirken“. Ein kostspieliges Unterfangen!

Regionale Unterschiede

Abgesehen von den geplanten Mindestlohnerhöhungen meint Peter Cornelius, Inhaber von Cornelius Wurstwaren, dass ein einheitlicher Mindestlohn für ganz Deutschland den regionalen Unterschieden nicht gerecht werde. Er sagt: „In wirtschaftlich starken Regionen wie der Metropolregion Rhein-Neckar ist der gesetzliche Mindestlohn oft weniger relevant, weil die tatsächlich gezahlten Löhne darüber liegen, um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten. In wirtschaftlich schwächeren Regionen kann er eine größere Rolle spielen.“

Auch wenn der Koalitionsvertrag noch nicht in trockenen Tüchern ist, scheint der Mindestlohn von 15 Euro sicher. Eins ist jedoch klar: Der Mindestlohn bleibt ein Dauerthema.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen
Bild öffnen
Bild öffnen