Neue Arbeitszeitmodelle Der Handel testet flexible Arbeitszeiten

Mitarbeiter fordern flexible Arbeitszeiten oder gar eine ­Vier-Tage-Woche. Denn Zeit ist die zweite Währung. Die Anforderungen an die Führungskräfte und Marktleiter steigen enorm.

Freitag, 01. Dezember 2023 - Management
von Heidrun Mittler und Hedda Thielking
Artikelbild Der Handel testet flexible Arbeitszeiten
Bildquelle: Ingo Hilger

Machen wir uns nichts vor: Flexible Arbeitszeiten sind heutzutage nicht mehr wegzudenken, auch nicht im Lebensmitteleinzelhandel. Das bekommen Händler tagtäglich zu spüren, vor allem, wenn sie auf Mitarbeitersuche sind. Wer hier nicht mit der Zeit geht, hat es als Arbeitgeber schwer. „Fakt ist: Für die Menschen spielt nicht nur das Gehalt, sondern auch die Arbeitszeitgestaltung eine immer wichtigere Rolle. Kurzum: Zeit ist eine zweite Währung geworden. Und darauf muss der Händler eine Antwort haben“, bringt es Jutta Rump auf den Punkt. Sie ist Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft in Ludwigshafen und Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) und begleitet viele Unternehmen zum Thema Arbeitszeitgestaltung.

Handlungsbedarf seitens des Arbeitgebers besteht ihrer Ansicht nach spätestens dann, wenn Mitarbeiter unzufrieden mit den Arbeitszeiten sind oder, noch schlimmer, wenn sie deshalb kündigen und zum Mitbewerber gehen. „Nur wenn ich als Arbeitgeber darauf reagiere, habe ich eine Chance, Mitarbeiter an mein Unternehmen zu binden“, appelliert sie.

Egal, welches Modell der Händler anbietet: Ob Voll-, Teil- oder Gleitzeit, ob Schichtarbeit, Vertrauensarbeitszeit, Zeitwertkonto, Vier-Tage-Woche, versetzte Arbeitszeit oder die individuellen Arbeitszeiten, als Arbeitgeber muss er immer das ganze Bild im Blick haben. Damit meint Jutta Rump: Wie sind die Rahmenbedingungen (zum Beispiel lange Öffnungszeiten, Stoßzeiten, Tage mit Hauptlieferungen, saisonale Spitzen)? Welche Arbeitszeitmodelle kann ich mir leisten? Welche sind überhaupt sinnvoll? An welcher Stelle kann ich auf die Wünsche der Mitarbeiter eingehen? Wann kann ich und wann muss ich auch mal Nein sagen? Zudem muss ich meine „Angebote“ gegenüber den Beschäftigten ausbalancieren: Wenn ich einem (sehr fordernden) Mitarbeiter alles recht mache, was mache ich mit den Kollegen? Man darf nicht den Wünschen der Mitarbeiter hinterherlaufen. In dem Moment mache ich mich erpressbar und bin nur der Gehetzte. Und was nützt das, wenn sich das Geschäftsmodell nicht mehr trägt?

Wer flexible und individuelle Arbeitszeitmodelle plant, sollte laut der Wissenschaftlerin nicht nur die Dauer der Arbeitszeit am Tag, sondern auch weitere Aspekte wie die Lage, Verteilung, Dichte und Autonomie der Arbeitszeit berücksichtigen (siehe Kasten).

Vier-Tage-Woche: Edeka Habig mit Pilotprojekt
Aktuell sorgt die Vier-Tage-Woche in der Arbeitswelt für reichlich Gesprächsstoff. Für die Professorin eine interessante Entwicklung, denn: „Früher forderten die Gewerkschaften eine 35-Stunden-Woche mit sieben Stunden pro Tag. Insbesondere die tägliche Arbeitszeit-Reduktion wurde als Errungenschaft kommuniziert. Mit der Vier-Tage-Woche bei gleicher Wochenarbeitszeit erhöht sich nun die tägliche Arbeitszeit wieder.“ Ist die Vier-Tage-Woche überhaupt ein geeignetes Modell für den Lebensmitteleinzelhandel? Jutta Rump rät Händlern, die mit diesem Modell liebäugeln, zunächst ein Pilotprojekt zu starten.

Das macht aktuell die Kaufmannsfamilie Habig. Von September bis Dezember testet sie in ihren vier Edeka-Märkten im Main-Kinzig-Kreis eine Vier-Tage-Woche. „Dafür konnten sich je zwei Vollzeitkräfte aus den vier Märkten bewerben“, berichtet Viktoria Habig (Foto), Mitglied der Geschäftsleitung, und erläutert: „Einzige Bedingung war, dass wir unser Testprojekt auf neun Stunden am Tag, also 36 Stunden pro Woche, festgesetzt haben. Vollzeitkräfte mit einer 40-Stunden-Woche mussten ihre Wochenarbeitszeit um vier Stunden reduzieren, Teilzeitkräfte gegebenenfalls auf 36 Stunden aufstocken – bei entsprechender Lohnanpassung.“ Ihre bisherige Erfahrung: Die Mitarbeiter sind mit diesem Modell sehr zufrieden. Sie sparen dadurch Zeit, Fahrtkosten und freuen sich über einen weiteren Tag zur freien Verfügung. „Nach der Testphase besprechen wir mit den Marktleitern, wie es mit der Erstellung der Dienstpläne und der Mitarbeiterleistung geklappt hat und ob wir an diesem Modell festhalten“, kündigt die Kauffrau an.

Rewe testet X-Tage-Woche
Auch in der Rewe Group ist die Flexibilisierung von Arbeitszeiten ein wichtiges Thema. In einigen Rewe-Märkten wird daher mit einem Konzept gearbeitet, das intern ­„X-Tage-Woche“ genannt wird. „Das X ist durch eine Vier oder auch durch eine Drei oder Zwei ersetzbar“, berichtet Marcus Saiger, Leiter HR-Kompetenzcenter. „Welche Anzahl von Arbeitstagen pro Woche realisiert werden kann, ist insbesondere vom Beschäftigungsumfang abhängig“, ergänzt Alina Philippen, Lead Learning & Development. „Das Ziel ist es, die persönlichen Bedürfnisse der Mitarbeitenden mit den wöchentlichen Arbeitszeiten noch stärker in Einklang zu bringen, was auch unseren Betriebsratsmitgliedern ein großes Anliegen ist“, so Anno Kremer, der als Human-Resources-Partner zwei Vertriebsgebiete zwischen Köln und Münster betreut.

Dass solche Modelle in der Praxis umsetzbar sind, bestätigt Jörg Combach. Er leitet seit 21 Jahren die Rewe-Filiale in Köln-Dellbrück, Bergisch Gladbacher Straße. Seit gut einem Jahr testet er mit seiner Belegschaft die Vier- bzw. Drei-Tage-Woche. „Man muss es einfach ausprobieren“, empfiehlt er. Eine Mitarbeiterin hat sogar ihren Einsatzplan für das komplette Jahr festgelegt. Das gibt ihr die Möglichkeit, die Arbeit und häusliche Pflege einer Angehörigen unter einen Hut zu bringen. Durch eine rollierende Planung lässt sich sicherstellen, dass Wochentage und Schichtzeiten fair im Team verteilt sind.

Was für Teilzeitbeschäftigte längst Standard war, gilt nun also ebenso für Mitarbeitende in Vollzeit – auch die stellvertretende Marktleitung hat das Modell der Vier-Tage-Woche kürzlich für sich entdeckt: „Es ist ein Geben und Nehmen“, beschreibt es Jörg Combach. In der näheren Umgebung seiner Filiale kennt er kein anderes Handelsunternehmen, das die Vier-Tage-Woche umsetzt – ganz klar ein Vorteil, wenn es um die Gewinnung neuer Kollegen geht.

Das Modell hat Grenzen
Professorin Rump kann die Diskussion um die Vier-Tage-Woche aus individueller Perspektive zwar nachvollziehen, sie findet das Modell allerdings heute (noch) schwierig und teilweise nicht umsetzbar. „In zwei Jahren werden wir wissen, ob die Vier-Tage-Woche ein kluges Modell ist“, sagt sie. Ihre Bedenken: Aus demografischer Arbeitsmarktperspektive kann dieses Modell mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz kollidieren. Hinzu kommen ökonomische Faktoren: Die meisten Menschen, die eine Vier-Tage-Woche wünschen, möchten zum Beispiel nur 36 statt 40 Stunden bei gleichem Lohn arbeiten. Damit der Arbeitgeber diese Mehrkosten ausgleichen kann, müsse das Umsatzplus immens sein. Die Konsequenzen: Die Preise ziehen an, die Inflation steigt, und die Lohn-Preis-Spirale ist nicht zu verhindern. Und wenn Mitarbeiter weniger Stunden bei entsprechender Lohnanpassung arbeiten, macht sich dies im Lohnzettel bemerkbar. Viele Beschäftigte wollen und können auf dieses Geld aber nicht verzichten. „Ein weiterer Punkt ist die Produktivität: Bei einem Neun- oder Zehn-Stunden-Tag wird die letzte Stunde überproportional anstrengend“, sagt Jutta Rump. Diese Meinung vertritt auch Viktoria Habig: „Ein paar Mitarbeiter fragten uns, ob sie ihre 40 Stunden auf vier Tage verteilen können. Das lehnen wir momentan ab, da sich bei einem Arbeitstag von mehr als neun Stunden die tägliche Pausenzeit von 45 auf 60 Minuten verlängern würde. Der Arbeitstag plus Wegezeiten wäre für die Mitarbeiter einfach zu lang.“

Zeitkonto und feste freie Tage
Edeka Habig versucht grundsätzlich, die Arbeitszeiten möglichst an die Bedürfnisse der Mitarbeiter anzupassen und ihnen eine gewisse Planungssicherheit zu geben. So werden Dienstpläne donnerstags und zwei Wochen im Voraus ausgegeben. Vollzeitkräfte haben in der Regel eine Woche Früh- und eine Woche Spätschicht im Wechsel, wobei die Schichtzeiten je nach Abteilung unterschiedlich ausfallen. Und sie haben feste freie Tage. „Das wissen die Mitarbeiter sehr zu schätzen“, so die Chefin. Des Weiteren hat die Kaufmannsfamilie das Arbeitszeit­konto eingeführt, ein Ergebnis des Programms INQA-­Coaching, an dem Edeka Habig teilgenommen hat (siehe Kasten): Mit­arbeiter können das Doppelte ihrer Wochenstunden ins Plus oder Minus gehen und bei Bedarf, wie etwa während der Schließzeiten von Schule und Kita, die Mehrstunden wieder abbauen. „Das bedarf allerdings guter und intensiver Planung seitens der Marktleiter“, räumt die Geschäftsleiterin ein. Doch bei aller Flexi­bilisierung der Arbeitszeit setzt Familie Habig auch Grenzen beziehungsweise stellt klare Regeln auf. Viktoria Habig: „Wenn die Beschäftigten Urlaub nehmen, muss es immer eine Woche am Stück sein, sonst ist das Chaos im Dienstplan zu groß.“

Immer im Blick haben

Wer flexible Arbeitszeitmodelle einführen möchte, sollte folgende Aspekte berücksichtigen:

  • Dauer: Sie beschreibt die Anzahl der Arbeits-stunden. Beispiele sind Vollzeit und Teilzeit.
  • Lage: Hier geht es darum, wann gearbeitet wird: morgens, mittags, abends oder nachts.
  • Verteilung: Die Dauer und Lage der Arbeitszeit kann unterschiedlich verteilt sein. Beispiel: Zu saisonalen Spitzen arbeitet ein Mitarbeiter bis zu 48 Stunden je Woche und reduziert im Folgemonat auf 32 Stunden. Beispiele für die Dauer und Verteilung der Arbeitszeit sind Gleitzeit, Funktionszeit, Jahresarbeitszeit, Vertrauensarbeitszeit.
  • Autonomie: Sie beschreibt eine gewisse Selbst-
bestimmtheit der Mitarbeiter. Dazu gehört die 
Vertrauensarbeitszeit.
  • Dichte: Eine Verdichtung der Arbeitszeit liegt vor, wenn zum Beispiel ein Mitarbeiter in einer Vier-Tage-Woche statt 40 Stunden nur noch 36 Stunden arbeitet und dieselbe Arbeit leisten muss.