Expertenrunde Verpackungen Leidvolle Erfahrungen

Die Verpackungsfrage ist inzwischen eine dogmatische. Es gibt fast nur noch Schwarz oder Weiß. Eine Expertenrunde diskutierte auch die vielen Grautöne und brach eine Lanze für alle Materialien.

Mittwoch, 22. November 2023 - Management
Matthias Mahr

Es war eine spannende Expertenrunde, die sich anlässlich des P360-Netzwerktreffens im Unimog-Museum in Gaggenau traf. Verpackungsfragen waren noch nie einfach, aber inzwischen sind sie äußerst komplex und auch für Insider kaum in Gänze zu verstehen. Aus der deutschen Verpackungsverordnung der 1990er-Jahre ist inzwischen ein Gesetz geworden, das deutlich in das freie Spiel der Kräfte eingreift. Mehrweg- und Einwegbefürworter kämpfen unversöhnlich gegeneinander, und bei der Materialwahl steht eine breite Front gegen Kunststoffverpackungen, weil Verpackungen aus faserbasierten Packstoffen – also Papier oder Karton – per se als die nachhaltige Wahl gelten, obwohl das so nicht zu halten ist. Nachhaltigkeitsanforderungen an Verpa­ckun­gen werden weiter in die Höhe geschraubt, Mindeststandards für das Recycling Jahr für Jahr enger gefasst, die neue Einwegkunststoffabgabe schwebt wie ein Damoklesschwert über der Branche, in Europa stellt die zur Abstimmung stehende Packaging-and-Packaging-Waste-Regulation neue Regeln auf, und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz muss von dieser Industrie ebenfalls geschultert werden. Viele Anlässe, um seitens der Lebensmittel Praxis mit Branchenvertretern aus Handel, Marken- sowie Verpackungsindustrie und Lohnherstellung zu sprechen.

Der Verbraucher entscheidet mit den Füßen
Mit Ulrike Jakobi wurde der Blick auf Verpackungsentscheidungen im Handel gelenkt. Die selbstständige Edekanerin aus dem hessischen Bensheim sagte: „Wir haben im vergangenen Jahr eine Bäckerei mit angeschlossenem Gastronomiebereich eröffnet. Wir hatten uns im Vorfeld ausgiebig mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt, da es uns äußerst wichtig ist, unseren Kunden alternative und nachhaltige Verpackungsmaterialien anbieten zu können. Unsere Wahl fiel auf Bäckertüten aus Graspapier. Als wir den Preis haben, haben wir gestaunt. Trotzdem wollten wir das Thema unbedingt umsetzen“. Was sich die Bensheimer von dieser Verpackungswahl erhofft hatten, ist letztlich nicht eingetreten: Der Kunde schätzte die Entscheidung für eine nachhaltige Tüte aus Graspapier nicht wert. „Fragen wie, ob wir den Tieren das Futter wegnehmen würden, haben uns sehr überrascht“, merkte Jakobi an. Auch bei den To-go-Bechern sind die Bensheimer vorbildlich und hoch motiviert vorausgegangen und haben sich einem recyclingfähigen Mehrwegsystem angeschlossen. „Ich bedauere sagen zu müssen, dass ein Großteil der Kunden kein Interesse dafür zeigt“, betonte sie. Nur ein kleiner Teil kauft regelmäßig „nachhaltig“ und legt großen Wert darauf. „Auch an den Bedientheken haben wir die Möglichkeit, etwa Frischkäse in umweltbewussten Becher zu verpacken. Aber es sind immer dieselben Kunden, die danach fragen“, bilanzierte die Kauffrau nüchtern. Mit der Coronakrise und der Inflation seien Nachhaltigkeitsfragen völlig in den Hintergrund getreten.

Jedes Material hat eine Berechtigung
Was ist überhaupt eine nachhaltige Verpa­ckung? Jedes Material habe seine Berechtigung für einen gezielten Anwendungszweck, betonte die Verpackungsexpertin Sonja Bähr. Die Verpackungsingenieurin ist als Packaging Analyst beim Beratungsunternehmen Tilisco eine anerkannte Größe bei Markenartiklern und in der Verpackungsindustrie. Ihr Credo lautete: „Jedes Material muss die Anforderungen erfüllen, die das Produkt stellt. Die Verpackung wird nicht hergestellt, um recycelt zu werden oder besonders umweltfreundlich zu sein, sondern um das Produkt möglichst gut zu schützen.“ Ohne Verpa­ckung gebe es keine schnelle, sichere und hygienische Versorgung mit Waren des Lebens. Um das sicherzustellen, brauche die Gesellschaft heute alle gängigen Verpackungsarten und -materialien. Die Nachhaltigkeit bei Verpackungen komme erst viel später in den Fokus. Das erscheine nur anders, weil das Thema aktuell alle besonders bewege.

„Selbstverständlich ist Kunststoff eine nachhaltige Verpackung, selbstverständlich ist Papier eine nachhaltige Verpackung. Es kommt immer darauf an, was ich als nachhaltig definiere.“ Dieser Satz von Sonja Bähr sitzt. Sei eine höhere Recyclingfähigkeit gefragt, gebe eher es ein Problem mit Verbunden und beschichteten Papieren. Eine gute Recyclingfähigkeit ist auch hier zu erreichen, aber sicherlich schwieriger zu lösen als mit einem Monomaterial aus Kunststoff, das für das Produkt einsetzbar sei. „Das ist die Diskussion, auf die wir uns einlassen müssen und die sehr am Einzelfall ausgerichtet geklärt werden muss. Das ist ein komplexes Thema mit wenigen sehr einfachen Antworten“, hob sie hervor.

Die Verpackung muss ihren Zweck erfüllen
Thomas Pfaff, Geschäftsführer bei Seufert, dem Hersteller transparenter Verpackungen aus Kunststoff, brach zunächst eine Lanze für alle Verpa­ckungsmaterialien, um aber auch unmissver­ständ­lich festzustellen: „Wenn Verpackungen heute am Markt als Alternativen angeboten werden, die erst noch beschichtet oder laminiert werden müssen, um ihren Zweck erfüllen zu können, dann frage ich mich schon, wie kann das als Ready for Recycling ausgewiesen oder als kreislauffähig angesehen werden. Viele dieser Verpackungen müssen schlussendlich einer thermischen Verwertung zugeführt werden und haben damit letztlich nicht ihren Zweck erfüllt.“

Eine Sonderstellung nahm Jörg Droese ein. Der Geschäftsführer des Lohnfertigers Variopack ist nicht nur bei Verpackungsfragen versiert, die Kernkompetenz seines Unternehmens liegt in der Herstellung und Abfüllung von Beutelverpackun­gen für Lebensmittel, Arzneimittel, Kosmetik und Haushaltshygiene. Droese weiß, was eine Verpa­ckungsumstellung unter Umständen bedeutet. Sinkende Siegelqualitäten und geringere Taktzahlen verkraftet dieses auf Kostenminimierung ausgelegte Business nicht. In Nidda stehen 130 heißsiegelfähige Verpackungsanlagen. „Wir brauchen immer ein Siegelmedium, das zu 90 Prozent aus Polyethylen ist. Wir brauchen eine Barriere, weil die abzufüllenden Produkte immer hygroskopischer werden“, betont der Variopack-Inhaber. Zwar seien Monofolien im Kommen, aber aktuell gelte es, die Produkte sicher, gut und langlebig zu verpacken. „Wenn wir an Verpackungen sparen, und die Produkte sind nur noch ein Jahr haltbar, wäre das fatal. Wenn Lebensmittel aus Haltbar­keits­gründen entsorgt werden müssen, ist der Nachhaltigkeitsaspekt hinfällig“, betonte er. Varipack habe es in der Primärverpackung mit Pulver, Flüssigkeiten und Nahrungsergänzungsmitteln sowie Brausepulver zu tun. Da komme niemand an einer guten Barriere vor­bei. Auch Variopack sei in einer Findungsphase. Für Kräuter, die wenig Barriere brauchten, verwende das Unternehmen inzwischen ein Pergamin mit einem Siegellack. Das sei eine nachhaltige Verpackung. Aber das gehe nicht mit Kosmetik, nicht bei Hustensaft und auch nicht mit Vitamin- oder Mineralpulver.

Komplexität der Anforderungen ist zu hoch
Innosan ist ein Anbieter innovativer Ohrenschutzprodukte. Geschäftsführer Kai-Jörg Schulz nutzt das Beste aus zwei Welten, wie er hervorhob. „Wir verwenden für unsere Produkte eine Kombipackung. Karton, weil wir das wunderbar in Form bringen können. Innenliegend haben wir ein kleines Döschen aus Kunststoff, das auch wiederverwendet werden kann. Die Baumusterverordnung schreibt uns den Einsatz eines wiederverwendbaren Döschens für unseren Sanohra- Ohr­­schutz vor. Die Pappe kann man wunderbar recyceln und die Kunststoffdose schön in die Tasche stecken“, betonte der Markenhersteller, der sich im komplexen Wirrwarr der Verpackungsgesetze eine Vereinheitlichung und mehr Transparenz wünscht. Lizenzentgelte müssen laut Schulz zurzeit in den Ländern der EU gesondert abgeführt werden. Weitere Ländern werden folgen und die Situation noch intransparenter machen.

Als Profiteur der momentanen politischen Lage kann der Kartonveredlungsspezialist Knapp aus Schwetzingen derzeit Kunden hinzugewinnen. „Wir stellen inzwischen viele Hauben her, die zuvor aus Kunststoff waren. Wir hatten das schon mal in den 1990er-Jahren, als Kunststoff plötzlich nicht mehr gewünscht war und wir auf Biegen und Brechen umdenken mussten“, berichtet Matthias Volkmann, der bei Knapp den Faltschachtelverkauf leitet. Knapp ist führend in der Herstellung von Blisterkarten. Bislang wurde meist eine Kunststoffhaube auf den Karton aufgesiegelt. Das sei jetzt aus Nachhaltigkeitsgründen nicht mehr gewünscht.

„Heute werden Materialien genommen, die mehr in Richtung nachhaltig gehen, wie etwa braune Materialien oder auch Recycling-Qua­li­tä­ten. Folien sind nicht mehr gewünscht. Statt das Produkt darzustellen, wird es heute auf die Verpackung aufgedruckt. Es kommt meiner Meinung nach nicht so stark zur Geltung wie in einer Blisterverpackung, bei der sich das Produkt selbst darstellt“, sagte Volkmann. Das Verpa­ckungs­ge­setz gebe Richtlinien vor, der Handel entschei­de, dass Karton eingesetzt werden muss. Volkmann fügte hinzu: Alle seien jetzt gefordert, gemeinsam mit Verpackungsmaschinenherstellern sicherzustellen, dass neue Verpackungen auch auf Vollautomaten mit Kartonhauben laufen. Die Taktzahlen müssten auch künftig den herkömmlichen Blisterver­pa­ckungen entsprechen.

Das Mantra der Nachhaltigkeit
Vom Mantra der Nachhaltigkeit sprach Seufert-Geschäftsführer Pfaff. Was 20 Jahre nicht gelun­gen sei, werde jetzt übers Knie gebrochen. Seine Erkenntnis lautete: „Die Welt ist nicht besser, wenn es keine Kunststoffverpackungen mehr gibt. Dann gibt es andere Probleme.“ Volkmann pflichtete dem bei. Es fehle an Kapazitäten und Infrastruktur, um Kunststoff auch nur ansatzweise durch Karton- oder Papierverpackungen zu ersetzen. Mit Schrecken erinnerte er sich mit seinem Kunden Innosan an die Kartonver­knap­pung im vergangenen Jahr zurück, als er seine Kunden immer wieder vertrösten musste. „Wir hatten plötzlich Lieferzeiten von einem halben Jahr. Bei uns ging es da ans Eingemachte, wenn die Lagerbestände runtergehen und erwartete Lieferungen nicht kommen“, erinnerte sich Innosan-Geschäftsführer Schulz.

Die Welt dreht sich gefühlt immer schneller, die „Unverpackt-Regalmeter“ bei Edeka Jakobi sind bereits Geschichte. Die Vielzahl der Mehrwegsysteme im Handel bleibt Selbstständigen ein Dorn im Auge. Die Kunden wollen angeblich nachhaltige Verpackungen, fragen sie aber nicht nach. Convenience ist da schon eher gewünscht und günstig ohnehin. Wenn es um Verpackung geht, sind leidvolle Erfahrungen nicht weit. Die Komplexität des Themas nervt und regt auf.

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Bild öffnen Es herrschte Einigkeit in der Runde: Die Wahl der richtigen Verpackung ist ein komplexes Unterfangen. Sonja Bähr (Tilisco), Ulrike Jakobi (Edeka Jakobi), Kai-Jörg Schulz (Innosan) und Matthias Volkmann (Knapp; v. l. n. r.) diskutierten das Für und Wider der Regulierungen im Verpackungsmarkt.