Handzettel Totgesagte leben länger

Rewe kündigt den Ausstieg vom gedruckten Handzettel zum 1. Juli 2023 an. Irrweg oder richtungsweisend? Kann das gute, alte Prospekt digital ersetzt werden?

Dienstag, 13. September 2022 - Management
Reiner Mihr, Heidrun Mittler und Matthias Mahr
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Bildquelle: Heidrun Mittler

Rewe bricht mit einer alten Handelstradition: Das Werbeprospekt hat nach Aussagen der Kölner ausgedient. Das sei eine Entscheidung für Umwelt, Klima und Energieeinsparung. Der Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland horchte auf. Umfang und Preisattraktivität der Angebote blieben gleich, heißt es in einer Mitteilung der Rewe-Zentrale. Sie sollen künftig digital beim Verbraucher ankommen. Whatsapp, das zum Meta-Konzern (Facebook) gehört, ist dabei die aktuellste Möglichkeit für Rewe-Kunden, den digitalen Handzettel kostenlos zu abonnieren. Fraglich bleibt aber, ob und wie viele Handzettel-Leser ihre Daten digital weitergeben, um auf Angebote aus Köln weiterhin zugreifen zu können.

Blicken wir zunächst zurück: Einen vergleichbaren Fall hatte es im März 2013 gegeben. Aldi Süd war aus der Werbung in Tageszeitungen ausgestiegen und meldete sich im Oktober 2014 mit mehr Printwerbung als je zuvor zurück. Die Kundenfrequenz war deutlich zurückgegangen. Aldi Süd hat gelernt. Heute heißt es auf Nachfrage seitens des Discounters: „Wir engagieren uns bereits verstärkt im Bereich des digitalen Handzettels, sei es auf der Webseite, in der Kunden-App oder auf den bekannten Prospektportalen. Gleichzeitig erwarten viele Kunden gerade in der aktuellen Zeit gezielt die Prospekt-Zustellung, um sich zu informieren, wo sie die günstigsten Lebensmittel in bester Qualität kaufen können. Wir verwenden für den Handzettel ausschließlich FSC-zertifiziertes Papier, das wir zusätzlich mit dem Blauen Engel kennzeichnen.“

Schmerzhafte Erfahrungen
Prof. Dr. Carsten Kortum von der Dualen Hochschule in Baden-Württemberg sieht den Handzettel nicht als obsolet an. Nur 30 Prozent der Kunden würden hierzulande von den Handelskonzernen mit Digital-Angeboten erreicht. Der Handzettel sei Impuls und Aktion, von ihm lebten die Frequenz und Promotions auf der Fläche, sagt er.

Hans-Richard Schneeweiß, Sprecher der Geschäftsführung Edeka Hessenring, pflichtet dem im LP-Gespräch bei: „Wir haben unfreiwillig selbst schmerzhafte Erfahrungen gemacht“, erläutert er. Als die Corona-Pandemie im März/April 2020 den gesamten Handel durcheinanderwirbelte, habe er aufgrund logistischer Probleme zwei Wochen lang die Verteilung der Handzettel eingestellt. Und auch keine alternativen Werbemaßnahmen durchgeführt. „Das war lehrreich und schmerzhaft“, so sein Resümee: Die Edeka Hessenring hatte eine 15 Prozentpunkte schlechtere Entwicklung als die anderen Edeka-Regionen. Diese konnten also die Kaufwut im beginnenden Corona-Hype voll ausnutzen, Hessenring nicht. Doch es geht Schneeweiß, der zum Jahresende in den Ruhestand geht, noch um etwas anderes: Wer nicht über den Handzettel wirbt, verliert in der Wahrnehmung des Kunden, „das dauert gar nicht lange“.

Altmodisch und doch gefragt
Blicken wir über den deutschen Tellerrand: Eine Studie von Nielsen in den USA zeigt, dass der altmodische Handzettel im Briefkasten für Einzelhändler immer noch die beste Wahl ist. Laut dieser Studie ziehen 80 Prozent der US-Haushalte bei Kaufentscheidungen für Lebensmittel gedruckte Werberundschreiben den digitalen vor. Die Verbraucher neigen dazu, Handzettel zu Hause zu lesen, um zu planen, was sie kaufen und wo sie es kaufen. Dennoch: Dieses Verhalten entwickelt sich weiter. Untersuchungen ergaben, dass die Einlösungsquoten für Papiercoupons zwischen 2015 und 2016 um zehn Prozent zurückgingen, während digitale Coupons, die direkt auf ein Treuekonto geladen wurden, im gleichen Zeitraum um 20 Prozent stiegen.

Anders Großbritannien: Der britische LEH verzichtet mehr und mehr auf gedruckte Handzettel als Direktwerbung. Kamen früher Handzettel von Tesco, Sainsbury und Co. mehrmals wöchentlich in den Briefkästen der Haushalte an, so setzt der Handel im Königreich heute vorrangig auf digitale Werbeträger.

Auch in Spanien läuft die Diskussion: Für Discounter Día ist das Verteilen von Werbung so teuer geworden, dass er Angebote auf Papier nur noch im Laden auslegt. „Das ist natürlich gut für die Umwelt, aber es geht mehr darum, dass digital die Wirkung von Werbung viel besser kontrolliert werden kann“, sagt Handelsexperte Pablo Contreras von der EAE Business School in Madrid. Kleinere Supermärkte wie Plusfresc, aber auch Lidl Spanien böten inzwischen auch ein digitales Kassenticket an, um Papier zu sparen. Die mit Abstand größte spanische Kette Mercadona verzichtet komplett auf Angebote und damit auf Handzettel. 

Keine Streuverluste mehr
In Schweden ist Umbruch angesagt: Von Supermärkten und Baumärkten werden nach wie vor wöchentlich mehrseitige Prospekte verteilt. Aber digital nimmt zu. Schwedens größter Händler ICA verteilt wöchentliche Angebote per Mail an seine Bonusprogramm-Teilnehmer. Was Digitalisierung bedeutet, erlebte unsere LP-Korrespondentin hautnah: Als ihr Sohn sechs Monate alt war, bekam die Familie eine Postwurfsendung mit „Välling“, einem dünnen Brei, der früher selbst aus Mehl und Wasser angerührt wurde und heute in Schweden als Instant-Produkt meist die erste Beikost ist. Woher wussten die Hersteller Nestlé und Semper wohl das Alter des Kindes? Im Whatsapp-Zeitalter gehören Streuverluste der Vergangenheit an.