Mehrwegquote Es rumort

Eine im Verpackungsgesetz festgelegte Schonfrist für Einweg-Verpackungen ist abgelaufen. Wenn sich die neue Regierung nicht blamieren will, muss sie mit Zwang die Mehrwegquote erhöhen. Das ist Sprengstoff für den Discount. Kommt die Quote für den Handel?

Freitag, 25. Februar 2022 - Management
Tobias Dünnebacke
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Am 24. November 2021 wartete eine ganze Heerschar von Interessenvertretern und Journalisten gespannt auf den Koalitionsvertrag der Parteien der neunten Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Lobbyisten des Lebensmittel-Einzelhandels und der Konsumgüterbranche dürften den Vertrag eilig durchforstet haben. Doch was bei der ersten Lektüre folgen musste, war Ernüchterung. Bei den großen Themen wie Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft blieb der Vertrag auffallend schmallippig. Sätze wie „Wir fördern die Kreislaufwirtschaft als effektiven Klima- und Ressourcenschutz“ sind eher Gemeinplätze und nichts Neues. Dass der Vertrag in diesem Punkt vage ist, sollte jedoch nicht als Vorsicht oder Untätigkeit der neuen Regierung interpretiert werden. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Kreislaufwirtschaft spielt in vielen Industriezweigen eine Rolle, aber kaum eine Branche ist so sehr damit verknüpft wie die Getränkeindustrie und der Lebensmittel-Einzelhandel. Und beide müssen sich zunehmend rechtfertigen, denn trotz des 2003 vom damaligen Umweltminister Jürgen Trittin eingeführten Einwegpfandes lieben die Deutschen Bier, Mineralwasser und Limonaden aus Dosen und Einwegplastikflaschen. Nach aktuellen Zahlen des Umweltbundesamtes stagniert die Mehrwegquote für Getränkeverpackungen bei 41,8 Prozent. Und das muss sich ändern, wenn sich die teilweise grüne Bundesregierung nicht blamieren will.

Wie diszipliniert man die Branche?
Bereits die Große Koalition hatte sich selbst im Verpackungsgesetz von 2019 eine Hausaufgabe gestellt: Sollte binnen drei Jahren die Mehrwegquote bei Getränken nicht die erwünschten 70 Prozent erreicht haben, sollen „weitgehende rechtliche Maßnahmen zur Förderung von Mehrweggetränkeverpackungen entwickelt werden“. Dieser Anspruch dürfte durch eine Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) nicht kleiner geworden sein. Im Gegenteil: Im politischen Berlin war der eine oder andere höchst verwundert über die Personalie Lemke. Sie galt als zu radikal und zu links für ein Ministeramt. Darüber hinaus gilt Bettina Hoffmann, Parlamentarische Staatssekretärin beim BMUV, als ausgewiesene Expertin für Kreislaufwirtschaft. Dass das Thema Mehrwegquote eine weitere Legislatur auf der To-do-Liste bleibt, ist also eher unwahrscheinlich. Auch wegen des Drucks von Umweltverbänden. „Im Handel gibt es unnötig viel Einweg, zu viel Plastik, zu viel Müll“, sagte unlängst die Vize-Bundesgeschäftsführerin der Umwelthilfe, Barbara Metz. Das Prinzip freiwilliger Müllvermeidung im Handel sei gescheitert. Notwendig seien gesetzliche Vorgaben, um den Verpackungsmüll bis 2025 zu halbieren. Metz forderte außerdem eine zusätzliche Abgabe von mindestens 20 Cent auf Einwegplastikflaschen, Dosen und Getränkekartons. „Einwegverpackungsmüll zu produzieren, muss teurer werden und darf sich nicht lohnen.“

Man könnte solche Forderungen, die nicht neu sind, als die Holzhammer-Methode bezeichnen, denn die Realität sieht oft anders aus. Sind Einweggetränkeverpackungen wirklich in allen Szenarien die schlechtere Alternative für Umwelt und Klima? Ist die Bezeichnung Müll für rückgeführte Wertstoffe noch zeitgemäß? Was würde es für das Transportaufkommen bedeuten, wenn auf einmal signifikant mehr Lastwagen mit schweren und platzintensiven Mehrwegkisten durch Deutschland rollen, und ist ein Zwang für den Handel, eine bestimmte Quote an Mehrwegflaschen anzubieten, rechtlich überhaupt möglich?

Um diese und weitere Fragen zu beantworten, wurde das Hamburger Institut Ökopol („Institut für Ökologie und Politik“) vom Umweltbundesamt mit einer Analyse beauftragt. Ein aktuelles Zwischenfazit der Gutachter bietet einigen Sprengstoff für den Lebensmittel-Einzelhandel sowie Hersteller von Einwegverpackungen und Getränkeabfüller. Die Juristen des Instituts kommen unter anderem zu dem Ergebnis, dass eine verbindliche Angebotspflicht von 30 bis 50 Prozent Mehrwegflaschen „voraussichtlich mit EU-Recht sowie mit dem deutschen Verfassungsrecht vereinbar ist“. Während Vollsortimenter wie Edeka und Rewe über die nötigen Rücknahmesysteme und Lagerkapazität verfügen, um diese Quote zu erfüllen, wäre eine solche gesetzliche Vorgabe eine enorme Herausforderung für Discounter wie Aldi und Lidl, die bisher aus logistischen und finanziellen Gründen zu 100 Prozent auf Einweg setzen und über keine Mehrweginfrastruktur verfügen.

Eine weitere Maßnahme, die in dem Ökopol-Papier diskutiert wird, ist eine Strafsteuer, die die Abfüller betreffen würde: Eine Quote von 30 Prozent Einweg bliebe demnach steuerfrei, danach würden die Brauereien, Mineralbrunnen und Limoproduzenten, die ohnehin schon stark unter Margendruck stehen, für jede Einwegflasche draufzahlen.

Um den Markt mehr in Richtung Mehrweg zu drängen, wird außerdem ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent statt 19 Prozent für Mehrwegverpackungen vorgeschlagen. Das Gerolsteiner-Wasser oder die Coca-Cola in einer Glasflasche könnten dann günstiger verkauft werden.

Zu viel Verpackungsmaterial
Die Auswirkungen einer höheren Mehrwegquote sind unter Wissenschaftlern und Branchenvertretern höchst umstritten. Zwar gibt es weltweit wohl kein besser funktionierendes Rücknahmesystem für Einwegverpackungen als in Deutschland, mit Rücklaufquoten von bis zu 99 Prozent. Das Problem ist, dass sich das Material, also Plastik oder Aluminium, nach Rückgabe zu häufig in eine „Downcycling-Spirale“ begibt. Soll heißen: Wirkliche Kreisläufe, bei denen aus alten Dosen oder Plastikflaschen neue Gebinde werden, sind noch die Ausnahme. Die Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung (GVM) in Mainz hat in einer Modellrechnung herausgefunden, dass mit einer Mehrwegquote von 70 Prozent bis zu 600 Kilotonnen Getränkeverpackungen eingespart werden könnten. Der Plastikverbrauch würde signifikant um 34 Prozent reduziert. Damit folgt die Quote der Logik der europäischen Abfallhierarchie, die besagt: Vermeiden von Abfällen kommt an erster Stelle. Allerdings weist die GVM auch auf die Probleme hin. „Die Getränkepreise, die der Einzelhandel für Eigenmarken in Einwegverpackungen aufruft, können im Mehrwegsystem nicht dargestellt werden“, heißt es in einem GVM-Papier. Der Endverbraucher, der durch die aktuelle Inflation ohnehin schon tiefer in die Tasche greifen muss, würde also draufzahlen.

Industrie sieht sich am Pranger
Vertreter der Einwegindustrie reagieren regelrecht geschockt auf das Ökopol-Papier. „So etwas Realitätsfremdes habe ich in meinen 30 Jahren, in denen ich mich mit dem Problemfeld ‚Mehrweg vs. Einweg‘ beschäftigen muss, noch nie gelesen“, sagt beispielsweise der Unternehmensberater Wolfgang Hinkel. Hinkel hat viele Jahre als Geschäftsführer bei dem Dosenproduzenten Schmalbach-Lubeca/Ball Packaging (heute Ardagh Group) gearbeitet. Nachdem seine Branche nach Einführung des Dosenpfandes brachlag, hat sich der Absatz in den vergangenen Jahren stabilisiert. Für viele Handelsmanager überraschend hat die Getränkedose ein bemerkenswertes Comeback hingelegt. Trotz Pfand. Für Hinkel ist die Aluminium-Getränkedose keine Verpackung der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Leicht und platzsparend zu transportieren und mit viel Potenzial bei den Materialeigenschaften. Auch ein geschlossener Kreislauf sei technisch möglich. Das gute Image von Mehrweg in der Öffentlichkeit kann Hinkel nicht nachvollziehen: „Eine gesetzlich erzwungene Mehrwegquote von 70 Prozent bedeutet 37 Prozent mehr Lkw auf deutschen Straßen, 2.850 mehr Fahrten pro Tag und 400.000 Tonnen CO2 mehr pro Jahr. Schon heute führt der Individualisierungsgrad zu einem so hohen Transportaufkommen, dass man Mehrweg nicht pauschal als besonders ökologisch bezeichnen kann“, so Hinkel, der sich für einen Erhalt der bestehenden Mehrweg- und Einwegsysteme ohne Quote einsetzt.

Discounter rechtfertigen sich
Nicht weniger engagiert äußern sich auch die Discounter, wohl wissend, dass ein Gesetz für eine verbindliche Mehrwegquote einen hohen Investitionsaufwand bedeutet. Die Händler wollen ihr Einwegmodell in ein gutes Licht rücken. Die Schwarz-Gruppe habe bereits seit 2010 einen Wertstoffkreislauf für bepfandete PET-Einwegflaschen aufgebaut. Sammlung, Recycling, Herstellung neuer Flaschen, Befüllung und Vertrieb liegen in der Hand von Deutschlands zweitgrößtem Lebensmittel-Einzelhändler. Der Recyclinganteil erreicht mittlerweile 100 Prozent. „Das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg kommt zu dem Schluss, dass die Ökobilanz von optimierten PET-Einweggetränkeflaschen mit Pfand in vielen Fällen ebenbürtig zu marktüblichen Mehrwegsystemen ist“, erklärt ein Sprecher von Lidl gegenüber der Lebensmittel Praxis. Kann man bei einem solchen System überhaupt noch von Einweg sprechen? Auch Aldi scheint nicht viel von einer gesetzlichen Mehrwegquote für den Handel zu halten. „Einweg-PET-Flaschen haben sich unter Umweltgesichtspunkten deutlich verbessert. Sie sind durch das flächendeckend funktionierende Rückgabesystem im Handel längst keine ‚Wegwerfverpackungen‘ mehr, sondern Wertstoffe“, erklärt Aldi-Süd-Sprecherin Berit Kunze-Hullmann gegenüber diesem Magazin. Dabei hat der Discounter immer wieder mit Mehrweg geliebäugelt. Wohl wissend, dass das politische Klima und die öffentliche Debatte Veränderungen erfordern. Regionale Testballons wurden Ende 2020 nach kurzer Zeit von Aldi Süd wieder eingestellt. Der Discounter war mit der Rücknahme der Mehrwegkisten schlicht überfordert.

„Das sind faule Ausreden“
Für Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) sind das faule Ausreden. „Natürlich kann der Discount Mehrweg abwickeln. Das zeigen doch Netto und Penny, die eine ähnliche Lagerkapazität haben wie Aldi“, so der Kreislaufexperte. Während Fischer den Harddiscounter Lidl bei der Rücknahmetechnik gut für ein Szenario der Mehrwegpflicht aufgestellt sieht, müsse Aldi eben Geld in die Hand nehmen und in neue Automaten investieren. Anders als Vertreter der Einwegindustrie oder des Handels ist Fischer von der Notwendigkeit einer höheren Mehrwegquote fest überzeugt.

Bei den Maßnahmen hält die DUH eine sogenannte Lenkungsabgabe auf Einweggebinde für das stärkste Instrument. „Mit den eingenommenen Mitteln könnte man regionale Mehrwegkreisläufe gezielt fördern. Anders als bei einer Steuer würde das Geld nicht irgendwo im Haushalt versacken.“ Angesprochen auf eine Mehrweg-Angebotsquote für den Handel gibt Fischer zu bedenken, dass diese schrittweise eingeführt werden sollte. „Man kann die Quote zum Beispiel bei den Softdrinks nicht von einem Tag auf den anderen von 20 auf 70 Prozent hochziehen. Das würde die Marktakteure überfordern“, so der Experte von der DUH. Am Ende sollte aber die gesetzliche Zielquote von 70 Prozent Mehrweg zwingend erreicht werden. „Miniquoten, wie sie in Österreich beschlossen wurden, werden nicht unsere Zustimmung bekommen.“

Zweifel an der ökologischen Sinnhaftigkeit von Mehrweg lässt Fischer nicht zu und pariert jeden Einwand. Drohender Verkehrskollaps? Blanker Unsinn, schließlich wurden in den 1990er-Jahren mehr als 80 Prozent Mehrweg verkauft, ohne die Straßen zu verstopfen. Der hohe Anteil von Mehrwegindividualflaschen im Markt? Hier würde die Branche schon längst gegensteuern. Dose? Viel zu energieaufwendig. Zu 100 Prozent recycelte Plastikflaschen? Ein Showprodukt der Einwegindustrie, um ihr Geschäftsmodell zu retten. Egal auf welches Instrument Berlin setzen wird, um Einwegverpackungen einzudämmen, Fischer ist sich sicher: „Einwegplastik und Dosen sind komplett verzichtbar.“

Welche Zukunft hat Aluminium für die Branche?

Getränkedosen sind bei Handel, Industrie und Verbrauchern wegen ihrer Eigenschaften beliebt und bei Umweltschützern verpönt. Besonders der Bauxit-Abbau in Südamerika sowie der energiefressende Herstellungsprozess und die Tatsache, dass verwendete Getränkedosen zwar über das Pfandsystem zurückgeführt werden, danach aber in der Regel eine „Downcycling-Spirale“ durchlaufen, stoßen auf Kritik. Aluminium verarbeitende Unternehmen wie Speira und Dosenhersteller wie die Ardagh-Gruppe bemühen sich um eine Neuausrichtung. So steht bei Speira in Neuss eine neue Anlage, die den Wertstoff Aluminium aus alten Dosen zurückgewinnt. Von einem flächendeckenden Dose-zu-Dose-Kreislauf ist man aber noch weit entfernt.