Trend 2022 Vorsichtiger Optimismus

Auch im vergangenen Jahr hat ein Virus die Geschäfte im Einzelhandel maßgebend beeinflusst. Gerade im Lebensmitteleinzelhandel nicht nur zum Nachteil – auch wenn das kein Grund zur Freude sein dürfte. Der Blick auf das Kommende fällt diesmal besonders schwer. Die – leider negativen – Einflüsse nehmen zu.

Donnerstag, 13. Januar 2022 - Management
Reiner Mihr
Artikelbild Vorsichtiger Optimismus
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Systemrelevant – kaum einer spricht noch drüber. Aber für den Lebensmittelhandel dürfte diese Systemrelevanz ein unschätzbares, wenn auch berechtigtes Privileg sein, wenn man die Geschäftsentwicklungen und -perspektiven anderer Branchen betrachtet. Laut Statistischem Bundesamt hat der Einzelhandelsumsatz mit Lebensmitteln im zurückliegenden Jahr in den meisten Monaten deutlich zugelegt, nur im April, August und Oktober gab es spürbare Rückgänge. Der Lebensmitteleinzelhandel erlebte im ersten Corona-Jahr 2020 einen Boom, die Zahlen für 2021 liegen konkret noch nicht vor, dürften aber etwas weniger euphorisch sein.

Umso spannender die eigene Einschätzung der Lebensmittelhändler zum Verlauf des letzten und vorletzten Jahres sowie der Ausblick auf 2022. Wie in jedem Jahr lässt die Lebensmittel Praxis das Marktforschungsunternehmen Nielsen nach der Einschätzung und Stimmung im Lebensmittelhandel fragen. Bei der Befragung 2020 war denn auch die Bewertung des Jahres ausgesprochen gut – alles andere hätte auch verwundert. Aber, vorsichtig wie Kaufleute sind, war die Einschätzung damals für 2021 durchaus verhalten. Dass es noch besser werde, erwarteten damals nicht ein Drittel der Befragten.

Gegen Ende des Jahres 2021 – hat sich das nicht bestätigt. Des Kaufmanns Lied ist eben immer noch eher die Klage als der Jubel. Die Gesamtsituation des Lebensmittelhandels wird nach den Ergebnissen der Nielsen-Befragung insgesamt von 18 Prozent der Befragten als wesentlich verbessert und von 41 Prozent als etwas verbessert eingeschätzt. Der Rest bleibt verhaltener, drei Prozent sprechen gar von einer deutlich verschlechterten Lage. Unterschiede ergeben sich zwischen Selbstständigen, Filialleitern und Einkäufern in den Zentralen. Am positivsten bewerten die Einkäufer aus den Zentralen den Verlauf des Jahres 2021. Hier kommt sicher der eher allgemeine Blick auf die Entwicklung als eine Einzel-Standortbetrachtung zum Zuge.

Getrübte Stimmung
Beim Wagnis einer Prognose für 2022 verändert sich das Bild deutlich. Kein Wunder: Die nationale und globale Lage hat sich zuletzt auch eher verschlechtert denn verbessert. Die Pandemie hat Deutschland, Europa und die Welt weiter im Griff, die Lage an den Rohstoffmärkten eskaliert, die Lieferketten sind empfindlich gestört. Kein Wunder, dass da auch die Voraussage für eine geschäftliche Entwicklung 2022 verhaltener ausfällt. Mehr als ein Drittel der Befragten erwartet im kommenden Jahr eine Verschlechterung für den Lebensmittelhandel. Diese Einschätzung herrscht gerade bei den selbstständigen Einzelhändlern besonders vor. Dennoch gibt es ein anderes Drittel Befragte, die eine leichte bis wesentliche Verbesserung auch 2022 erwarten. Der LP-Index, der sich aus dem Verhältnis von addierten positiven zu negativen Erwartungen ergibt, sinkt folgerichtig von 28,5 auf 24.

Preise, Preise, Preise
Ein großes Thema wird 2022 die Preisentwicklung im Lebensmittelsektor werden. Dazu ist die Forderung des neuen Bundeslandwirtschaftsministers („Özdemir fordert höhere Lebensmittelpreise“) gar nicht nötig. Zu groß sind die Probleme auf der Lieferantenseite mit Schwierigkeiten in der landwirtschaftlichen Produktion bis zur Problematik der gestörten Lieferketten. Damit ist es kein Wunder, dass über alle Gruppen hinweg die deutliche Mehrheit der Befragten steigende Lebensmittelpreise erwartet. Vor allem Einkäufer rechnen zu 95 Prozent mit steigenden Preisen. Dabei erwarten mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) eine generelle Preiserhöhung bei Lebensmitteln bis vier Prozent, der Rest aber deutlich höher. Es gibt sogar einen Teil der Befragten, der von Preiserhöhungen von über zehn Prozent ausgeht.

Im November 2021 betrug die Preissteigerung in Deutschland – getrieben durch die Energiekosten – laut Statistischem Bundesamt 5,2 Prozent, für Nahrungsmittel lag sie bei 4,5 Prozent. Beruhigung nicht in Sicht. Auch dies färbt auf die Beurteilung der gesamten weiteren Entwicklung klar ab.

Hoffnungsschimmer
Die erwähnten und intensiv diskutierten Schwierigkeiten in den globalen Lieferketten unterstützen dabei einen Trend, der schon länger vorangeht: Regionales, ja sogar Lokales. 74 Prozent der befragten Lebensmittelhändler setzen auf Produkte von lokalen Erzeugern, erst danach kommen die „üblichen Verdächtigen“ wie Frische und Bio. Aber auch attraktive Aktionen oder begrenzt verfügbare Artikel (Saison) sind genauso Hoffnungsträger wie „echte“ Händlermarken oder selbst im Markt hergestellte Erzeugnisse. Und – ebenfalls häufig genannt: Viele Befragte setzen auf Online-Bestellungen. In Zeiten einer Pandemie, Einkaufseinschränkungen, verunsicherten Verbrauchern und einem Ausbau von Abholstationen kein schlechter Gedanke.

„Verlierer“ bei den Hoffnungsträgern der Händler sind Zweitplatzierungen, gastronomische Angebote und Thekensortimente. Die letzteren beiden sind in Zeiten von Kontaktbeschränkungen durch eine Pandemie nachvollziehbar.

Der Fokus auf regionale Vermarktung und Positionierung findet sich auch in der Liste derjenigen Themen, die vermutlich im gerade begonnenen Jahr die Situation im Lebensmittelhandel mit am meisten beeinflussen. Hier steht selbstverständlich die nicht wegzudenkende Nachhaltigkeit ganz vorne. Viele Gedanken der Befragten drehen sich um Wettbewerbsfragen. Der Preiskampf, aber auch das Erstarken der Discounter ist Thema im schärfer werdenden Wettbewerb.

Die äußeren Faktoren, die das Geschäft 2022 voraussichtlich maßgebend beeinflussen werden, sind nach Ansicht der Befragten: Klimaschutz, CO2-Besteuerung oder Fahreinschränkungen, gefolgt von der Digitalisierung im Handel und Kennzeichnungsfragen wie dem Nutri-Score. Natürlich bleiben auch der Online-Verkauf frischer Lebensmittel, Verpackungsfragen, Verbraucherschutz, Nachwuchs- und Personalgewinnung sowie Corona-Schutzmaßnahmen auf der Agenda.

Welches sind nun die Sortimente, auf die Lebensmittel-Einzelhändler 2022 setzen? Von einer Zunahme der Umsatzentwicklung gehen die befragen Händler (nachvollziehbar nach den bisherigen Ergebnissen) bei regionalen und lokalen Erzeugnissen aus. Gleiches gilt für Bioprodukte, vegetarisch/vegane Sortimente oder Obst und Gemüse. Natürlich bleibt die Frische im Fokus der Lebensmittelkaufleute. Und dazu zählt natürlich auch die Tiefkühlkost.

Verlierer im Sortiment
Im Umkehrschluss finden sich Warengruppen, die schon länger, aber auch in der aktuellen Zeitperiode wenig populär sind. Tabakwaren und Zigaretten gehören schon lange zu den scheinbar ungeliebteren Sortimenten, die aber dennoch gute Umsätze bringen.

Dies gilt vergleichbar auch für das Sortiment der alkoholischen Getränke. So zeigt zum Beispiel die Positionierung von Bier – einem der beliebtesten Lockvögel im deutschen Supermarkt – die eher bescheidene Image-Arbeit dieser Branche. Dass Fleisch, Wurst und Geflügel auf den „Spitzenplätzen“ der Negativ-Rangfolge landen, wundert hingegen angesichts der angeheizten Diskussion um Tierwohl, Eiweiß-Alternativen und vegetarisch/vegane Artikel weniger – an der Bedeutung dieses Sortiments für das Profil des Supermarkt ändert das kaum etwas.

Immerhin wollen die befragten Kaufleute auch anders am Profil arbeiten, nämlich durch vermehrte Werbung und Kommunikation. Dieser Punkt steht ganz oben auf der Liste von kommenden Investitionen. Es folgt natürlich generell die Modernisierung, Investitionen in Technik und Einrichtung. Auf dem Vormarsch sind Investitionen in digitale Anwendungen wie beispielsweise Einkaufs- oder Bewertungs-Apps. Bei der Expansion sind die Befragten allerdings vorsichtig. Und: Ein Ausbau der Theken bzw. Bedienungsangebote steht bei den meisten nicht oben auf der Agenda.

Zur Methode
Im Auftrag der Lebensmittel Praxis haben die Marktforscher von Nielsen vom 8. bis 25. November 2021 selbstständige Kaufleute,
Filialleiter und Substitute sowie Zentraleinkäufer im Lebensmittelhandel – auch in den Regionen – telefonisch (Cati-Methode) befragt. Die Stichprobe lag bei 300, die sich zu je 40 Prozent auf Selbstständige und Marktmanager bezog, zu 20 Prozent auf den Einkauf.
37 Prozent der Befragten waren weiblich.
Der größere Teil der Befragten kommt aus Kleinstädten gefolgt von Großstädten und Land/Dorf.