Initiative Standort Deutschland Nichts ist verloren – warum es Grund für Optimismus gibt

Hintergrund

Es gibt Grund für Zuversicht. Was trotz Putin, Trump und der Bürokratie für einen Aufschwung in der Branche spricht. Und was die Politik dazu beisteuern muss.

Freitag, 09. Mai 2025, 05:40 Uhr
Hendrik Varnholt
Warum die Stimmung schlechter ist als die Lage – und was das für den Lebensmittelhandel bedeutet
Sparen die Deutschen zu viel? – Die Sparquote im Vergleich
Bildquelle: Rainer Stenzel (mit Unterstützung von KI)

Wenn irgendwo in Deutschland Ausnahmezustand herrschte, gelangte die Nachricht von der Notlage jahrzehntelang über das Berliner Telegrafenamt zu den Entscheidern des Landes. Im April 2025 hat ein Verfassungsrichter am selben Ort eine Botschaft für die Verantwortlichen der Lebensmittelbranche: Die Gesellschaft sei „in ihren Grundfesten erschüttert“, sagt Heinrich Amade­us Wolff bei der Jahrestagung des Lebensmittelverbands.

Der Richter spricht im längst zum Hotel umgebauten Telegrafenamt, wie dort einst die Fernschreiber Sätze auf Papierstreifen hämmerten: Wolff überschlägt sich, verschluckt einzelne Worte, so wichtig ist es ihm offensichtlich, zum Kern seiner Botschaft von der gegenwärtigen Notlage zu kommen. „Die Zeit ist ungewiss“, sagt er. „Wer behauptet, zu wissen, wie es weitergeht, ist entweder nicht ernst zu nehmen oder ein Genie.“ Die versammelte deutsche Lebensmittelwirtschaft hat da längst die Gespräche mit den Sitznachbarn eingestellt. Einige nicken.

Es herrscht Ausnahmezustand in der Gesellschaft, in der Gesamtwirtschaft – und in der Lebensmittelbranche. Die Laune der Unternehmer und ihrer Kunden liegt seit Jahren schon unter der Nulllinie. Und was wirklich dramatisch ist: Zucken die von Marktforschern gezeichneten Stimmungskurven nach oben, folgt verlässlich ein Rückschlag: Nach der Pandemie ließ Putin in die Ukraine einmarschieren, dann wählten die Amerikaner einen unberechenbaren Präsidenten, der schließlich mit seinem Zollwahn noch viele Prognosen übertraf. Die Trübsal im Land gerät gefährlich: Sie verstärkt sich von selbst, sie nimmt dem besten Unternehmer schleichend den Mut. Und vor allem: Sie ist in ihrem Ausmaß weit übertrieben. Die Lage ist besser als die Laune.

Konsumieren hilft

Denn auch das belegen die Kurven der Marktforscher eindrücklich: Seit vier Jahren mindestens schätzen sowohl Lebensmittelhändler als auch -hersteller ihre Zukunftsaussichten um Längen schlechter ein als die aktuelle Situation (siehe Grafiken unten). Als im Herbst 2022 der Pessimismus in der Lebensmittelwirtschaft ein historisches Ausmaß erreichte, folgten im Gegensatz zu den Selbstprognosen eher Stagnation und zeitweise sogar Verbesserungen der tatsächlichen Lage. In vielen anderen Branchen liegen die Kurven für Geschäftslage und -erwartungen näher beieinander. Das erstaunt, immerhin haben die Konsumgüterhändler und -hersteller vergleichsweise gute Aussichten in einer Welt, die sich deglobalisiert: Allen Exporten zum Trotz leben die meisten ihrer Kunden im Inland – ganz anders als die Abnehmer deutscher Maschinen- oder Automobilbauer etwa.

 

Erwartungen im Lebensmittelhandel zur GeschäftslageErwartungen der Hersteller zur Geschäftslage

* Saldowerte – oberhalb null liegen Umfrageergebnisse mit überwiegend positiven Beurteilungen, unterhalb null Umfrageergebnisse mit überwiegend negativen Beurteilungen

Quelle: Bundesbank/Statistisches Bundesamt

 

Manche Wirtschaftsforscher bauen denn auch auf die Konsumgüterhändler und -hersteller: Die Hans-Böckler-Stiftung etwa sagt eine „binnenwirtschaftlich getriebene Trendwende“ voraus. Das Konsumklima werde sich „mit der abnehmenden wirtschaftspolitischen Unsicherheit aufhellen“. „Kaufzurückhaltung schwindet – Konsum steigt“, prognostiziert die Böckler-Stiftung. Dazu trügen „moderat steigende Realeinkommen“ bei.

Die gewerkschaftsnahe Organisation ist schon qua Amt von der positiven Wirkung steigender Löhne überzeugt. Manche anderen Forschungsinstitute blicken entsprechend weniger euphorisch auf die Entwicklung des Konsums. Trotzdem: Die Ausgaben der Verbraucher in Deutschland können praktisch nur steigen – es fragt sich allenfalls, wann. Den Deutschen fehlt im Durchschnitt nämlich nicht das Geld zum Konsumieren, sondern die Lust darauf. Das zeigt die erstaunlich hohe Sparquote: Im vergangenen Jahr legten die Verbraucher in Deutschland 11,4 Prozent ihres verfügbaren Einkommens zurück. Lässt man die Corona-Zeit, in der die Menschen quasi zum Sparen gezwungen waren, außen vor, ist die Sparquote damit so hoch wie seit Mitte der 1990er-Jahre nicht mehr. Im vergangenen Jahr sind zwar die Reallöhne – also die um die Inflation bereinigten Gehälter – wieder auf das Niveau von 2017 angestiegen. Die Menschen gaben den Zusatzverdienst aber nicht aus.

Dabei wird es nicht bleiben – zumal die Konsumenten im Moment einer Täuschung unterliegen. Laut einer Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft schätzen sie die Inflationsrate des vergangenen Jahres im Durchschnitt auf 15,3 Prozent. In Wirklichkeit lag die Teuerung insgesamt nur noch bei 2,2 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen um lediglich 1,9 Prozent. Die Inflation hat sich also normalisiert. Nachrichten, die die Laune steigern könnten, aber dringen momentan offenbar genauso wenig zu den Verbrauchern wie zu den Unternehmensverantwortlichen durch: Der GfK-Konsumklimaindex ist nach wie vor tiefrot.

Fehlt nur noch: eine gute Politik

Wäre die Lage umgekehrt, würden Analysten vor einer Blase warnen. Auf Dauer schließlich trägt keine Illusion – auch keine schlechte. Das Verbesserungspotenzial ist also groß. Damit es frei wird, braucht es allerdings eine gute Politik. Die neue Bundesregierung muss außenpolitische Unsicherheit mit Verlässlichkeit im Inneren kontern. Die geplanten Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung müssen so schnell wie möglich fließen. Weil sich wieder das Gefühl einstellen muss, dass es vorangeht im Land: dass, schlicht gesprochen, auf der Pendlerstrecke nicht mehr die bröckelnde Brücke den Verkehr lahmlegt. Um die Trübsal zu überwinden, braucht es sichtbare Zeichen der Besserung.

Zumal die Schwermut zu den verhängnisvollsten Leiden des Landes gehört. Sie zu überwinden ist wichtiger denn je, weil positive Impulse aus dem Ausland einstweilen kaum zu erwarten sind. Der Binnenmarkt zählt. Amerikas Protektionismus, aber auch Chinas erfolgreiche Strategie, technologisch zu den westlichen Industrieländern aufzuschließen, machen Exportwachstum auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.

 

Die Verbraucher sparen statt zu konsumieren

Die Verbraucher sparen, statt zu konsumieren

Einem Großteil der Menschen in Deutschland fehlt nicht das Geld, um zu kaufen – sondern die Lust. Offensichtlich aus Zukunftsangst legen die Konsumenten so viel Geld zurück wie – mit Ausnahme der Corona-Zeit – seit den 1990er-Jahren nicht mehr.

Quelle: Bundesbank/Statistisches Bundesamt

 

Deutschland muss fraglos noch mehr Schwierigkeiten überwinden. Im Zentrum der Standortprobleme stehen die Energiepreise: Ihr plötzlicher Anstieg im Zuge des Ukraine-Kriegs hatte den entscheidenden Anteil an der überbordenden Inflation in den Jahren 2022 und 2023, ist damit Auslöser für die anhaltende Mutlosigkeit – und macht die Herstellung vieler Produkte in Deutschland tatsächlich unwirtschaftlich.

Das hat längst auch die Akzeptanz für die Energiewende untergraben: Laut einer Umfrage der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie forderten vor der Bundestagswahl 
85 Prozent der Verantwortlichen aus der Lebensmittelindustrie, die künftige Regierung müsse „die Ausgestaltung der Energiewende überdenken“. Der Ukraine-Krieg allein sorgt aber nicht für Deutschlands Energiekostenproblem: Auch Entscheidungen wie der überhastete Ausstieg aus der Kernenergie sind der Grund, weshalb Strom in Deutschland für viele Industrieunternehmen so teuer ist wie praktisch nirgendwo sonst in Europa.

 

Preise für Strom und Gas (Erzeugerpreisindex)

Die Kosten bleiben hoch

Strom und Gas sind heute viel günstiger als kurz nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs 2022 – aber noch immer weit teurer als in den Jahren zuvor. Die Branche belasten zudem hohe Preise für Lebensmittelrohstoffe und die deutlich gestiegenen durchschnittlichen Gehälter.

Quelle: Statistisches Bundesamt

 

Dem nun entgegenzuwirken, ist schwierig, aber nicht unmöglich. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag Verbesserungen versprochen. Wichtig ist auch, dass sie die Unternehmen der Lebensmittelbranche vor Konkurrenten aus dem Ausland schützt, die keine oder geringere Preise für den von ihnen verursachten CO2-Ausstoß zahlen.

Zudem hemmt die Bürokratie das Wachstum. Deren Auswüchse bezeichneten rund ein Fünftel der kleinen und mittleren Lebensmittelhersteller in einer Umfrage jüngst als existenzgefährdend. So gut wie jeder Verantwortliche aus der Branche hat Absurdes über Gesetze und Behörden zu berichten. Allein die neu geschaffenen Pflichten, über allerlei Facetten von Nachhaltigkeit zu berichten, haben einen Großteil der Unternehmen gezwungen, eigens Mitarbeiter einzustellen. Die Arbeitsproduktivität, also die Wirtschaftsleistung je Arbeitsstunde, ist in Deutschland im vergangenen Jahr spürbar zurückgegangen. Daran hat der steigende Bürokratieaufwand offensichtlich einen Anteil.

15 Euro, die helfen

Im wichtigsten Ranking der Wirtschaftsstandorte ist Deutschland denn auch nach unten gerutscht. Dessen Verfasser, Wissenschaftler des Schweizer International Institute for Management Development, sortieren die Bundesrepublik nur noch auf Platz 24 ein – und halten das Land damit sogar für weniger attraktiv als Staaten, in denen archaische Rechtsnormen Frauen unter die Vormundschaft ihrer Männer stellen oder die zuweilen unter Raketenbeschuss stehen. Über das Ranking lässt sich streiten. Unabhängig davon zeigt es, wie internationale Investoren Deutschland wahrnehmen: als Land, dessen Behörden zunehmend ineffizient arbeiten und dessen Infrastruktur bröckelt.

Dabei darf es nicht bleiben. Die Strukturprobleme drängen. Das Gute aber ist: Die Politik verspricht heute überzeugendere Antworten als noch vor Kurzem. Develey-Chef Michael Durach etwa lobt im Gespräch mit der Lebensmittel Praxis, dass der schwarz-rote Koalitionsvertrag „Abschreibungen vorsieht, die Investitionen belohnen“. Auch die in der Wirtschaft unbeliebte Erhöhung des Mindestlohns dürfte positive Wirkung auf die Konsumgüterindustrie haben– so sieht es jedenfalls der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher. Er hat sich wiederholt für die im Koalitionsvertrag vorgesehene Erhöhung auf 15 Euro ausgesprochen – auch weil dies für mehr Konsum sorge.

 

Zwischentief in Zahlen

Die deutsche Wirtschaft hat nach wie vor eine herausragende Bedeutung. Deutschlands Einwohner erwirtschaften in Summe das drittgrößte Bruttoinlandsprodukt aller Länder der Welt. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist unter den großen Industriestaaten nur in den USA höher. Vor allem in den 2010er Jahren baute Deutschland seinen Vorsprung zu vielen Ländern noch aus – und wuchs zuweilen auch schneller als die Vereinigten Staaten. Anders als andere Länder hat Deutschland aber die Schwierigkeiten, die die Corona-Pandemie auslöste, nicht vollständig überwunden. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Ukraine-Krieg. Dieser verteuerte die Energie in Deutschland besonders stark und stürzte Unternehmen und Konsumenten in Unsicherheit. Volkswirtschaften aber passen sich an – und erholen sich von externen Schocks, sofern die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft.

 

Es ist nichts verloren – für die Lebensmittelbranche schon gar nicht. Allem Pessimismus zum Trotz veranschaulichen Indikatoren, was noch im Standort Deutschland steckt. Vollsortimenter wie Edeka und Rewe haben im vergangenen Jahr Marktanteile von den Discountern zurückgewonnen, wie die LP jüngst auf der Basis einer Studie von Nielsen-IQ-Tradedimensions gezeigt hat. Handelsmanager wie Globus-Chef Matthias Bruch berichten, dass das Interesse an Premiumprodukten steigt. Viele Unternehmen der Konsumgüterindustrie investieren – und treiben damit den Umbau zu einer Wirtschaft, die an neue Standortbedingungen angepasst ist, voran. Und dafür gibt es nicht allein anekdotische Belege: Laut einer im Februar veröffentlichten Umfrage der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie wollen in den nächsten zwei bis drei Jahren 59 Prozent der Branchenunternehmen ihre Ausgaben für Investitionen – inflationsbereinigt – erhöhen oder „etwa gleichbleibend fortsetzen“.

Die Lebensmittelbranche bekennt sich zum Standort Deutschland – auch in der aktuellen Ausgabe der LP. Frosta-Vorstand Hinnerk Ehlers zum Beispiel sagt: „Wir zahlen hier gerne unsere Steuern.“ Und auch im Berliner Hotel Telegrafenamt geht so etwas wie eine positive Botschaft ein: Verfassungsrichter Wolff rühmt vor den Verantwortlichen der Lebensmittelbranche die „permanente Selbstkritik“ im Land. Sie unterscheide demokratische Staaten von Diktaturen – die ihre chronischen Probleme verdrängten.

 

Lesen Sie hier, wie die Entscheider aus Handel und Industrie über den Standort Deutschland urteilen.

Bilder zum Artikel

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