Rettergut Die Problemlöser

Nebenströme aus Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie in den Kreislauf zurückzuführen und als hochwertige Produkte anzubieten – das ist zugleich Ziel und der Zweck von Rettergut.

Montag, 04. Oktober 2021 - Strategie
Bettina Röttig
Bildquelle: Dörrwerk

Chargentrennmasse. Was unverdaulich und nach einer physischen Barriere klingt, ist tatsächlich der Himmel auf Erden für Naschkatzen. Wird in der Schokoladenproduktion von einer Sorte auf die nächste umgestellt, werden die Anlagen nicht mit Wasser gereinigt. Stattdessen werden sie mit reiner Schokolade „gespült“. So entstehen bei jedem Wechsel von Vollmilch- auf Zartbitter-Schokolade und zur nächsten Sorte enorme Mengen an gemischter Schokolade von unvermindert hoher Qualität, die jedoch nicht klar zu definieren ist. So wird sie nicht im Handel vermarktet, im schlimmsten Fall sogar entsorgt.

Philipp Prechtner und sein Zwillingsbruder Stefan haben sich des Problems angenommen und unter der Marke Rettergut die „Mixschokolade“ zurück in den Kreislauf gebracht. Der Rettung von Lebensmitteln haben sich die Brüder bereits verschrieben, als sie bei dem 2015 gegründeten Start-up Dörrwerk einstiegen, das aus Obst mit optischen Makeln „Fruchtpapier“ und andere Snacks herstellt. Heute leiten die Brüder das Unternehmen und starteten im Oktober 2019 mit der Marke Rettergut. „Wir haben uns in den vergangenen Jahren ein großes Netzwerk und viel Know-how erarbeitet. Nicht nur sind wir auf weitere Nebenströme aus der Nahrungsmittelproduktion aufmerksam geworden, uns wurden auch aktiv immer mehr Waren angeboten“, sagt Philipp Prechtner. Unter dem Namen Dörrwerk hätte es nicht funktioniert, gerettete Schokolade oder andere Produkte anzubieten, erklärt er den Launch der Marke Rettergut. Nach der Mixschokolade kamen Bio-Suppen und Bio-Aufstriche, Pasta, Getränke, Pestos und in diesen Tagen Tortilla-Crisps, Dips und Duschseifen hinzu – die ersten Rettergut-Drogeriewaren.

Mehr als 20 unterschiedliche Artikel umfasst das Sortiment mittlerweile, berichtet Prechtner stolz. „Wir könnten 100 Produkte in zig Kategorien anbieten, so viele Anfragen aus Landwirtschaft und Industrie haben wir mittlerweile. Wir dürfen aber nicht am Handel vorbeientwickeln und Gefahr laufen, dass Produkte entstehen, die nicht gekauft und dann doch entsorgt werden“, betont er.

Das 15-köpfige Team um die Brüder ist darauf spezialisiert, „ums Eck“ zu denken und mit den Partnerunternehmen Lösungen zu finden, die deren Produktion effizienter machen und es ermöglichen, ungenutzte Lebensmittel zurückzuführen in den Kreislauf und hochwertig zu verkaufen.

Der Handel habe sich hellauf begeistert gezeigt von dem Konzept. Die Schokoladen sind bereits in rund 5.000 Outlets erhältlich. „Auch wenn wir bei den Händlern mit der Idee offene Türen eingerannt sind, müssen wir nun beweisen, dass die Rotation stimmt und die Produkte am PoS performen“, so Prechtner. So hat das Unternehmen gerade die Optik der Produkte überarbeitet. Sie sollen lauter daherkommen. Auch die Kommunikation sei ein wichtiger Knackpunkt. Der Benefit der Produkte muss am Regal leicht erfassbar und auch den Mitarbeitern im Handel bekannt sein.

„Wir werden häufig mit dem Vorurteil konfrontiert, dass wir Billigware teuer verkaufen.“ Damit will Prechtner aufräumen. „Lebensmittelrettung ist teuer. Wir müssen um die Ecke denken, um neue Verarbeitungswege und Produktinnovationen zu entwickeln. Es dauert länger und kostet mehr, wenn krummes Gemüse geschält und geschnitten wird, auch sind die Verarbeitungsmengen für Rettergut-Produkte weitaus geringer als die der großen Industriemarken“, zählt er auf. Vor allem jedoch zahle das Unternehmen faire Preise für die Rohwaren.

Oft gingen Lebensmittel wegen Banalitäten für die Nahrungsmittelproduktion verloren. „Wenn Erbsen zu viel Hitze abbekommen, entwickeln sie dunkle Stellen. Oft kommen sie dann nicht mal für die weiterverarbeitende Industrie infrage, da sie zu Farbabweichungen des Endprodukts führen würden, sprich: Das Grün der Erbsensuppe wäre nicht leuchtend genug“, nennt der gebürtige Regensburger ein weiteres Beispiel.

Wo sind Grenzen?
Für die Rettergut-Glasware kauft das Start-up Gemüse mit Makeln oder Produktionsüberschüsse von Landwirten und Aussortierbetrieben und lässt die Suppen, Aufstriche, Pestos und Dips bei namhaften Produzenten herstellen. Die Tafelung der Mix-Schokolade erfolgt direkt beim Hersteller. Die Rettergut-Pasta-Produkte entstehen aus den Resten der Spaghetti-Produktion beim Produzenten. Beim Kürzen der Nudeln auf die gleiche Länge bleiben kurze Abschnitte übrig, die nur mit großem Aufwand wieder in die Spaghetti-Produktion zurückgeführt werden könnten. Stattdessen werden sie zu kurzen Fusilli gedreht.

Für die neuen festen Duschseifen werden Kaffeesatz und Orangenschalen als Reste aus der Saftproduktion in Spanien verwendet.

Eine besondere Zusammenarbeit entstand mit Bierbrauer Brewdog. Beide Start-ups sind unmittelbare Nachbarn in Berlin. Gemeinsam haben sie aus Brot vom Vortag von heimischen Bäckern und geretteten Marillen „Planet A“ entwickelt. Das New England Indian Pale Ale kam als Limited Edition auf den Markt und ist bereits ausgetrunken.

Grenzen in der Produktentwicklung gibt es dort, wo es noch an Prozessen fehlt. Pestos aus Möhrengrün wären interessant, dieses zu sammeln und zu konservieren jedoch aktuell nicht machbar - noch nicht. Herausforderungen bringen auch die strengen Regeln zur Deklaration mit sich. Ändert sich eine Charge, muss die Verpackung geändert werden.