Bezahlung im Handel Streitthema: Wie viel verdient ein Mitarbeiter?

Es rumort im Handel: Die Tarifverträge müssen neu verhandelt werden, die Frage nach dem Mindestlohn ist weiter offen. Eine Bestandsaufnahme

Donnerstag, 18. April 2013 - Management
Heidrun Mittler
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Bankangestellte/r: 2.603* (Bildquelle: Shutterstock)
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Beim Geld hört die Freundschaft auf. Das musste Irina L. lernen: Sie hat jeden Werktag Brötchen geschmiert, von morgens 5 bis 9 Uhr, für einen Stundenlohn von nicht einmal 5 Euro. Ihre Chefin, Betreiberin eines Backshops, hat ihr gestattet, täglich genau einen Kaffee zu trinken, ein belegtes Brötchen hingegen war nicht mehr vorgesehen. Die junge Frau hat diesen Job geschmissen, sich aber insgesamt verbessert: Irina putzt jetzt in einem Privathaushalt. Sie verdient unter dem Strich kaum weniger, weil sie knapp doppelt so viel pro Stunde bekommt und zudem die Fahrkosten spart. Dabei kann Irina ihren Lohn brutto für netto behalten, weil sie im Rahmen eines 450-Euro-Jobs arbeitet.

Bei manchen fest angestellten Mitarbeitern im Lebensmittelhandel sieht die Abrechnung genauso mager aus: Etwa, wenn sie nach der Ausbildung zwar übernommen werden, aber nur in Teilzeit. Kai Scholand, selbstständiger Rewe-Einzelhändler in Mülheim und Essen, gerät bei diesem Thema in Rage: „Es ist unseriös, einem 20-jährigen Menschen anzubieten, dass er nur 30 Stunden pro Woche arbeiten soll.“ Denn dann kann er oder sie sich weder den Führerschein noch ein Auto leisten. Diese Nachwuchskräfte sind auf finanzielle Unterstützung der Eltern oder von Freunden angewiesen sind, argumentiert er. Oder aber, die jungen Einzelhändler fahren abends noch Pizza aus oder gehen im Zweitjob kellnern.

Allzu oft wird ein solcher „Teilzeit-Job wider Willen“ als Druckmittel genutzt: Dem Mitarbeiter wird in Aussicht gestellt, dass er bald auf Vollzeit aufgestockt werde, wenn er sich nur richtig ins Zeug lege. Wenn man das Gehalt dann durch die tatsächlich geleistete Zeit dividiert, ist der Stundenlohn beklagenswert.

Kai Scholand ist übrigens einer der wenigen selbstständigen Arbeitgeber, die sich namentlich zu diesem Punkt äußern. Viele möchten ihren Namen beim Thema „gerechte Bezahlung“ lieber nicht in der Zeitschrift lesen. Dabei kennen sie die Problematik durchaus, wissen, dass manche ihrer Mitarbeiter nicht von dem Geld leben können, das sie ihnen zahlen. Aber: Höhere Personalkosten mindern den Gewinn, man kann auch sagen: kratzen an der eigenen Geldbörse.

Spätestens an diesem Punkt der Argumentation wird der Ruf nach einem Mindestlohn laut. Discounter Lidl hat den Weg bereits publikumswirksam beschritten: Seit September 2012, so kann man auf der Lidl-Homepage nachlesen, hat das Unternehmen einen „eigenen Mindestlohn“ auf 10,50 Euro festgesetzt. Das heißt: „Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin (inklusive geringfügig Beschäftigter) in den Filialen und im Lager verdient ab 1. September 2012 nicht weniger als 10,50 Euro pro Stunde.“ Lidl betont, dass man bereits seit März 2010 einen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde vergütet.

Das aber lässt sich nicht ohne Weiteres auf den Rest der Branche übertragen, speziell auf Vertriebsformen, die mit Bedienung und Service für den Kunden punkten. So äußerst sich Rudolf Helgers, Vorstandsmitglied der Rewe Dortmund Großhandels eG: „Auf jeden Fall ist es wichtig, dass es eine faire Bezahlung gibt. Aber wir müssen aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Discounter, die acht oder zehn Leute im Laden haben, können einen Mindestlohn von 10 oder 11 Euro leicht fordern, während wir im Supermarkt 40 oder 50 Mitarbeiter beschäftigen.“


Trotz dieser Bedenken nimmt der Mindestlohn in der Branche allmählich Gestalt an: Heribert Jöris, Geschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE) und dort für Tarifpolitik zuständig, fordert einen verbindlichen tariflichen Mindestlohn. „Das wäre ein wichtiger Schritt, um Lohndumping in der Branche zu vermeiden.“

Knackpunkt Tarife: Etwa die Hälfte aller Beschäftigten im Einzelhandel arbeitet in Unternehmen, die formal tarifgebunden sind. Ein weiteres Viertel ist in Unternehmen beschäftigt, die die Anwendung des Tarifvertrags oder großer Teile davon per Arbeitsvertrag vereinbart haben, so Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (eine Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit). Das klingt erst einmal so, als wären drei Viertel aller Mitarbeiter im Einzelhandel unter Obhut der Tarife.

Allerdings hat die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in den letzten Monaten auf Missstände aufmerksam gemacht: Die Privatisierung von Märkten führe zur Entrechtung von Beschäftigten (siehe LP vom 4. Dezember 2012). Hubert Thiermeyer, Verdi Bayern, attackierte speziell die Edeka als größten Arbeitgeber. Seiner Ansicht nach sind „weniger als die Hälfte“ aller Edeka-Mitarbeiter tarifgebunden. Thiermeyer weiter: „Wir stellen bei der Privatisierung einen starken Einfluss der Konzerne auf die selbstständigen Einzelhändler fest. Dieser endet aber, wenn es um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten geht.“

Die Edeka-Zentrale wehrt sich gegen den Angriff, verweist auf ihre genossenschaftliche Struktur und dass die Privatisierung von Regiemärkten einzig dem „genossenschaftlichen Auftrag“ entspreche. Zudem sei es allen Mitarbeitern möglich, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Der Streit geht weiter: Seit Anfang März betreibt Verdi-Sekretärin Katharina Wesenick ein eigenes Projekt zur Privatisierung im Einzelhandel – nicht nur mit Blick auf Edeka.

Verdi wird in den nächsten Wochen und Monaten eine entscheidende Rolle für die Geldbörse der Einzelhändler spielen: Die Arbeitgeberverbände haben alle Entgelt- und Manteltarifverträge gekündigt. Nun müssen die Tarifpartner neu verhandeln.

Stefanie Nutzenberger, Verdi-Bundesvorstandsmitglied für den Handel, befürchtet eine „Verschlechterung der Arbeitsbedingungen von mehr als 2,7 Mio. Beschäftigten“ und setzt alles daran, in den Verhandlungen eine solche Entwicklung zu verhindern. Über die grundsätzliche Arbeit der Tarifkommissionen lesen Sie auf S. 12. Eine Stellungnahme der Arbeitgeber finden Sie im unten stehenden Kasten.

* Die Angaben beziehen sich auf das Bundesland Berlin und beschreiben die dort gu?ltigen Tarifverträge. Die Zahlen geben also an, wie viel ein Beschäftigter mindestens brutto verdient, wenn er nach Tarif bezahlt wird. Je nach Bundesland gibt es große Unterschiede, zudem muss man beachten, in welche Lohngruppe der Mitarbeiter eingruppiert wird.

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Bild öffnen Die entscheidende Frage lautet: Reicht das Einkommen wirklich
aus, um davon den Lebensunterhalt zu bestreiten? So viel verdient ein Mitarbeiter direkt nach der Ausbildung: ... (Bildquelle: Shutterstock)
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Bild öffnen „Wir lassen nicht zu, dass der ruinöse Verdrängungswettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.“ Stefanie Nutzenberger, Verdi Bundesvorstand (Bildquelle: Ver.di)