Zuckeranbau in Gefahr Warum die Branche Hilfe gegen die Schilf-Glasflügelzikade fordert

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Diese Zikade hat es auf Zuckerrüben und weitere Ackerfrüchte abgesehen. 
Wirtschaftsverbände schlagen Alarm. Handelt die Politik schnell genug?

Mittwoch, 19. Februar 2025, 06:40 Uhr
Thomas Klaus
Hält ständig Ausschau nach neuer Nahrung: Damit tritt die Zikade in Konkurrenz zum Menschen. Bildquelle: Getty Images

Wer den Namen dieses Insekts flüssig und fehlerfrei aussprechen möchte, übt wahrscheinlich erst einmal: „Schilf-Glasflügelzikade“ kann die Zunge brechen. Entscheider aus der Lebensmittelwirtschaft aber dürften sich an die Aussprache gewöhnen – weil das Tierchen im Zuge des Klimawandels derzeit seinen räumlichen Radius rasend erweitert. Und das macht der Ernährungsbranche zunehmend zu schaffen.

Bereits 20 Prozent der Anbaufläche betroffen

Von der Schilf-Glasflügelzikade übertragene Krankheitserreger verursachen die Stolbur-Krankheit und das Syndrom der niedrigen Zuckergehalte (SBR). Das Insekt liebt Zuckerrübenfelder. Die Ertrags- und Qualitätsverluste sind schon jetzt beträchtlich, weil sich die Rüben schlechter lagern und verarbeiten lassen. Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rübenbauverbände (ADR) stieg die betroffene Fläche von 40.000 Hektar im Jahr 2023 auf mindestens 75.000 Hektar im vergangenen Jahr. Das entspricht rund 20 Prozent der deutschen Rübenanbaufläche.

Bei Zuckerrüben löst die Stolbur-Krankheit das Phänomen der sogenannten Gummirübe aus. 
Dabei werden die Rübenkörper schrumpelig und bekommen eine gummiartige Konsistenz. SBR bei Zuckerrüben wiederum ist an den gelblich verfärbten Blättern erkennbar und erzeugt einen deutlich geringeren Zuckergehalt der Rübe.

„Zahlen zeigen nur Spitze des Eisbergs“

Zurzeit sind die südlicheren Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz besonders betroffen. Bis die anderen Teile Deutschlands heimgesucht werden, ist wohl nur eine Frage der Zeit. Nicht gerade beruhigend: Der Befall beschränkt sich nicht auf einzelne Ackerflächen, er betrifft ganze Naturräume.

„Die Zahlen zeigen nur die Spitze des Eisbergs“, warnt der ADR-Vorsitzende Bernhard Conzen. Er betont: „Wenn wir jetzt nicht entschlossen handeln, gefährden wir nicht nur die Zuckerversorgung.“

Worauf Conzen abhebt: Die Zikade befällt ­neben Zuckerrüben auch Kartoffeln. Auf sie überträgt das sprungkräftige Insekt die Bakterielle Kartoffelknollen-Welke. Die Folgen sind unter anderem extrem kleine Kartoffeln, Geiztriebe, Luftknollen und rote Verfärbungen an Stängeln und Blättern. Sowohl Kartoffeln als auch Zuckerrüben dienen der Zikade in allen Entwicklungs­stadien als Nahrungspflanze. Die sogenannten Nymphen, der jugendliche Nachwuchs, entwickeln sich ebenfalls vollständig an ihnen.

Größte pflanzenbauliche Herausforderung

Darüber hinaus sucht sich die Zikade neue Wirtspflanzen. In Deutschland waren das zuletzt Zwiebeln, Karotten und Rote Bete. Der Deutsche Bauernverband (DBV) spricht hier von einer „ernsthaften Bedrohung für die Grundversorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln“. Und die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker (WVZ) hat die „größte pflanzenbauliche Herausforderung der nächsten Jahre“ ausgemacht. WVZ-Hauptgeschäftsführer Günter Tissen berichtet der Lebensmittel Praxis, dass sein Verband Mitte November 2024 zusammen mit dem DBV, der Kartoffelwirtschaft und dem Zentral­verband Gartenbau den Bundesagrarminister angeschrieben habe. Wegen der Bedrohungslage sei Cem Özdemir dringend um ein persönliches Gespräch gebeten worden, so Tissen. Ende Dezember lud Özdemir dann zu einem runden Tisch zu dieser Problematik ein.

Amtschefs fordern Notfallzulassungen

Nach der Sitzung am 10. Januar kündigte der Grünen-Politiker für den März 2025 ein weiteres Fachgespräch an. Er selbst oder ein anderer führender Vertreter des Ministeriums waren beim ersten Aufschlag nicht dabei, delegierten die 
Gesprächsleitung mit Verweis auf die Maul- und Klauenseuche an einen Abteilungsleiter.

Im Anschluss an den runden Tisch schimpfte DBV-Präsident Joachim Rukwied: „Man hat offensichtlich den Ernst der Lage nicht erkannt.“ Denn in erster Linie habe das Ministerium langfristige Lösungsansätze wie integrierte Züchtung oder eine veränderte Fruchtfolgegestaltung ins Spiel gebracht. Das Ministerium widerspricht und spricht von durchaus „konkreten Lösungsansätzen“. Für Rukwied ist klar: „Wir brauchen jetzt Lösungen für 2025.“ Er meint vor allem Notfallzulassungen für Pflanzenschutzmittel noch in dieser Saison – eine Forderung, die auch die Amtschefs der Länderagrarministerien auf ihrer Konferenz im Januar bereits erhoben haben.

Notlage zwingt zu 
schnellem Handeln

Ein Kommentar von Thomas Klaus

Davon, dass der Klimawandel kein Hirngespinst ist, legen auch die Schilf-Glasflügelzikaden Zeugnis ab. Denn seit es auch in Deutschland tendenziell wärmer wird, fühlen sie sich hier zunehmend wohl – zum Leidwesen vieler Landwirte, die bereits die ­gefräßige Seite dieser Insekten kennengelernt haben.

Brandneu ist das Auftauchen der Zikaden hierzulande nicht. Bereits 2023 starteten erste privat organisierte Forschungsprojekte der Kartoffelwirtschaft. ­Begründet werden sie mit der großen Sorge vor einem „Totalausfall beim Grundnahrungsmittel Kartoffeln“, wie es von der Union der Deutschen Kartoffelwirtschaft heißt.

Irritierende Terminsetzung

Irritierend ist es vor diesem Hintergrund, dass das allererste Krisengespräch im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zu dem Zikaden-Problem erst im Januar 2025 ausgerichtet wurde – und das nach Informationen der Lebensmittel Praxis erst unter dem mehr oder weniger sanften Druck von mehreren Wirtschaftsverbänden.
Dass ein zweiter runder Tisch relativ zeitnah im März stattfinden soll, gehört zu den guten Nachrichten. Eine noch bessere Nachricht wäre es, wenn sich alle Beteiligten auf schnelle Schritte einigen könnten. Das Tempo der Gegenmaßnahmen sollte an die Geschwindigkeit der Zikaden angepasst werden. Denn von einer Notlage zu sprechen, scheint nicht übertrieben.