Dreht sich unsere Ernährung künftig nur noch um die persönliche Optimierung von Figur und Gesundheit? Sterben traditionelle Lebensmittel aus? Welche Essrituale bleiben? Stephan Grünewald, Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts Rheingold, blickt für die Lebensmittel Praxis in die nahe Zukunft und erklärt, worauf sich Lebensmittelhandel und -industrie einstellen sollten.
Die gute Nachricht zuerst: Der Einkauf im stationären Handel erhält eine neue Bedeutung und wird nicht durch Alternativen abgelöst, meint Grünewald. Doch der Psychologe sieht die Ernährungsbranche vor großen Aufgaben. Der Konsum wird aus seiner Sicht in den kommenden Jahren noch stärker individualisiert und von psychologischen Faktoren geprägt sein. Die Branche müsse Konsumenten Sicherheit und Orientierung bieten, sagt er.
These 1: Verbraucher wollen Absolution
Aktuell herrsche eine „babylonische Ernährungsverwirrung“, die Konsumenten belaste, wie tiefenpsychologische Studien des Instituts zeigen. „Es gibt eine zunehmende Moralisierung des Konsums, bei der Lebensmittel in ,sündige‘ und ,heilige‘ Kategorien eingeteilt werden“, erklärt Grünewald. So spielen Gesundheit, Nachhaltigkeit und Ästhetik eine immer größere Rolle. Auf dem Teller und am Regal führt das ständige Abwägen zwischen Genuss und moralischen Ansprüchen jedoch zur Überforderung. „Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihnen die Unbeschwertheit beim Essen verloren gegangen ist“, sagt Grünewald. Alle ethischen Fragen seien für die Zukunft gestellt: Klimawandel, Kinderarbeit und Ausbeutung, Tierwohl. Handel und Industrie müssten diese Punkte lösen und Verbrauchern künftig vermitteln: „Du darfst genießen, weil wir uns um die moralischen Aspekte kümmern.“ Er nennt dies „Genussabsolution“.
These 2: Die Optimierung hat Grenzen
Während andere Trendforscher in einer persönlich zugeschnittenen Ernährung auf Basis von Speichel- oder Bluttests die Zukunft sehen (die Investmentbank UBS rechnet mit Umsätzen von 64 Milliarden US-Dollar für persönliche Ernährung im Jahr 2040), sieht Grünewald hier klare Grenzen. „Gesundheits-Apps und KI-gestützte Tools können in Zukunft den Einkauf orchestrieren, indem sie auf Basis individueller Gesundheitsdaten Empfehlungen für die Ernährung geben“, meint auch Grünewald. Konsumenten benötigten jedoch auch weiterhin Freiräume für spontanen und lustbetonten Konsum: „Die Leute brauchen auch einen Bereich, in dem sie nach Lust und Laune essen können. Es braucht im Lebensmittelangebot nicht nur Pflicht, sondern auch Kür.“
These 3: Neue Snack-Kategorien gefragt
Essen wird immer flexibler und ortsunabhängiger, ist sich Grünewald sicher. Künftig müsse die Industrie Snacks für verschiedene „Settings“ entwickeln. Er sieht mehr Bedarf an funktionellen, sinnlich unspektakulären Snacks, die man „runterkaue“. „Beim Snacking lenkt mich die Nahrungsaufnahme nicht ab von der Aktivität oder dem Setting, in dem ich mich befinde. Im Kino ist Popcorn beispielsweise eine Kompensation, ich kann Spannung abbauen. Popcorn darf aber nicht so gut und überraschend schmecken, dass es von dem Film ablenkt“, gibt er ein Beispiel. „In anderen Situationen will ich mich sinnlich erfüllen lassen. Dann sind spektakuläre Produkte gefragt, mit denen ich auch das Essen zu Hause inszenieren kann“, ergänzt er. Die Entwicklung zum Dauersnacking erfordere auch neue Verpackungslösungen: „Die Verpackung muss es ermöglichen, dass der Konsument das Essen flexibel und nach Bedarf konsumieren kann und nicht die gesamte Packungsgröße auf einmal aufgebraucht werden muss.“
These 4: Traditionelles stirbt nicht aus
Die GfK warnt davor, dass Traditionsprodukte aussterben werden. Nur 6 Prozent des Umsatzes mit Schmalz und 15 Prozent des Umsatzes mit Sauerkraut- und Rotkohlkonserven entfallen heute auf Millennials und Gen Z (12 bis 41 Jahre). Grünewald: „Der Retro-Trend zeigt: Totgesagte leben länger. Das haben Marken wie Tritop oder Afri-Cola bewiesen.“ Traditionelle Produkte hätten weiterhin Potenzial, sie müssten jedoch anders dargereicht und in die Moderne überführt werden. „Sauerkraut beispielsweise können Hersteller durchaus mit kreativen Ideen neues Leben einhauchen.“
These 5: Supermärkte für die Jagd
Während die Grundversorgung künftig zunehmend durch Lieferdienste abgedeckt werde, werde der Einkauf im stationären Handel zur „Kurzurlaubsreise“ und Flucht aus dem Alltag. Handel und Hersteller sollten für emotionale, sinnliche Erlebnisse sorgen, zum Beispiel Länderspezialitäten neu inszenieren. Der Supermarkt werde zudem zum „Begegnungsraum“, meint Grünewald. „Begegnungsstätten sind wichtig für die Zukunft. Der Handel wird mein Catwalk, wo ich mich als Mensch bestaunen lassen kann.“ Gleichzeitig müsse der stationäre Handel den „Jagdinstinkt“ der Konsumenten bedienen, ihnen die Möglichkeit bieten, Schnäppchen zu machen und ihre „Handlungsfähigkeit“ unter Beweis zu stellen.
Ernährungsbewusstsein nimmt zu
Die Bundesbürger fokussieren sich künftig mehr auf den Einfluss der Ernährung auf die persönliche Gesundheit, legt die Studie „So is(s)t Deutschland 2024“ des Rheingold Instituts nahe. Demnach sorgen sich 65 Prozent der Befragten vor allem um Figurprobleme als Resultat einer ungesunden Ernährung. Erkrankungen wie Demenz, Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme befürchten 53 Prozent, Trägheit oder Leistungsschwäche 47 Prozent der Befragten. Fast ein Drittel (31 Prozent) sieht gar das Risiko eines frühen Todes. Nur jeder zehnte Befragte sieht für sich keine Negativfolgen ungesunder Ernährung.