Die italienische Kleinstadt Alba und den Brüsseler Vorort Watermael-Boitsfort trennen rund 730 Kilometer Luftlinie – und verbindet ein Mann. Alba, umgeben von den Hügeln des Piemont, ist die Heimat jenes Familienerbes, das Giovanni Ferrero Milliardeneinnahmen aus Nutella, Rocher und Kinderschokolade sichert. In Watermael-Boitsfort, einem zuweilen verregneten Speckgürtel-Örtchen, baut der Milliardär gewissermaßen etwas Eigenes: ein zweites kleines Süßwarenreich aus Herstellern von Keksen, Fruchtgummi und mehr.
Allein der Beweis, dass der Ferrero-Erbe im Alleingang so viel Erfolg hat wie mit dem Konzern seiner Vorfahren, mag in Watermael-Boitsfort noch nicht recht gelingen. Was unter anderem an einem der ersten Unternehmen liegt, die Giovanni Ferrero in sein belgisches Unternehmenskonstrukt eingliederte: Delacre. Den Wert des Keksbäckers, 2016 nach einer wechselvollen Geschichte übernommen, hat der Milliardär in den Büchern seiner Beteiligungsgesellschaft The Fine Biscuits Company vollständig abgeschrieben, wie aus deren seit Kurzem in belgischen Registern verfügbarem Geschäftsbericht 2022/2023 hervorgeht. Andere Zahlenwerke zeigen nach Recherchen der LP, woran das liegen dürfte: Delacre schreibt immer wieder rote Zahlen. Besonders herb fiel der Betriebsverlust des belgischen Keksherstellers im Geschäftsjahr 2020/2021, das wegen einer Umstellung 20 Monate umfasste, aus: Damals fiel ein Fehlbetrag von 42,5 Millionen Euro an.
Delacre ist bekannt für seine Gebäckmischungen, die zum Kaffee gereicht werden. Die Vermutung liegt daher nahe, dass der Wegfall von Konferenzen in der Corona-Zeit den Hersteller getroffen hat. Doch die Abschlüsse deuten darauf hin, dass es auch vor und nach der Pandemie nicht rundlief bei dem Unternehmen. Im Geschäftsjahr 2022/2023 lag der Betriebsverlust trotz Umsatzsteigerung bei 33,7 Millionen Euro. Die Verhandlungen mit den Abnehmern auf dem belgischen Heimatmarkt seien schwierig, heißt es im jüngsten Abschluss. In Frankreich leide der Absatz des hochwertigsten Teils des Sortiments unter der schwindenden Kaufkraft. Um die Auslastung der Fabriken zu erhöhen, wolle das Unternehmen Verpflichtungen im Rahmen von Co-Manufacturing-Verträgen eingehen. Das alles klingt nach einem Fehltritt für Giovanni Ferrero, den reichsten Mann Italiens mit einem geschätzten Vermögen von 40 Milliarden Euro.
Giovanni Ferrero kam 1964 als zweiter Sohn von Michele Ferrero in Farigliano im Piemont zur Welt. Er besuchte die europäische Schule in Brüssel und studierte später Marketing in den USA. 1997 übernahm er gemeinsam mit seinem Bruder Pietro Ferrero junior, der im Jahr 2011 bei einem Fahrradausflug in Südafrika starb, die Geschäftsführung der Ferrero-Gruppe. Giovanni Ferrero lebt zurückgezogen mit seiner Frau Paola Rossi und ihren beiden Kindern nahe Brüssel. Der Milliardär hält die Mehrheit der Anteile am Ferrero-Konzern. Er hat mehrere Romane verfasst, die um Themen wie Liebe und die sozialen Verhältnisse kreisen.
Giovanni ist der Spross einer Familie, deren Name für wertvolle Süßwarenmarken steht wie sonst wohl nur Mars. Das Imperium, dem vor allem der 2015 verstorbene Nutella-Erfinder Michele Ferrero seine Geltung verschafft hat, umfasst Produkte wie Kinderriegel, Rocher, Mon Chéri, Milchschnitte und viele weitere Publikumslieblinge. Mit einem Jahresumsatz von zuletzt 17 Milliarden Euro zählt Ferrero zu den Schwergewichten der Branche. Dabei wuchs das Unternehmen unter Michele Ferrero fast ausschließlich organisch, Zukäufe waren so gut wie tabu. Das änderte sich, als der Firmenpatriarch verstarb und sein Sohn übernahm. Der Spross kaufte etwa den britischen Schokoladenanbieter Thorntons für kolportierte 160 Millionen Euro – und integrierte die Marke in den Ferrero-Konzern.
Viele seiner späteren Zukäufe dagegen trennte Giovanni Ferrero finanziell und rechtlich von dem Stammkonzern, an dem weitere Familienmitglieder Minderheitsanteile halten. Diese Investments führte der Multimilliardär in einer belgischen Holding namens CTH Invest zusammen – einer Gesellschaft mit dem stattlichen Anlagevermögen von jüngst knapp 5,2 Milliarden Euro. Unter den zehn „Ferrero-verbundenen Unternehmen“, wie die Gruppe ihre Töchter zuweilen nennt, sind auch Süßwarenhersteller in den USA und Brasilien. In der Zwischenholding Fine Biscuits Company hat Giovanni Ferrero die kontinentaleuropäischen Gebäckinvestments gebündelt. Dazu zählt neben Delacre auch der dänische Hersteller Kelsen, den Ferrero 2019 vom US-Konzern Campbell Soup erwarb und der vor allem für seine Butterkeksmarke Royal Dansk bekannt ist.
Auch bei Kelsen war die Lage jüngst schwierig. Für das Geschäftsjahr vor der Übernahme 2018/2019 wies das Unternehmen noch einen Nettogewinn von umgerechnet 13,4 Millionen Euro aus. Danach ging es fast kontinuierlich abwärts. Im Geschäftsjahr 2022/2023 verzeichnete die Kelsen-Gruppe einen Nettoverlust von 21,5 Millionen Euro. Die Eigenkapitalrendite sank von 17,6 Prozent im Jahr 2018/2019 auf minus 68,3 Prozent im Jahr 2022/2023. Giovanni Ferreros Zwischenholding minderte denn auch den Wert von Kelsen in den eigenen Büchern – anders als bei Delacre aber nicht um 100 Prozent.
Produktionsstätten unterhielt der Ferrero-Konzern im Geschäftsjahr 2022/23.
Haselnussfarmen betreibt die Ferrero Hazelnut Company in Europa, Südamerika und Australien.
Das Kelsen-Management führt als Grund für die hohen Verluste die Kostenexplosion bei Rohwaren, Verpackungsmaterial und Energie an. Zwar habe der Hersteller Preiserhöhungen durchsetzen können, diese hätten jedoch nicht mit den Kostensteigerungen Schritt halten können, heißt es im Geschäftsbericht 2022/2023. Der Kostendruck trifft die gesamte Branche. Bei Kelsen kommt erschwerend offenbar eine Absatzschwäche hinzu, zumindest auf dem großen deutschen Markt: Laut aktuellen Marktdaten soll der Mengenabsatz von Kelsen hier 2023 um mehr als ein Fünftel eingebrochen sein – während viele Konkurrenten ihren Absatz steigerten. Das Kelsen-Management richtet seine Hoffnungen vor allem auf den chinesischen und den US-Markt, wie aus dem Geschäftsbericht hervorgeht. Die Gewinnzone könnte demnach im aktuellen Geschäftsjahr erreicht werden, das Ende August endet.
Doch auch der europäische Markt für Feingebäck, auf dem sich Delacre und Kelsen bislang vor allem bewegen, ist solide: Nach Nielsen-Zahlen hat dieser seit 2022 in der Menge stagniert und beim Umsatz preisgetrieben stark zugelegt. Die Malaise beider Unternehmen wirft also Fragen auf. Eine mögliche Antwort: Der Gebäckmarkt gehorcht anderen Regeln als die Segmente, in denen Giovanni Ferrero mit Marken wie Kinder oder Rocher unterwegs ist. Das Geschäft ist etwa weniger markengetrieben als zum Beispiel das mit Schokoladenwaren: Fast die Hälfte des Umsatzes mit süßem Gebäck in Deutschland entfiel jüngst auf Handelsmarken. „Wenn man da mit dem Selbstbewusstsein eines Top-Markenartiklers wie Ferrero in die Preisverhandlungen mit dem Handel geht, kann man schnell Schwierigkeiten bekommen“, mutmaßt ein Brancheninsider.
Ferrero kauft weiter zu
Ans Aufgeben im Keksgeschäft scheint Giovanni Ferrero gleichwohl nicht zu denken. Im Gegenteil stehen die Zeichen auf Expansion: Zu Ferreros europäischem Gebäck-Portfolio gehört seit Neuestem die französische Marke Michel et Augustin, die der Milliardär Danone abgekauft hat. Schon 2020 und 2021 fasste er mit der Übernahme von Fox’s Biscuits und Burton’s Biscuits auf dem britischen Gebäckmarkt Fuß. Immerhin: Fox’s erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2022/23 wieder einen schmalen Betriebsgewinn von 173.000 Euro, nachdem im Vorjahr noch ein Verlust von 10,5 Millionen Euro zu Buche stand.
Ein Ferrero-Sprecher ließ die Geschäftsentwicklung der Unternehmen auf Anfrage der LP unkommentiert. Er verwies aber auf einen Bericht in der belgischen Wirtschaftszeitung „L’Écho“. Darin schrieb das Medium unter Berufung auf einen Insider, Giovanni Ferreros Beteiligungsgesellschaft CTH Invest habe einen langfristigen Anlagehorizont. CTH wolle in Zukunft weitere Akquisitionen tätigen und ziele dabei auf lokal bedeutende Marken mit interessanter Geschichte und langfristigem Potenzial ab.
Um mit Delacre aus der Defensive zu kommen, setzt Giovanni Ferrero neuerdings auch auf Reisende als Zielgruppe und spannt die Travel-Retail-Sparte seines Ferrero-Konzerns ein: Seit wenigen Wochen gibt es die Produkte der belgischen Marke prominent platziert am Brüsseler Flughafen zu kaufen. Auf dass die Marke neuen Wind unter die Flügel bekommt.
Zunächst muss der Milliardär allerdings Geld in die Hand nehmen: Von einer Kapitalspritze in Höhe von 44,2 Millionen Euro ist die Rede. Mehr dazu lesen Sie hier.
Ferrero bemüht sich um Nachhaltigkeit
Ferrero ist immer wieder wegen fragwürdiger Geschäftspraktiken in die Schlagzeilen geraten. Es gab etwa Vorwürfe wegen Kinderarbeit und der Rodung von Regenwäldern für Palmölplantagen. Kürzlich hat der Konzern seinen neuen Nachhaltigkeitsbericht vorgelegt, der Fortschritte dokumentiert. So soll die Wasserintensität in den Ferrero-Werken im Geschäftsjahr 2022/2023 gegenüber 2021/2022 um 9,6 Prozent zurückgegangen sein. In der Haselnusslieferkette habe Ferrero eine Rückverfolgungsquote von 90 Prozent erreicht gegenüber 79 Prozent im Vorjahr.