Der Kaufmann aus Rheinland-Pfalz hat schönere Orte als sein Leergutlager zu bieten – und öffnet trotzdem die Tür: Zwischen Türmen aus Bier-, Wasser- und Colakisten stapeln sich hier Pappkartons bis knapp unter die Decke. Gänge sind nur zu erahnen. „Wir ertrinken in Glasmehrwegflaschen“, sagt der Inhaber des Marktes. Namentlich genannt werden möchte er lieber nicht – denn das Thema Mehrweg gilt als heikel. „Die Leute kaufen wie verrückt Sechserpacks oder Einzelflaschen, und uns fehlen dann die Kästen“, berichtet er. In seiner Not lässt der Kaufmann die unsortierten Flaschen schon in Bananenkartons lagern. „Wenn es geht, kaufen wir selbst palettenweise Kästen hinzu, aber es wird immer schwieriger, daranzukommen.“
Zu Getränken in Mehrwegflaschen empfinden viele Supermarktbetreiber in Deutschland eine Hassliebe. Für einen Vollsortimenter sind Bier und Mineralwasser in Glasflaschen unverzichtbar, zumal Politiker und Umweltlobbyisten mehr davon fordern. Die Logistik dahinter aber ist derart in Unordnung, dass die großen Handelsgruppen sie offensichtlich nicht länger den bisherigen Akteuren zutrauen: Rewe und Edeka sortieren das Getränkechaos mit harter Hand. Die Handelszentralen gehen dafür ins Risiko. Manche Getränkegroßhändler fürchten derweil um ihre Zukunft. Fest steht: Im Geschäft mit Mehrweggetränken gibt es gerade für viele viel zu verlieren.
Den Handelszentralen geht es vor allem um die Warenverfügbarkeit. Spätestens seit den Hamsterkäufen in der Corona-Pandemie sind die Einkäufer alarmiert: Regallücken gelten als No-Go. „Gerade bei Temperaturen jenseits der 30 Grad Celsius schaut der Handel oft nervös zu, wie seine Vorräte wegschmelzen und kein Nachschub kommt“, sagt ein Manager einer wichtigen Brauerei.
Wie groß der Verlust des Vertrauens in den Getränkegroßhandel ist, zeigt der Einstieg der Rewe-Gruppe bei Trinks, mit 1,4 Milliarden Euro Umsatzvolumen einer der größten national agierenden Getränkelogistiker in Deutschland. Der Deal, der Ende vergangenen Jahres vom Bundeskartellamt durchgewunken wurde, kommt einem Beben gleich, dessen Wirkungen immer stärker zu spüren sind. „Die Anspannung im Markt ist brutal“, sagt ein ranghoher Manager eines führenden Lebensmitteleinzelhändlers. Aus seiner Sicht ist die Übernahme von fast der Hälfte der Trinks-Anteile Rewes Reaktion auf die Mehrwegambitionen von Edeka. Die Hamburger bauen seit Jahren mit Investitionen, die teils dreistellige Millionenbeträge erreichen, ein eigenes Logistiknetz für Mehrweggetränke auf. „Edeka geht es bei Vertikalisierungsentscheidungen nicht nur um die eigene Warenverfügbarkeit, sondern auch um Vorteile gegenüber Konkurrenten“, sagt der Handelsmanager.
Kostennachteile drohen
Mit dem Trinks-Einstieg schlägt Rewe wirkungsvoll zurück – denn der Großhändler ist ausgesprochen erfolgreich: Auf seiner Kundenliste steht nicht nur Rewe selbst, sondern auch praktisch die versammelte Konkurrenz, unter anderem Kaufland, Metro, Globus, Tegut, Bünting – und Edeka. Zwar glaubt das Bundeskartellamt, dass „Rewe über Trinks nicht in wettbewerblich bedenklichem Ausmaß Zugang zu sensiblen Informationen seiner Wettbewerber“ erhalte. Sorge, dass Rewe den Trinks-Kunden in die Karten schauen könnte, etwa erfährt, wie sich Preise entwickeln oder welche Aktionen geplant sind, gibt es naturgemäß trotzdem. Wie werthaltig Rewes Investment in Trinks ist, muss sich deshalb noch herausstellen: Springen mehrere Händler ab, müsste Trinks einen bedeutenden Umsatzschwund hinnehmen. Der Hauptwettbewerber Deutsche Getränke Logistik (DGL), ein Joint Venture von Radeberger und Veltins, bringt sich schon einmal in Stellung: „Wir beobachten die Marktsituation aufmerksam und stehen als neutraler Gesprächspartner und Dienstleister für den gesamten deutschen Lebensmittelhandel, alle Lieferdienste, Fachmarktbetreiber und Gastronomen jederzeit zur Verfügung“, sagt DGL-Chef Markus Rütters.
Dass Trinks Edeka als Kunden abschreiben kann, gilt vielen Insidern als sicher. Noch bestehen Lieferverträge in einzelnen Regionen, die erfüllt werden müssen. DGL-CEO Rütters sagt: „Eine neue Ausrichtung des Handels kann aufgrund der Komplexität nicht über Nacht passieren.“ Dass Edeka bereit ist, die Mehrweglogistik selbst zu übernehmen, beweist der Händler aber schon seit Jahren in der Region Rhein-Ruhr – und seit Kurzem zum Beispiel auch in Südbayern: Ein bestehendes Logistikdrehkreuz in Landsberg am Lech erweitert Edeka derzeit um ein modernes Zentrum für Getränkelogistik, gleichzeitig entsteht in Wallersdorf ein komplett neues Getränkelager. Die Gesamtinvestitionen belaufen sich auf 240 Millionen Euro. Auch im Norden investiert Edeka in die Logistikstandorte: 270 Millionen Euro flossen allein im vergangenen Jahr in das Lager Neumünster-Eichhof. Für dieses Jahr sind weitere 80 Millionen Euro für Neumünster eingeplant. Davon betroffen ist der Umschlag des Trockensortiments und der Tiefkühlkost, aber eben auch die Leergutlogistik. „Wir investieren permanent in unsere Logistikleistungen, da die Eigenproduktion Unabhängigkeit und die Versorgung der Märkte in wichtigen Sortimentsbereichen sichert. Darüber hinaus können eigene Betriebe flexibel und schnell auf Trends und Kundenbedürfnisse reagieren“, sagt ein Edeka-Sprecher auf Anfrage.
Die Mehrwegemanzipation ist mit enormen Ausgaben verbunden. „Um eine nationale Abdeckung zu erreichen, müsste man mindestens 1,5 bis 2 Milliarden Euro in die Hand nehmen“, sagt ein Brancheninsider. Ein Betrag, den selbst der führende deutsche Lebensmitteleinzelhändler nicht aus der Portokasse zahlt – und der zeigt, wie sehr die Handelsgruppen ins Risiko gehen: nicht ausgeschlossen, dass sie sich in einem margenschwachen und tendenziell kleiner werdenden Markt Kostennachteile einhandeln. Ein von Lebensmitteleinzelhändlern unabhängiger Logistiker aus Mecklenburg-Vorpommern sagt: „Vollgut zu organisieren ist das eine, aber das Leerguthandling, gerade im Sommer, ist eine gigantische Herausforderung. Ich glaube nicht, dass Edeka und Rewe wissen, worauf sie sich da einlassen.“
Prozent der Biermenge in Deutschland werden vom Getränkefachgroßhandel bewegt.
Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete der Getränkegroßhandel 2022.
Individualflaschen schwächen das System
Die Mehrweglogistik war bisher das Geschäft von deutschlandweit 3.100 Getränkefachgroßhändlern. Zu ihnen zählen regional verankerte unabhängige Unternehmen wie Getränke Geins in Passau oder Winkels in Sachsenheim, aber auch milliardenschwere Konglomerate wie eben die DGL mit 18 Standorten in Nord-, West- und Ostdeutschland sowie Trinks mit 16 Standorten. Diese Logistiker halten das System Mehrweg am Laufen, holen die Kästen aus dem Supermarkt, sortieren sie und organisieren den Rücktransport sortenrein zu den Brauern und Mineralbrunnen. So die Theorie. In der Praxis krankt der Wirtschaftszweig seit vielen Jahren. Davon berichtet etwa Walter Steffens, Vorstand der Für Sie Handelsgenossenschaft, die zur Rewe-Gruppe gehört und zu deren Kunden viele Getränkegroßhändler zählen: „Der Markt muss zur Vernunft kommen und dringend anstehende Investitionen angehen. Ein großes Thema dabei ist die Digitalisierung, um den Leergutfluss besser in den Griff zu bekommen. Ebenso wichtig sind Investitionen in voll automatisierte, sortenreine Sortierung.“
Geschwächt wurde das System jahrelang durch die Marketingabteilungen der Brauer und Brunnen. Die unter Ertragsdruck stehenden Hersteller setzen immer häufiger auf auffällige Individualflaschen und eigene Kästen, um Aufmerksamkeit im unübersichtlichen Getränkeregal zu erzeugen. Jüngstes Beispiel ist das neue „Helle Lager“ von Veltins in einer 0,275-Liter-Mehrwegflasche mit eingebranntem Frontetikett. Egal wo diese Flasche in der Republik verkauft wird, sie muss wieder zum Hof der Brauerei im sauerländischen Grevenstein zurückgefahren werden. Eine Praxis, die dem als besonders ökologisch gefeierten Mehrwegsystem einen Dämpfer verpasst. Es gilt in der Branche zudem als offenes Geheimnis, dass fehlgeleitete Individualflaschen häufig im Müll landen. „Ich möchte nicht wissen, was los ist, wenn ein Kamerateam einmal auf dem Hof einer Brauerei oder eines Großhändlers filmt, was da so vor sich geht“, sagt ein Spediteur über dieses Vorgehen.
Damoklesschwert Investitionsstau
Noch dazu befinden sich die Logistiker seit Jahren in einer wirtschaftlich schwierigen Sandwichposition zwischen Handel und Herstellern. Sie beklagen Kostensteigerungen für Energie, Sprit, Arbeit, Maut und suchen bisweilen verzweifelt Lkw-Fahrer. „Wir werden zwischen Handel und Industrie zerquetscht“, sagte vor drei Jahren Dieter Hamel, der Geschäftsführer der Winkels-Gruppe, im Gespräch mit der Lebensmittel Praxis. Seitdem hat sich offenkundig wenig getan. Insbesondere der Investitionsstau hängt über der Branche wie ein Damoklesschwert.
Dirk Reinsberg, geschäftsführender Vorstand beim Bundesverband des Deutschen Getränkefachgroßhandels, macht für die Misere der unabhängigen Getränkelogistiker auch den Lebensmitteleinzelhandel verantwortlich: „Sie haben eben über Jahre das für die Leistung bezahlt, was sie bezahlt haben. Die Großhändler konnten irgendwie überleben, aber die Marge war zu knapp, um dringende Investitionen zu leisten.“ Zwar haben die Großhändler in den vergangenen zwei Jahren höhere Preise für die Mehrwegabwicklung durchgesetzt, Reinsberg sieht aber nicht, dass sich angesichts der höheren Kosten „die Ertragslage der Logistiker großartig verändert hat“. Walter Steffens von der Für Sie Handelsgenossenschaft sagt: „Mit Kostensteigerungen haben alle Wirtschaftszweige in Deutschland zu kämpfen. Bei der Mehrweggetränkelogistik kommt die Sortierung hinzu: Leergutüberhänge vom Handel holen, sortieren und wieder in die richtige Waschanlage bei den Brauern und Brunnen zurückführen: Das ist ein großer Kostentreiber on top.“
Auch Aldi dürfte Mehrweglogistik selbst erledigen
Ein Manager eines großen Getränkelogistikers sieht es so: „Wir sind die Dinosaurier der Branche. In wenigen Jahren wird es deutlich weniger unabhängigen Großhandel mit Getränken geben. Rewe und Edeka haben das Ruder jetzt selbst in die Hand genommen.“ Dass es so kommen könnte, zeigen auch die jüngsten Ereignisse rund um Winkels. Der größte unabhängige Getränkeverleger in Baden-Württemberg ist zu einer umworbenen Braut geworden: Namhafte Handelsketten standen Schlange, um sich das Imperium mit knapp 400 Millionen Euro Umsatz, 130 Lkw und vier Logistikstandorten einzuverleiben. Gerhard Kaufmann, der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens, hatte vor einigen Monaten Verkaufsbereitschaft signalisiert. Dann kam der Rückzieher – offiziell, weil Preiserhöhungen das Geschäft verbessert haben. Eine Rolle könnte aber auch spielen, dass Kaufmann zwar seine wenig lukrative Logistiksparte loswerden will, nicht aber das Geschäft mit Mineralwassermarken wie Alwa, Griesbacher oder Aqua Vitale. Würde Winkels die Logistik an eine Handelsgruppe verkaufen, wären Auslistungen bei Konkurrenten vorprogrammiert, was das Aus der Mineralwassersparte von Winkels wahrscheinlich machen würde, glauben Beobachter.
Für kleinere Logistiker droht der Wind noch rauer zu werden: Verlieren die verbleibenden unabhängigen Großhändler Märkte von Rewe und Edeka als Kunden, weil deren Zentralen das Geschäft selbst organisieren, gehen die Stückkosten durch die Decke. Hinzu kommt neuerdings Wettbewerb von ungewohnter Stelle: Durch die neue Verpackungsverordnung der EU ist der sonst strikt auf Einweg fokussierte Hard-Discounter Aldi gezwungen, bis 2030 mindestens 10 Prozent seiner Getränke auch in Mehrwegflaschen anzubieten. Derzeit läuft ein Test mit Marken wie Gerolsteiner und Bitburger in 24 Aldi-Süd-Filialen der Regionalgesellschaft Eschweiler bei Aachen. Für die Zukunft gilt es als wahrscheinlich, dass der Hard-Discounter die Mehrweglogistik in die eigenen Hände nimmt und auf Eigenmarken setzt.
Der Discounter fügt sich der Mehrwegpflicht

Die EU-Kommission schreibt es vor: Bis 2030 muss auch Aldi Süd 10 Prozent seiner Getränke in Mehrweggefäßen anbieten – ein Novum in der Geschichte des Händlers. Derzeit läuft in rund 20 Filialen in der Region Eschweiler ein Test. Verkauft werden Marken wie Gerolsteiner und Bitburger. Schon 2020 gab es einen Mehrwegversuch von Aldi, den der Händler aber erfolglos abbrach. Insider gehen davon aus, dass der Discounter ein eigenes Mehrwegsystem mit seinen Eigenmarken-Lieferanten aufsetzen wird. Lidl bleibt übrigens von der Quote verschont: Die 134 Milliarden Umsatz schwere Schwarz-Gruppe konnte durchsetzen, dass das Angebot von Kaufland und Lidl zusammengerechnet wird. Damit übererfüllt der Händler die Quote schon heute.
Die Dose boomt, Mehrweg stagniert
Dirk Reinsberg, der Chef des Bundesverbands des Deutschen Getränkefachgroßhandels, gibt sich trotzdem optimistisch: „Von den enormen Investitionssummen durch beispielsweise Edeka profitiert das Mehrwegsystem jetzt insgesamt.“ Und überhaupt: „Getränkefachmärkte und -großhandel bestechen heute durch gute Dienstleistungen und ein breites Sortiment. Das wird auch in Zukunft so bleiben. Fachmärkte können sich in der Regel in unmittelbarer Nähe zu Supermärkten und Discountern sehr gut behaupten.“
Tatsächlich spielt die öffentliche Stimmung dem Mehrweggeschäft auf den ersten Blick in die Karten. Eine „Mehrweg-Allianz“ unter anderem aus der Deutschen Umwelthilfe und der Stiftung Initiative Mehrweg zum Beispiel preist in einer aktuellen Kampagne die Vorteile: Mehrwegflaschen würden Ressourcen wie Öl und Gas einsparen und Arbeitsplätze auch in strukturschwachen Regionen schaffen.
Nur scheinen diese Argumente bei den Verbrauchern nicht zu verfangen: Die Mehrwegquote bei Getränken dümpelt seit Jahren bei rund 42 Prozent – weit entfernt von den im Verpackungsgesetz verankerten 70 Prozent. Ein Manager eines führenden Getränkegroßhändlers sieht auch in kulturellen Unterschieden eine Erklärung dafür: In der wachsenden Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund sei „die Bindung zum Produkt Mineralwasser in einer Glas-Mehrwegflasche vergleichsweise gering“. Eine Rolle spielt aber auch der Boom des Dosenbiers. 15 Prozent Marktanteil hat Bier in Dosen mittlerweile, wie Roland Demleitner, der Geschäftsführer des Verbands Private Brauereien Deutschland, unlängst beklagte. „Damit wächst das Gebinde überproportional, welches zu den umweltschädlichsten Getränkeverpackungen zählt“, sagte Demleitner frustriert.
Die Inhaber von 105 Getränkefachmärkten unter dem Namen Getränkeland und eines Getränkegroßhandels in Mecklenburg-Vorpommern haben mit Einweg keine Berührungsängste: Sie verkaufen unter der auffälligen Internetadresse dosenmatrosen.de Red Bull, Coca-Cola und Paulaner Spezi in Aluminium. „Ein lukratives Zusatzgeschäft“ sei das, sagt Getränkeland-Geschäftsführer Axel Heidebrecht. Über sein Mehrwegkerngeschäft sagt der Manager dagegen: „Jedes Sparbuch bringt heute mehr Rendite.“ Sein Unternehmen habe im vergangenen Jahr einen Nettoumsatz von rund 100 Millionen Euro erwirtschaftet. 400.000 Euro davon seien als Gewinn übrig geblieben.
Lobby macht Druck
Die „Mehrweg-Allianz“ aus Umwelt- und Branchenverbänden fordert Umweltministerin Steffi Lemke auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Mehrwegförderung bei Getränken umzusetzen. Passieren soll dies durch eine Abgabe auf Einwegplastikflaschen, Dosen und Getränkekartons von 20 Cent zusätzlich zum Pfand. Laut einer gerade veröffentlichten Studie des Umweltbundesamtes lag die Mehrwegquote für Getränke 2021 bei 42,6 Prozent. Besorgniserregend ist nach Meinung der „Mehrweg-Allianz“ der rasante Anstieg „umweltschädlicher Getränkedosen“, von denen 14,5 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr verkauft wurden. Die Ökobilanzen verschiedener Gebinde sind umstritten.