Reportage Mülltaucher Gefundenes Essen

Immer mehr Menschen in Deutschland containern und bringen damit ihren Protest gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln zum Ausdruck.

Donnerstag, 20. Oktober 2011 - Management
Silke Bohrenfeld
Artikelbild Gefundenes Essen
Bildquelle: Valentin Thurn

Es ist Samstag. Ein schöner Abend gegen 23 Uhr in Berlin-Friedrichshain. Die Stadt vibriert. Kaum jemanden hält es zuhause. Ein Abend wie geschaffen, um an der Spree zu chillen, sich mit Freunden im Biergarten oder zum Tanzen in einer der vielen Berliner Strandbars zu treffen. Auch ich bin unterwegs. Jedoch nicht zum reinen Vergnügen. Ausgestattet mit alter Jeans, Turnschuhen und abgeschabter Jacke, Kamera sowie Schreibzeug bin ich auf dem Weg zu Sarah (Name geändert). Die 24-jährige Studentin will heute Abend containern – und nimmt mich als Beobachterin mit. Containern ist das Sammeln weggeworfener Lebensmittel aus den Mülltonnen der Lebensmittelhändler. Spätestens seit dem Film „We feed the world“ des Österreichers Erwin Wagenhofer setzen sich auch in Deutschland immer mehr Menschen mit der globalen Vernichtung von Lebensmitteln auseinander und suchen in Mülltonnen von Discountern und Supermärkten nach verwertbarem Essen. Filmemacher Valentin Thur n hat diesem Bewusstsein mit seinem Dokumentarstreifen „Taste the waste“ noch einmal Schwung gegeben.

Die Motive der Mülltaucher sind sehr unterschiedlich. „Es gibt Menschen, die aus finanzieller Not heraus in Müllcontainern nach essbaren Nahrungsmitteln suchen“, erzählt Til, der erst vor kurzem zu den Containerleuten gestoßen ist. Oft handelt es sich jedoch um eine politisch motivierte Lebenseinstellung. Auch Sarah containert nicht, weil sie arm ist. Die junge Frau studiert Physik und arbeitet. „Ich bin eine Gegnerin der Wegwerfgesellschaft und will mich dem vorherrschenden Konsumkreislauf entziehen“, begründet sie ihren Lebensstil. Ein Argument, das viele Mülltaucher eint. Denn allein in Deutschland landen nach vorläufigen Schätzungen bis zu 20 Mio. t Nahrungsmittel jährlich im Müll, heißt es aus dem Bundesverbraucherministerium. Das Ministerium geht davon aus, dass ein Drittel davon bei der Landwirtschaft, ein Drittel beim Verbraucher und ein Drittel von Handel und Herstellern vernichtet werden. Doch konkrete Zahlen gibt es zurzeit nicht.

Dass die Zahlen nicht zu unterschätzen sind, stelle ich spätestens an unserer ersten Containerstation fest. Sarah versucht es zuerst bei einem Discounter in Friedrichshain. Sie weiß, wo sie fündig werden kann und wo nicht: Die Studentin ist Profi. Bereits seit 2005 containert sie, seit vier Jahren lebt sie fast ausschließlich von weggeworfenen Lebensmitteln. Mittlerweile hat sie das Mülltauchen in ihren normalen Tagesablauf integriert. „Wenn ich auf meinem Weg von der Uni oder von Freunden bei Lebensmittelhändlern und Drogeriemärkten vorbeikomme, schaue ich ganz automatisch in die Container und hole mir die brauchbaren Produkte heraus“, sagt sie. Auch heute hat sie Glück. Der Container ist nicht verschlossen oder weggesperrt. „Hier schmeißen die Angestellten bereits ab 20 Uhr Lebensmittel weg“, sagt Sarah. Entsprechend voll ist die Tonne: Obst und Gemüse mit leichten Druckstellen oder ohne, Joghurt vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums, Produkte mit leichten Schäden an der Umverpackung. Das alles sind Produkte, die der Handel wegwirft. „Beim letzten Mal habe ich zehn Töpfe Basilikum aus der Tonne gefischt“, berichtet Sarah. Aber auch wenn die Container voll sind: „Ich nehme nicht alles, da ich weiß, dass nach mir auch noch welche kommen. Und natürlich mache ich um leicht verderbliche Lebensmittel wie Fleisch, Fisch oder Eier einen Bogen“, schränkt sie ein.


Platz für neue Ware?

Doch warum landet soviel in der Tonne? Die jungen Aktivisten haben eine ganz eigene Meinung: Sie gehen davon aus, dass im Laden Platz für neue Ware gemacht werden muss. „Denn oft ist es für Groß- und Einzelhändler einfach billiger, Lebensmittel wegzuwerfen und neue einzukaufen“, glaubt Sarah. Außerdem müsste beispielsweise das gesamte Brot-Sortiment im Backshop bis Ladenschluss verfügbar sein: Danach werde entsorgt. Manchmal seien auch eine Fehlkalkulation oder die Umstellung des Sortiments Gründe, dass eigentlich noch genießbare Lebensmittel auf dem Müll landen. Ein weiteres Kriterium ist nach Ansicht der Aktivisten das Mindesthaltbarkeitsdatum, das im Handel nicht überschritten werden dürfe. „Doch das Mindesthaltbarkeitsdatum ist kein Verfallsdatum“, sagt Ernährungsexperte Frank Waskow von der Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen. Abgesehen von Fleisch-, Fisch- und Eierprodukten sind viele der abgelaufenen Produkte noch genießbar. Ein anderes Problem sei die Verpackungseinheit: „Ist eine Paprika Matsch, landen drei im Müll“, beobachtet Sarah.

So einfach wie in Friedrichshain funktioniert das Mülltauchen jedoch nicht immer und überall. Die Händler gehen sehr unterschiedlich mit den Mülltauchern um. „Viele Geschäfte versuchen, das Containern durch das Anbringen von Schlössern und Umzäunungen zu verhindern“, sagt sie. Manche gießen Flüssigkeiten in die Mülltonnen und verderben den gesamten Inhalt. „Einige schicken auch Wachpersonal auf Streife, um die weggeworfenen Lebensmittel zu bewachen“, berichtet Sarah. Der Inhaber eines Berliner Biomarktes zieht sogar selbst seine Runden und hat bereits mit Anzeige gedroht. Denn das Sammeln von weggeworfenen Lebensmitteln ist in Deutschland strafbar – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. So erfüllt jeder Mülltaucher mit seinem Handeln den Straftatbestand des Diebstahls. Denn der Müll im Container gehört zunächst dem Supermarkt. Danach dem Entsorgungsbetrieb, der den Müll abholt und weiterverwertet. In der Regel kommen die erwischten Person en mit einer Verwarnung davon, aber einige Supermärkte erstatten auch Anzeige.

Sobald ein Mülltaucher sich auch noch über Einfriedungen wie Zäune oder verschlossene Tore hinwegsetzt oder Schlösser öffnet, dringt er widerrechtlich ein und begeht damit sogar die schwere Form des Diebstahls nach Paragraf 243 Strafgesetzbuch. Mit einher geht in der Regel Hausfriedensbruch. „Dieses Gesetz untermauert die Verwertungslogik des Systems. Deshalb ignoriere ich es“, antwortet Sarah auf diese Sachverhalte. Sie und die anderen Mülltaucher wehren sich gegen diese Kriminalisierung. Immerhin hat das Thema mittlerweile auch die Politik erreicht: Verbraucherministerin Ilse Aigner hat eine Studie in Auftrag gegeben, um an konkrete Zahlen zu weggeworfenen Lebensmitteln zu kommen, UN und EU haben auf dem Kongress „Transforming Food Waste into a Resource“ in Brüssel beschlossen, die Vernichtung von Lebensmitteln bis 2025 um 50 Prozent zu reduzieren und die Piratenpartei will — wie es Österreich und die Schweiz vormachen — Containern legalisieren.

Ob und wann Mülltauchen straffrei sein wird, interessiert Sarah heute nicht. Nach drei weiteren Stationen sind ihre Rucksäcke voll, sie hat Essen für eine ganze Kompanie und wird deshalb heute Nacht kochen und Freunde einladen — mit Lebensmitteln aus der Tonne.

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Valentin Thurn

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Fette Beute: Sarah hat genug containert, um ihre Freude zu bekochen.
Bild öffnen Müll oder mahlzeit: Juristisch ist die Sache jedenfalls klar.

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