Ins Netz gegangen Kampf gegen Ladendiebstahl

Die Zahl der Ladendiebstähle steigt deutlich. Das zeigt die Statistik. LP hat den Ladendetektiv Matthias Dreiucker bei seiner Arbeit in einem Edeka-Markt begleitet – und auch neue Tricks der Täter kennengelernt.

Sonntag, 07. Mai 2023 - Management
Thomas Klaus
Artikelbild Kampf gegen Ladendiebstahl
Bildquelle: Thomas Hellmann

Auf einmal schreckt Matthias Dreiucker aus seinem Bürostuhl hoch. Gute zwei Stunden hat sich der erfahrene Ladendetektiv in seinem kleinen Büro in einem Edeka-Markt in Norddeutschland die zahlreichen Kameraeinstellungen auf seinem Computer angesehen. Diese bilden live das Geschehen in dem Markt ab. Aus diversen Perspektiven. Nichts Verdächtiges erkennt er dabei. Bis jetzt. Aber dieser Kunde hier, der benimmt sich auffällig. Der Mann ist ungefähr 30 Jahre alt, trägt einen langen Mantel und hält sich bereits eine Weile in der Spirituosenabteilung auf, bestimmt eine Viertelstunde. Er dreht sich des Öfteren um – so als wolle er auf Nummer sicher gehen, dass er nicht beobachtet wird. Dann greift sich der Mann eine Whisky-Flasche und lässt sie in einer Tasche seines Mantels verschwinden. Dreiucker springt auf. Nun muss alles rasch gehen. Mit schnellen Schritten eilt er dem unehrlichen Kunden entgegen, erwischt ihn kurz vor dem Self-Check-out-Kassenbereich.

„So eine Art Kripo-Arbeit“
Die Zahl der Ladendiebe, die Dreiucker im Laufe seines Berufslebens überführt hat – er kann sie längst nicht mehr zählen. Aber rund 6.000 müssten es bisher gewesen sein; 400-mal war Dreiucker als Zeuge vor Gericht gefragt. Seit 31 Jahren ist er im Geschäft, hat sich nach mehreren Angestellten-Stationen 2011 mit seiner Firma DSD-Dreiucker, Sicherheit und Dienstleistung selbstständig gemacht. Von Neuenkirchen in der Lüneburger Heide aus betreut Dreiucker Lebensmitteleinzelhändler im gesamten Bundesgebiet. Es sind rund 60 Kunden, darunter 45 Edeka-Märkte. Unterstützt wird der 55-Jährige von 40 Mitarbeitern, die als Detektive im Einsatz sind.

Einen anderen Job als den des Detektivs – Matthias Dreiucker könnte sich das nicht vorstellen. Warum? „Wir machen so eine Art Kripo-Arbeit“, sagt er. Sehr spannend sei das: die vorbeugende Tätigkeit im Lebensmitteleinzelhandel, das Fassen der Täter, das Kennenlernen unterschiedlichster Täterpersönlichkeiten, die Einblicke in vielschichtige Schicksale.

„Jeder Mensch und jeder Dieb muss mit Respekt behandelt werden. Uns persönlich als Detektiv hat der Dieb in der Regel nichts getan.“ 
Matthias Dreiucker, Detektiv

Jedoch vermisst er häufig die Wertschätzung für seinen Berufsstand. Deshalb engagiert sich Dreiucker als Leiter der Sparte Kaufhausdetektive im neu gegründeten Bundesverband des Detektiv- und Ermittlungsgewerbes. Das ist ein Zusammenschluss des Berufsverbandes Deutscher Detektive und des Bundes internationaler Detektive. Zurzeit müssen Ladendetektive ein großes polizeiliches Führungszeugnis vorweisen und eine Sachkundeprüfung bei einer Industrie- und Handelskammer ablegen. Das sind relativ hohe Hürden: Das beweist ein Blick in das Werk mit Hunderten kniffligen Fragen, das für die Sachkundeprüfung gewälzt werden muss. Dreiucker hätte trotzdem nichts gegen noch höhere Barrieren. Im Interesse von mehr Wertschätzung für die Arbeit der Detektive.

Diebesbanden aus Osteuropa
Das Spektrum der Diebe ist breit und zum Teil stark vom Standort des Marktes abhängig. Gelegenheitsdiebe bilden die Mehrheit. Krankhaft stehlende Kleptomanen, die übrigens straffrei ausgehen, sind die Minderheit. In erster Linie ist in größeren Städten die Beschaffungskriminalität durch Drogensüchtige ein großes Problem. Diebesbanden aus Osteuropa und hier vorrangig aus Georgien sind ein anderes bedeutendes Phänomen. Früher dominierten Gangs aus Rumänien. Diese Täter steuern 20 oder 30 Märkte am Tag an, entwenden Spirituosen und Tabakwaren. Dreiucker beschreibt in diesem Zusammenhang ein Bandengeflecht: „Die Diebe vor Ort sind oft sozusagen arme Schweine und den Bossen aus wirtschaftlichen Gründen hörig. Die gestohlenen Waren müssen sie abliefern. Verkauft werden die auf dem Schwarzmarkt.“ Immerhin sind diese Täter in der Regel zahm, wenn sie ins Netz gehen – „weil sie wissen, dass ihnen anderenfalls Haft wegen räuberischen Diebstahls droht“.

„Armuts-Diebstahl“ nimmt zu
Ein weiterer „Trend“ berührt den Detektiv persönlich: Anscheinend treiben steigende Preise immer mehr bis dato unbescholtene Menschen höheren Alters zum Lebensmitteldiebstahl. Das entgeht auch den Polizeibehörden nicht. Beispiel: Während der Vorstellung der Kriminalstatistik 2022 für die ostfriesischen Landkreise Aurich und Wittmund im März machte das Polizeichef Stephan Zwerg zu einem eigenen Tagesordnungspunkt. Er warnte: „Unseren Sachbearbeitern fällt das deutlich auf, und wir müssen diese Entwicklung bundesweit im Auge behalten.“ Demgegenüber sind nach Einschätzung von Dreiucker die Taten junger Leute, bei denen der Coolness wegen geklaut wird, relativ aus der Mode gekommen. „Solche vermeintlichen Mutproben“, beobachtet der Detektiv, „wurden häufig von sogenannten Challenges in den sozialen Netzwerken abgelöst.“ Nichtsdestotrotz finden sich unter den Tätern nach wie vor viele Kinder und Jugendliche.

Der Mann im langen Mantel und mit Whisky-Vorliebe braucht noch ein Gastgeschenk für eine Party, ist spät dran, muss außerdem sparen („Das Leben ist ja soo teuer geworden“). Das erzählt er zumindest dem Detektiv. „Die meisten Täter fügen sich in ihr Schicksal und leisten keinen Widerstand“, berichtet Dreiucker. Und das gilt ebenfalls für den „Mantel-Mann“. Sicherlich habe das aber auch mit der Art der Ansprache zu tun, vermutet Matthias Dreiucker. Er ist ein freundlicher, ruhiger und besonnener Typ. Und genauso tritt er den Tätern gegenüber. Sofern die friedlich bleiben.

Tricks in Hülle und Fülle
Allerdings müssen sich Detektive auch auf gewalttätige Täter einstellen. In Bremerhaven zum Beispiel reagierte ein Ladendieb Ende März äußerst aggressiv, bedrohte Personal und Polizeibeamte mit einer Schere.

Ähnlich breit wie das Spektrum der Diebe ist das ihrer Tricks. Da werden zum Beispiel Einkaufswagen mit teuren Spirituosen vollgepackt. Darüber wird zur Tarnung Toilettenpapier gelegt – und ab geht es durch den schrankenlosen Ausgang. An den Frischetheken lassen sich Täter Ware abpacken und auszeichnen, „vergessen“ jedoch das Bezahlen. Und die Self-Check-out-Systeme bieten zusätzliche Möglichkeiten für unehrliches beziehungsweise kriminelles Verhalten, etwa durch das Nicht-Scannen von Artikeln.

Ausgeklügelter ist der Trick mit den falschen Anrufern, von dem Dreiucker berichtet. Er kreist um die Paysafe-Karten. Vermeintliche Mitarbeiter aus der Zentrale fordern „Kollegen“ vor Ort auf, sie sollten 100er-Paysafe-Karten suchen und die Codes freirubbeln, damit sie wegen eines angeblich drohenden Diebstahls gesperrt werden könnten. Dank der offengelegten Codes lassen sich die Gutscheine sofort freischalten. Und die Täter verlieren da keine Zeit.

Deutlich steigende Fallzahlen
Technische und sonstige Schutzmaßnahmen sind zwar facettenreicher und erschwinglicher geworden: 2022 investierte der Handel, also nicht nur der LEH, nach Angaben des EHI Retail Institute 1,3 Milliarden Euro in Sicherheits- und Präventionsmaßnahmen wie Artikelsicherung, Kameraüberwachung oder Detektiveinsätze. Arbeitslos werden Matthias Dreiucker und die anderen Ladendetektive also nicht.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2022 listet 344.669 Fälle von Ladendiebstahl auf. Das waren fast 88.000 Fälle und 34,3 Prozent mehr als 2021. In der Kategorie der Diebstähle haben Ladendiebstähle im vergangenen Jahr einen Anteil von 19,4 Prozent erreicht (gegenüber 15,7 Prozent im Jahr 2021). Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Davon ist auch Matthias Dreiucker überzeugt: „Höchstens jeder 20. Ladendiebstahl wird entdeckt.“ Und: Die Polizei wird nur dann verständigt, wenn sich der Täter uneinsichtig zeigt oder wenn die Marktleitung darauf besteht.

Auch der „Mantel-Mann“ kommt mit einer Strafzahlung an den Lebensmitteleinzelhändler und einem einjährigen Hausverbot davon. Matthias Dreiucker atmet tief durch, setzt sich wieder an seine Videoüberwachung: „Eine Stunde noch. Dann ist Feierabend.“