Roundtable Food Waste „Bitte auch die Praxis berücksichtigen“

Die Regierungskoalition will die vermeintliche Lebensmittelverschwendung weiter reduzieren. Wie das dann funktionieren soll, diskutierte die LP mit Handel und Verbänden.

Donnerstag, 06. April 2023 - Management
Petra Klein und Andrea Kurtz
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Olivier Kölsch, Geschäftsführer, BVE: „Ich warne vor Scheinlösungen. Kein Unternehmen kann es sich leisten, Lebensmittel wegzuwerfen.“
Bildquelle: Adobe Stock, Santiago Engelhardt

Ambitionierte Ziele: Bis 2030 will das grün geführte Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) die Lebensmittelverschwendung in Deutschland pro Kopf auf Einzelhandels- und Verbraucherebene halbieren. Es droht aber noch mehr Ungemach: Erst kürzlich hatte der gemeinsame Vorstoß von BMEL-Chef Cem Özdemir und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zur Straffreiheit des Containerns für Furore gesorgt. Noch genießbare Lebensmittel würden zu oft im Müll landen, findet die Politik. Daher soll es erlaubt sein, abgelaufene Lebensmittel aus den Müllcontainern von Supermärkten zu fischen, um sie zu retten. Gründe genug für die LP, mit Vertretern von Handel, Industrie, Gastronomie sowie Organisationen wie dem WWF, den Tafeln und Too Good to Go über Sinn und Unsinn weiterer gesetzlicher Vorgaben zu sprechen.

These I: Die Schuldfrage ist irrelevant

Die Einstiegsfrage des runden Tischs: Bei wem liegt die Schuld, dass Lebensmittel im Müll landen? Schon diese Frage mag Christian Böttcher (BVLH) so nicht stehen lassen. Verantwortlich seien die Akteure an allen Schnittstellen. Explizit verwahrt er sich gegen das Containern. Die Initiative der Minister Özdemir und Buschmann sei juristisch unnötig und in der Sache wirkungslos. Gerade der Lebensmittelhandel arbeite intensiv an dem Ziel, die Nahrungsmittelverluste zu senken. Allerdings fielen ohnehin lediglich 7 Prozent der gesamten Nahrungsmittelverluste in Deutschland im Handel mit Lebensmitteln an. Darüber hinaus habe sich der Verbraucher verändert. „Die Verfügbarkeit der Produkte war immer selbstverständlich. Das hat sich geändert“, so Böttcher in Anspielung auf strapazierte Lieferketten durch Corona und den Ukraine-Krieg. Als Nebeneffekt sei die Wertschätzung für Lebensmittel größer.

Robert Jablonski, Leiter des E-Centers No. 1 in Berlin-Steglitz, berichtet von Aktionen, bei denen Verbraucher Lebensmittel für ein Drittel des Preises retten könnten. „Der Vorteil ist die gleichzeitige Erschließung neuer Kunden“, ergänzt er. Der Handel habe ein Interesse, verzehrbare Produkte nicht wegzuwerfen, bekräftigte Martina Erxleben, Marktleiterin bei Edeka Görse & Meichsner in Berlin. Beispielsweise würden optisch nicht mehr makellose, aber verzehrfähige Erzeugnisse in Tüten verpackt zu einem „akzeptablen Preis“ abgegeben.

Olivier Kölsch, Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), stellt klar, dass es sich „keiner leisten kann, Lebensmittel wegzuwerfen“. Mit Blick auf Überproduktionen in der Industrie gelte es, die Kette genau daraufhin anzuschauen, wo noch Potenziale zu heben seien. Als Worst Case bezeichnet es auch Dr. Sabine Eichner, Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstituts (dti), wenn fertig produzierte Lebensmittel im Müll landen. Ihre Branche kann allerdings mit sehr guten Werten mit Blick auf Weggeworfenes aufwarten. Lediglich 0,2 Prozent Tiefkühlprodukte trifft es. Ein aktuelles Pilotprojekt des dti belegt demnach, dass Tiefkühlprodukte die Lebensmittelverschwendung reduzieren. Verarbeitungsprozesse müssten genau unter die Lupe genommen werden, um Verluste bei stofflichen Nahrungsströmen noch stärker zu vermeiden. Das dti erfasse bereits Daten zu Lebensmittelverlusten in der Verarbeitung, die den Betrieben helfen, ihre Prozesse noch ressourceneffizienter zu steuern. Beispielsweise könnten Kartoffeln noch effizienter geschält werden.

Die Tafeln ächzen dagegen seit der Krise unter steigenden Kundenzahlen – ohne über höhere Lebensmittelangebote verfügen zu können. Die Tafeln gebe es seit 30 Jahren, erläutert Anna Verres von Tafel Deutschland. Das Bewusstsein, Lebensmittel auf diese Weise zu retten, sei erheblich größer geworden. Und auch konkurrenzlos, sagt Verres. Too Good To Go beispielsweise, ein Unternehmen, das angetreten ist, die Abgabe von überschüssigen Lebensmitteln zu vergünstigten Preisen zu ermöglichen, sei „kein Gegenpart, sondern eine optimale Ergänzung zu bestehenden Systemen“, erläutert Nastassja Wohnhas von Too Good to Go. „Mit gerechter Verteilung ist genug da“, bestätigt denn auch Anna Verres.

Ein Reduktionspotenzial von durchschnittlich 30 Prozent in der Gemeinschaftsverpflegung hält Nadja Flohr-Spence von United Against Waste (UAW) für möglich. Vorzeigebetriebe seien bereits auf einem hervorragenden Weg dahin. Viele Betriebe verfügten allerdings noch nicht über Monitoringsysteme. Deren Installation sei teuer, könne sich aber schnell amortisieren.

These II: Die Politik schaut zu wenig auf die Praxis in Industrie und Handel

Im Verlauf der Diskussion steht auch die Frage nach den rechtlichen Rahmenbedingungen und den Erwartungen an die Politik im Raum. Christian Böttcher bedauert, „dass die politisch Verantwortlichen es sich immer leicht machen und den Handel in die Pflicht nehmen“. „Es gilt das Motto ‚Löst das Problem‘“, sagt er. Das sei „wohlfeil“. Die Branche habe dazu keine Möglichkeiten und wünsche sich stattdessen „mehr Einsicht“. Die Zielmarke von 50 Prozent weniger Verschwendung sei nicht machbar. Im Übrigen funktionierten nur freiwillige Ansätze. „Damit gelingt den Handelsunternehmen der Spagat zwischen Erfüllung der Kundenwünsche und Ressourcenschonung am besten“, betont Böttcher.

Kollenda räumt ein, dass es viele „spannende Ansätze“ gebe und auch freiwillige Vereinbarungen zum Erfolg führen könnten. Die Politik solle „Anreize geben, eine unterstützende Rolle spielen, aber aufgrund der Dringlichkeit des Problems nun auch den politischen Rahmen für mehr Verbindlichkeit setzen“, empfiehlt sie.

„Die Dinge sind komplex“, bekräftigt auch Olivier Kölsch und warnt vor „Scheinlösungen“. „Ein echter Dialog, wo Schnittstellenprobleme in der Lebensmittelwertschöpfungskette angesprochen werden, fehlt“, bedauert Kölsch. Beim „Containern“ beispielsweise habe die Lebensmittelsicherheit für die Branche oberste Priorität. Dies gelte grundsätzlich überall, wo es zu Zielkonflikten zwischen der Reduzierung von Lebensmittelabfällen und der Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln komme. Die Runde ist sich einig, dass es zwar viel Dialog, aber wenig Substanz gebe. „Wir können viel erreichen. Die Ansätze dazu sind da“, ist auch Eichner überzeugt. Aber: Die ausgestreckte Hand der Wirtschaft werde von der Politik nicht angenommen. Nadja Flohr-Spence pflichtet ihr bei diesem pragmatischen Ansatz bei. „An Methoden mangelt es nicht.“

Eichner warnt auch vor vermeintlich „einfachen Lösungen“. Ihr Vorschlag: „Die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung muss in jedem Unternehmen zum ‚business case‘ werden – also zur vorrangigen Managementaufgabe“, sagt sie. „Pragmatismus ist gefragt.“

Anna Verres von den Tafeln dagegen beklagt, dass es keine Förderung für eine logistische Infrastruktur gebe. „Wir retten immer mehr bei produzierenden Unternehmen“, berichtet sie. Daher sei die Logistik und deren Finanzierung so wichtig.

Die Herausforderungen der Unternehmen, um Lebensmittelspenden rechtssicher zu machen, spricht Böttcher an. Nötig sei eine gesetzlich abgesicherte Regelung auch im EU-Recht.

These III: Der Handel steht zu Unrecht am Pranger

Die politische Forderung nach einer 50-Prozent-Einsparung wiesen Industrie und Handel zurück. Dies sei nicht für jeden Betrieb umsetzbar und „für die Verarbeitung ein völlig unrealistisches Ziel“, wie Sabine Eichner betont. Dagegen müsse die Frage erlaubt sein, welche Forderungen die Verbraucher an den Handel zurückspielten. Marktleiterin Martina Erxleben bekräftigt dies und beschreibt einen durchschnittlichen, „mäkeligen Konsumenten“. Beispielsweise seien Brötchen mit Delle oder Äpfel mit Flecken oft nicht verkäuflich.

Elisa Kollenda vom WWF widerspricht. „Es gibt eine große Marktmacht. Der Handel kann mit den Verbrauchern kommunizieren und beispielsweise optische Mängel an Obst und Gemüse erklären“, betont sie.

Beispiel Backwaren: Diese belegten Böttcher zufolge den Spitzenplatz bei den Abschreibungen. Allerdings habe sich „viel getan“, und die Abschreibungen seien inzwischen rückläufig. Probate Mittel seien Preisauszeichnungen per künstlicher Intelligenz, um die Kunden zum Kauf der Produkte zu bewegen.

These IV: Containern und Umbenennung des MHD lösen das Problem nicht

Containern straffrei zu stellen, löse das Problem nicht, so Böttcher. Im Gegenteil, man erzeuge damit den falschen Eindruck, dass Lebensmittel aus dem Abfall unbedenklich seien. Eine ähnliche Scheindebatte werde auch um das Mindesthaltbarkeitsdatum geführt.

„Die meisten Produkte, die im Müll landen, sind Frischeprodukte ohne MHD“, stimmt auch BVE-Geschäftsführer Kölsch zu. Beim MHD herrsche viel Unsicherheit beim Verbraucher, ist Anna Verres überzeugt, und Nastassja Wohnhas von Too Good to Go ergänzt: „Aus diesem Grund haben wir die Initiative ‚Oft länger gut‘ zur Sensibilisierung von Verbrauchern ins Leben gerufen.“ Einig ist sich die Runde in der Erkenntnis, dass bei der Verbraucheraufklärung alle Akteure gefragt sind.

Auch für die Praktiker vor Ort ist das MHD „ein großes Thema“. Edekanerin Erxleben führt an, dass rund 10 Prozent der Lebensmittel in der EU, die in der Tonne landeten, einem Missverständnis geschuldet seien. „Kunden glauben, wenn ein Produkt abgelaufen ist, müsste es vernichtet werden“, sagt sie. „Wir müssen den Verbraucher als Hauptverantwortlichen für das Thema Lebensmittelverschwendung sensibilisieren“, findet auch Edeka-Kaufmann Jablonski. „Dazu gehört vor allem die Aufklärung, dass bei Ablauf des MHD ein Produkt nicht immer weggeworfen werden muss.“

Böttcher plädiert aber dafür, den MHD-Begriff beizubehalten. „Die Suche nach neuen Bezeichnungen löst das Problem nicht.“

These V: Das Sparziel von 50 Prozent weniger Lebensmittelverschwendung ist unrealistisch

Das politische Einsparziel bleibt Knackpunkt der Diskussion. Der WWF und Too Good To Go halten verbindliche Ziele für wichtig. „Niemand hat geprüft, ob die Zahl zur Eindämmung realistisch ist“, erwidert Böttcher. Der Handel habe Abschreibun-gen von gerade einmal 1,5 Prozent: „Ohne Eingriff in die Angebotsvielfalt ist das nicht machbar.“

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Anna Verres, Leitung Kommunikation, Tafel Deutschland:
Bild öffnen Olivier Kölsch, Geschäftsführer, BVE: „Ich warne vor Scheinlösungen. Kein Unternehmen kann es sich leisten, Lebensmittel wegzuwerfen.“
Bild öffnen Elisa Kollenda, Referentin, WWF: „Der Handel kann und muss mit den Verbrauchern kommunizieren und auch optische Mängel erklären.“
Bild öffnen Nastassja Wohnhas, Public Affairs, Too Good To Go: „Die Entsorgung muss der teuerste und umständlichste Umgang mit überschüssigen Lebensmitteln werden.“
Bild öffnen Christian Böttcher, Leiter Politik/Kommunikation, BVLH: „Der Lebensmitteleinzelhandel konnte seine Abschriften um 12 Prozent senken.“
Bild öffnen Nadja Flohr-Spence, Projektleiterin, United Against Waste (UAW): „Betriebe der Gemeinschaftsverpflegung benötigen Begleitung bei der Reduktion von Lebensmittelabfällen.“
Bild öffnen Dr. Sabine Eichner, Geschäftsführerin, dti: „Tiefkühlprodukte werden entlang der Wertschöpfungskette und vom Verbraucher kaum weggeworfen.“
Bild öffnen Robert Jablonski, E-Center No. 1, Berlin: „Rabattaktionen sind sinnvoll; der Vorteil liegt in der gleichzeitigen Erschließung neuer Kunden.“
Bild öffnen Martina Erxleben, Marktleiterin bei Edeka Görse & Meichsner: „Die Kunden sind mäkelig; Brötchen mit Delle oder Äpfel mit Flecken sind oft nicht verkäuflich.“