Food Upcycling Von „Müll“ zu Möglichkeiten

Weniger Lebensmittelverluste, mehr Wertschöpfung und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen: Mit Food-Upcycling- und Kreislauf-Konzepten kann die Konsumgüterbranche viel erreichen, um nachhaltiger zu wirtschaften und den Erwartungen der Verbraucher gerecht zu werden. Notwendig sind neue Prozesse zur Verwertung und Beschaffung von Nebenströmen. Dass die Lösung dieser Herausforderungen Innovationen und Zusatzerlöse mitbringt, beweisen nicht nur Start-ups.

Freitag, 24. September 2021 - Management
Bettina Röttig
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Der Instagram-Perfektionismus wird zunehmend gesellschaftskritisch hinterfragt: Wer viele Follower möchte, darf keine Makel zeigen. Innere Werte: oft Nebensache. Dass der Umgang mit Lebensmitteln schon lange nach einem ähnlichen Prinzip abläuft, wird jedoch zu wenig thematisiert. Wurde zu Omas oder Uromas Zeiten jede Gemüseknolle, egal wie krumm, und jedes Teil eines Schlachttieres selbstverständlich verarbeitet und genossen, ist heute Perfektion statt Natürlichkeit bei Obst und Gemüse gefragt. In der Fleischtheke sind vor allem Edelteile gewünscht. In anderen Sortimenten erfordert die Schnäppchen-Mentalität eine extrem effiziente Produktion. Das Resultat: eine Ernährungswirtschaft, die Reste erzeugt, die im schlimmsten Fall entsorgt werden.

Nun musste der Begriff „Food Upcycling“ (Aufwertung von Reststoffen) erfunden werden, um zurückzu‧kommen zu früheren Werten und einer Wirtschaft, die Produktionsreste in den Kreislauf zurückführt. Wenn hippe Begriffe es richten, dann bitte schön – der Zweck heiligt die Mittel.

Denn es besteht dringender Handlungsbedarf, um Lebensmittelverschwendung – zu Neudeutsch „Food Waste“ – zu reduzieren und ihr vorzubeugen. Das lässt sich schon an ‧einer Zahl ablesen. Rund 8 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen schreibt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) der Lebensmittelverschwendung zu. Wäre „Food Waste“ ein Land, dann stünde es an dritter Stelle der größten globalen CO2-Emittenten. Hinzu kommen verschwendete Agrarflächen, Wasser, Arbeitskraft und anderes.

Das Thema ist auch beim Verbraucher angekommen, der sich selbst zu Recht mit in der Verantwortung sieht. 83 Prozent der Bundesbürger sehen im Kampf gegen Lebensmittelverluste den Lebensmittel-Einzelhandel in der Pflicht, zeigt eine aktuelle Studie von Innofact im Auftrag von Danone und Too Good To Go. Ein Großteil der Befragten erwartet zudem, dass Lebensmittelindustrie (79 Prozent) und Landwirtschaft (77 Prozent) Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung ergreifen. Unternehmen sollten alle Prozesse der Wertschöpfungskette so umstellen, dass minimale Lebensmittelverluste anfallen, so eine Forderung.

Vorhandene Ressourcen wie Produktionsreste und Nebenströme unternehmensintern besser zu nutzen ist ein Weg. Aber auch der Handel mit diesen wird zunehmend erschlossen. Denn: Was für ein Unternehmen Produktionsabfall ist, kann für ein anderes ein wahrer Schatz sein. So kam der Markt für „upgecycelte Lebensmittel“ nach Analysen der Marktforscher von Future Market Insights 2019 bereits auf einen Wert von 46,7 Milliarden US-Dollar (38,6 Milliarden Euro).

Ganzheitlich denken
Beispiele dafür, wie übrig gebliebene Lebensmittel weiterverarbeitet werden, gibt es mittlerweile einige. So haben sich Unternehmen dem Problemthema Altbrot gewidmet. In der Schweiz wird Bier daraus gebraut (Brauerei Locher), in Konstanz wird es zu Knödeln im Glas verarbeitet (Knödelkult). Krummes Obst und Gemüse schafft es häufiger in die Supermärkte, sowohl als frische Ware als auch in verarbeiteten Produkten. Landgard etwa vermarktet unter der Marke „Iss so“ frische Obst- und Gemüseprodukte, die zum Beispiel durch Hagel oder Unwetter einen äußeren Schaden erlitten haben. Mit der Marke will das Unternehmen vor allem Verbraucher sensibilisieren und ihnen „Sonderlinge“ schmackhaft machen.

Wie viel Wert in Resten steckt, entdecken Nahrungsmittelhersteller aktuell vor allem am Beispiel der Kakaofrucht. Dass sich von dieser mehr nutzen lässt als nur die Bohnen, das haben Schokoladenhersteller wie Barry Callebaut und Ritter Sport nicht nur verstanden, sondern auch umgesetzt. Kakaofruchtsaft wird in ersten Produkten als Süßungsmittel oder geschmacksgebende Zutat eingesetzt, die Schale, zu Pulver vermahlen, das reich an Ballaststoffen und Nährstoffen ist, kommt in Backwaren zum Einsatz. Ritter Sport hat sogar eine neue Produktkategorie für sich erschlossen: Cacao Vida heißt ein Erfrischungsgetränk auf Basis von Kakaofruchtfleisch (siehe Seite 34). „Langfristig kann zum Beispiel die Verwertung des Kakaosaftes auch eine zusätzliche Einkommensquelle für die Bauern darstellen“, meint Michael Lessmann, Managing Director DACH + Nordics, Ritter Sport.

Eine wachsende Anzahl an Start-ups hat Upcycling zum Kern ihrer Marken gemacht. Die Marke Rettergut (Dörrwerk) bietet Pestos und Suppen oder auch mal Bier aus krummem und überschüssigem Obst und Gemüse an und rettet Schokolade (siehe Beitrag Seite 26). Philipp Prechtner, Geschäftsführer von Dörrwerk, entwickelt mit seinem Team praktikable Lösungen gemeinsam mit der Industrie, um aus Produktionsresten und -nebenströmen neue Produkte zu kreieren.

Neu auf dem Markt ist auch die Zero Bullshit Company. Gegründet von drei Doktoranden der Universität Hohenheim im Fachbereich Lebensmitteltechnologie, stellt das Start-up die „Better Cracker“ aus Apfelfaser, Kürbiskernmehl und Sonnenblumenprotein her – alles Rohstoffe, die in der verarbeitenden Industrie als Überbleibsel anfallen. Auf einen Anteil von 30 Prozent kommen die Upcycling-Zutaten in dem Bio-Cracker.

Chancen und Herausforderungen
Nachhaltige Kosmetik und Haushaltsprodukte bietet die junge Marke As easy as that. In den Kosmetikprodukten kommen beispielsweise Fruchtzellwasser und Fasern aus der Apfelsaftproduktion zum Einsatz. Das Apfelwasser ersetzt Frischwasser, die Apfelfasern dienen der Stabilisierung. „Bei unserer Marke handelt es sich um eine nachhaltige Kosmetikmarke, die naturnah agiert“, so Gründerin Katrin Steinbach. Der Anteil der Upcycling-Rohstoffe in den Kosmetikprodukten werde so groß wie möglich gehalten.

Die Vorteile, die Upcycling-Konzepte für Anbieter und Abnehmer von Nebenströmen bieten, sind vielfältig, meint Steinbach. „Für uns Markenhersteller bedeutet die Verwendung von Upcycling-Stoffen einen sehr nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und einen signifikant reduzierten CO2-Fußabdruck der finalen Produkte. Natürlich ist der Einsatz von Upcycling-Stoffen auch ein Mar‧ketingtool, um Nachhaltigkeit zu kommunizieren.“ Allerdings sei das Thema bei den Konsumenten noch wenig bekannt, sodass zunächst viel Aufklärungsarbeit geleistet werden müsse. Auf der Lieferantenseite eröffneten sich durch den Verkauf von Nebenströmen neue Absatzmärkte und nachhaltige Einnahmequellen, zugleich würden aber erst mal durch zusätzliche Verarbeitungsprozesse Investitionen notwendig.

Rettergut-Gründer Prechtner verdeutlicht: „Lebensmittelrettung ist teuer. Wir müssen um die Ecke denken, um neue Verarbeitungswege und Produktinnovationen zu entwickeln. Es dauert länger und kostet mehr, wenn krummes Gemüse geschält und geschnitten wird, auch sind die Verarbeitungsmengen für Rettergut-Produkte weitaus geringer als die der großen Industriemarken.“ Vor allem jedoch zahle das Unternehmen faire und keine Billigpreise für die Rohwaren.

Aktuell sei die Verfügbarkeit von Upcycling-Stoffen noch gering, da das Thema auch unter Herstellern noch eher unbekannt sei, meint Steinbach. „Die Schwierigkeit ist also, an die passenden Rohstoffe zu kommen und diese dann in den notwendigen Mengen zu beschaffen.“

Matchmaking
Damit sind wir bei einer zentralen Frage auf dem Weg zu einer zirkulären Wirtschaft: Wie finden Anbieter und Abnehmer von Nebenströmen aus Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie zusammen? Erste Organisationen übernehmen die Rolle des „Kupplers“. In Europa arbeitet das Team des Schweizer Start-ups Rethink Resource als Berater, Innovationsagentur und Ingenieure mit der Industrie an Umsetzungsprojekten zum Thema Circular Economy und Upcycling. Gründerin und CEO Linda Grieder: „Nebenströme aus der Lebensmittelindustrie haben Riesenpotenzial, da sie in großen Mengen und regelmäßig verfügbar sind und noch sehr viele hochwertige Eigenschaften besitzen.“

Beispiele aus der Kosmetikindustrie seien die Verwertung von Fruchtkernen als Peelingmaterial oder die Extraktion von an Antioxidantien reichem Kaffeeöl aus Kaffeesatz. „Bei all unseren Produkten steht die Nutzung industrieübergreifender Potenziale im Vordergrund. Wir behalten dabei immer im Blick, Kreisläufe zu schließen, lokale Lösungen zu finden und ökonomisch sinnvolle Modelle umzusetzen“, so Grieder.

Zertifizierungsstandard nötig?
Mit der digitalen Plattform Circado will Rethink Resource ab Ende 2021 den Markt für industrielle Nebenströme eröffnen. Die Plattform beinhaltet in der Beta-Variante unter anderem eine Datenbank und Handelsmechanismen. Zugelassene Nutzer können Nebenströme registrieren, in die Datenbank eintragen und potenziell damit handeln. Grieder und ihr Team kooperieren mit Universitäten und Laboren. So können Nutzer der Plattform Proben ihrer Materialien und Reststoffe einschicken und analysieren lassen. Sie erhalten dann ein genaues Profil, das sie in die Datenbank eintragen können. „Viele Lebensmittelströme sind für die Duft- und Geschmacksstoffindustrie interessant. Für sie kommt es auf ganz bestimmte Moleküle an. So untersucht die Technische Universität München Stoffe beispielsweise auf ihr Molekülprofil hin“, erklärt Grieder. Je detaillierter das Profil in der Datenbank, desto höher die Chancen auf ein Match.

Braucht es ein einheitliches Label und Kriterien für Upcycling- und Kreislauf-Konzepte, um das Vermarktungspotenzial zu heben und Augenwischerei vorzubeugen? Ein Label sieht Rettergut-Erfinder Prechtner derzeit nicht als notwendig an, aber „Standards helfen immer“. Schließlich drängen sich Fragen auf: Wie definiert man Lebensmittelrettung? Und wie hoch muss der Mindestanteil an Upcycling-Inhaltsstoffen sein?

In den USA hat die Upcycled Food Association (UFA) im ersten Halbjahr 2021 einen neuen Zertifizierungsstandard vorgestellt und mit 16 Unternehmen getestet. Das Label „Upcycled Certified“ kann für Rohstoffe oder Produkte beantragt werden, die mit Resten aus der Lebensmittelproduktion hergestellt werden. Die Definition von Upcycled Food laut UFA: Upcycled Foods „nutzen Inhaltsstoffe, die sonst nicht für die menschliche Ernährung verwendet worden wären, aus gesicherten Lieferketten stammen und eine positive Wirkung auf die Umwelt haben“. Es wird je nach Anteil von geretteten Zutaten zwischen drei Labels unterschieden: 1. Produkt mit Upcycling-Inhaltsstoffen (Mindestanteil: 10 Prozent Gewichtsanteil am Endverbraucherprodukt); 2. Upgecycelte Zutat (mindestens 95 Prozent „Retter-Anteil“; Großhandelsware); 3. dürfen Produkte, die weniger als 10 Prozent Upcycling-Inhaltsstoffe beinhalten, das Zeichen „Upcycled Certified Minimal Content“ (minimaler Inhalt an Upcycling-Rohstoffen) tragen.

Zero Waste als Ziel
Ohne hippe Begriffe und Labels haben auch etablierte Unternehmen längst Prozesse aufgesetzt, um Kreisläufe zu schließen und Abfälle zu vermeiden. „Nichts kommt weg“ – unter diesem Motto hat die Bio-Zentrale erreicht, dass Lebensmittelverluste bei der eigenen Produktion auf null Prozent reduziert wurden. „Zentraler Baustein hierfür sind ‧unsere bedarfsgerechten Rohwarenbestellungen sowie unsere effiziente Logistik“, erklärt Marketingleiter Dennis Lange. So achtet das Unternehmen am Firmensitz im bayerischen Wittibreut-Ulbering darauf, dass immer nur ein sehr geringer Lagerbestand an Rohwaren für die Produktion von Riegeln, Müslis oder Fertiggerichten aufgebaut wird und dadurch die Haltbarkeit der Rohwaren möglichst gar nicht erst in einen kritischen Bereich gerät. Sollte dennoch ein Überschuss entstehen, wird dieser rechtzeitig Dritten angeboten und weiterverkauft. Angefallene Lebensmittelreste werden der nächsten Produktion zugeführt, während Nach- und Nebenprodukte als Tierfutter weiterverwertet werden.

Die Hygienepapierexperten Essity und Hakle haben Verfahren entwickelt, um aus Nebenströmen wie Weizenstroh, Gras und Kaffeesatz Küchen- und Toilettenpapier herzustellen. Naturkosmetik-Pionier Weleda nutzt eine Reihe von Überbleibseln aus der Lebensmittelproduktion in seinen Naturkosmetikprodukten. So gewinnen die Schweizer etwa Aprikosen- und Pfirsichkernöl aus den entsprechenden Reststoffen aus der Trockenfrucht- und Dosenfruchtherstellung, Hagebuttenkernöl aus den Kernen bei der Hagebuttentee-Trocknung sowie Granatapfel- und Sanddornkernöl aus den Kernen, welche bei der Saftherstellung anfallen. Auch in der eigenen Produktion fallen in größerem Umfang Reststoffe an. Allein in Deutschland verarbeitet Weleda nach eigenen Angaben etwa 180 Tonnen Pflanzen pro Jahr. Daraus gewinnt das Unternehmen etwa 500 Tonnen Pflanzenauszüge und 200 Tonnen Trester. „Aus diesen 200 Tonnen gewinnen wir in unserem Heilpflanzengarten Kompost. So haben wir hier einen geschlossenen Rohstoffkreislauf, der den Boden anreichert und CO2 bindet“, heißt es aus dem Unternehmen.

Schon gewusst?

Aus einem Nebenprodukt der Käseherstellung gewinnen Norweger eines ihrer kulinarischen Aushängeschilder: Für Brunost, den „braunen Käse“, wird Molke eingekocht und karamellisiert. Der süßlich-herzhafte Käse mit knetbarer Konsistenz ist ein Exportschlager und schmeckt hervorragend auf heißen Waffeln.