Klimaschutz Gekaufter Klimaschutz

„Klimaneutralität“ wird in der Ernährungsbranche zu einem zentralen Parameter im Wettbewerb und in der Werbung – und beschäftigt bereits die Gerichte. Wie Unternehmen das Thema Klimaschutz für Konsumenten greifbar machen und wo die Politik gefordert ist.

Dienstag, 06. Juli 2021 - Management
Bettina Röttig
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Was haben Rapsöl, Gesichtscreme und Kondome gemeinsam? Kein Scherz: Sie alle gibt es bereits als klimaneutrale Varianten. Die Zahl der Produkte, Marken und Unternehmen, die mit eingebautem Klimaschutz werben, wird täglich länger. Denn Studien zeigen: Verbraucher wollen klimafreundlicher einkaufen. In anderen Ländern klingt dies übrigens enthusiastischer und cleverer: Coop Dänemark spricht von „klimaglad mad“ – wörtlich übersetzt „klimaglückliches Essen“, in Schweden kauft man „klimasmart“.

Die Bundesbürger sehen neben Industrie, Handel und Landwirtschaft vor allem sich selbst in der Pflicht, ihren Beitrag zur Reduktion der Treibhausgasemissionen im Bereich Ernährung zu leisten. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag von Nestlé (siehe Grafik Seite 18). Mehr als jeder zweite Konsument behauptet demnach von sich, er achte auf eine klimafreundliche Ernährung (9 Prozent stimmten der Aussage „voll und ganz“, 47 Prozent stimmen „eher“ zu). Zugleich meinen lediglich 31 Prozent der Befragten, die Klimaeffekte ihrer Ernährungsgewohnheiten überhaupt einschätzen zu können. Es gilt also, mehr aufzuklären und den Verbraucher mitzunehmen, am Point of Sale und darüber hinaus.

Und hier setzen Händler und Hersteller an. „Iss mal was fürs Klima“, so der Appell der Marke Veganz im TV. Der grüne Reiniger Frosch wirbt auf Plakaten mit dem Slogan „Für aktiven Klimaschutz“ und die Kondom-Marke Billy Boy ruft mit ihrer neuen grünen Variante dazu auf: „Liebt euch klimaneutral.“

Im Zentrum der Strategien und Kommunikation stehen die Treibhausgasemissionen. Setzen einige Unternehmen wie Oatly oder Veganz darauf, den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte zu kommunizieren, loben andere die Klimaneutralität oder gar Klimapositivität aus.

Wer es „gut“ macht, hat zum Erreichen der grünen Null zunächst den CO2-Fußabdruck berechnet, Treibhausgasemissionen entlang der Wertschöpfungskette weitestgehend reduziert und vermieden, und lässt im letzten Schritt nicht vermeidbare Emissionen durch zertifizierte Projekte wie Baumpflanzungen ausgleichen. Wem das zu aufwendig oder zu teuer ist, nimmt mehr oder weniger unmittelbar die „Abkürzung“ zu Kompensationsprojekten. Doch dieses Vorgehen wird zusehends abgestraft.

So klagt die Wettbewerbszentrale nach Beschwerden gegen Aldi Süd und andere Unternehmen. Der Vorwurf: irreführende und intransparente Werbung. Dabei stört sich die Behörde zum Beispiel daran, dass sich der Discounter als „erster klimaneutraler Lebensmitteleinzelhändler“ bezeichnet. Mit solchen Aussagen werde der Eindruck erweckt, dass die Klimaneutralität „zu 100 Prozent durch emissionsvermeidende beziehungsweise emissionsreduzierende Maßnahmen erreicht wird, die das werbende Unternehmen selbst und seine Produkte betreffen (eigene Produktionsprozesse, Logistik, Vertrieb)“. In den beanstandeten Fällen stelle die angebliche „Klimaneutralität“ aber lediglich ein rechnerisches Ergebnis dar, das durch den Kauf von CO2-Ausgleichszertifikaten erreicht werde.

 Billig-Zertifikate statt Taten
Schaut man sich die Preise an, wird deutlich, wie groß die Versuchung sein kann, Abkürzungen zu nehmen. Zertifikate in Entwicklungs- und Schwellenländern lassen sich laut Wettbewerbszentrale schon ab 1 Euro pro Tonne CO2 erwerben. Zertifikate, die Klimaschutzprojekte in Deutschland oder Europa fördern, kosten deutlich mehr als solche für dieselbe CO2-Kompensation in Dritte-Welt-Ländern. Zudem sei die Qualität der Zertifikate unterschiedlich und entscheidend.
Von Unternehmen, die mit dem Aspekt der Klimaneutralität werben, fordert die Institution klare und transparente Informationen nicht nur zum Anteil der selbst gestemmten Reduktions- und Vermeidungsmaßnahmen, sondern auch zu Art und Ort der durchgeführten Ausgleichsprojekte. Nur so könne ein Kunde eine informierte Entscheidung treffen. Und es sei Voraussetzung für einen Innovationswettbewerb um eigene Maßnahmen der Emissionsminderung und -vermeidung. Nur dieser führe zu mehr Umweltschutz.

Die Gerichte sollen klären, welche Bedingungen es für die Werbung mit dem Begriff „klimaneutral“ gibt. Die Entscheidungen werden Einfluss haben auf die künftige Bedeutung von CO2-Kompensationen. Unternehmen sehen das Einschreiten der Wettbewerbszentrale durchaus positiv.

Nach Meinung von Mathias Kollmann, Geschäftsführer der Bohlsener Mühle, setzen die Abmahnungen ein wichtiges Zeichen. „Es kann so nicht funktionieren, indem Geld auf den Tisch gelegt und Kompensation betrieben wird. Wir müssen unser Verhalten verändern, bestehende Prozesse immer wieder hinterfragen.“ Auch Nestlé-Deutschland-Chef Marc-Aurel Boersch befürwortet es, wenn Green Washing öffentlich gemacht wird (Interview Seite 21). Er sieht dies als Ansporn, das Klimaengagement von Grund auf richtig anzugehen und zu kommunizieren.

Dr. Axel Kölle, Leiter des ZNU – Zentrum für Nachhaltige Unternehmensführung der Universität Witten/Herdecke, überrascht die Klagewelle nicht. Er erklärt Problemfälle: „Klimaneutrale Produkte spiegeln häufig nicht das gesamte Sortiment und schon gar nicht Unternehmensstandorte wider. Es besteht die Gefahr, dass sich Unternehmen – Hersteller wie Händler – über einzelne Produkte ,green-washen‘.“ Die Oberste Regel müsse lauten, zuallererst am eigenen Standort zu beginnen und sich – nach fundierter Status-quo-Erfassung – kontinuierlich auf das Vermeiden und Vermindern von CO2-Emissionen zu konzentrieren und zu investieren. Hierauf legt das Institut mit seinem „ZNU goes Zero“-Ansatz Wert. Einige Anbieter ermittelten Produktklimabilanzen (PCFs) auf der Basis einer Standortklimabilanz, gibt er ein weiteres Beispiel. „Ein genauer PCF sollte jedoch aus den detaillierten Prozessen, die dem Produkt direkt zurechenbar sind, errechnet werden. Bei einem anderen Vorgehen besteht das Risiko mangelnder Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit in der Kundenansprache“, mahnt Kölle.

Sollte man künftig besser auf Begriffe wie „klimaneutral“ verzichten? Eine Studie von Climatepartner legt das Gegenteil nahe. Rund 90 Prozent der befragten Verbraucher meinen, gut darüber informiert zu sein, was unter dem Begriff „klimaneutral“ zu verstehen ist. 74 Prozent antworteten positiv auf die Frage: „Das Label ,klimaneutral‘ bestätigt, dass die CO2-Emissionen eines Produktes kompensiert wurden. Würde diese Information Ihre zukünftigen Kaufentscheidungen beeinflussen?“ Sie sehen ein solches Label als Entscheidungshilfe beim Einkauf.

Das beste Mittel für Glaubwürdigkeit im Klimaschutz sei Transparenz, betont Tristan A. Foerster, Co-CEO von Climatepartner. Das Unternehmen hat daher vor rund 15 Jahren das Siegel „klimaneutral“ mit integriertem ID-Tracking entwickelt. So sind Informationen darüber abrufbar, welche Emissionen erhoben, auf welche Weise sie ausgeglichen wurden und optional welche Klimaschutzmaßnahmen ein Unternehmen darüber hinaus umgesetzt hat.
Mehr und mehr Unternehmen schließen sich mittlerweile der „Science Based Targets Initiative“ an und lassen ihre Reduktionsziele zertifizieren. Die Initiative definiert und fördert Best Practices im Bereich der wissenschaftsbasierten Zielsetzung zur Emissionsreduktion und bewertet auf unabhängiger Basis, ob die Maßnahmen von Unternehmen das Ziel unterstützen, die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius zu begrenzen. In der Kommunikation zum Kunden wird die Zertifizierung jedoch noch wenig gespielt.

Greifbare Beispiele
„Ich bin der Meinung, dass man die Klimaeffekte von Lebensmitteln Verbrauchern nur durch Aufklärung und Vergleiche näherbringen kann“, sagt Zsuzsanna Varga, Bereichsleiterin Marketing Teutoburger Ölmühle. Der Speiseölhersteller setzt bei seinem klimaneutralen Rapsöl Bio Purea auf ausführliche Informationen und plakative Beispiele. Über Icons auf dem Etikett werden die Herkunft der Bio-Saat (Deutschland und Dänemark), der Einsatz von Windkraft und die energieextensive Herstellung verdeutlicht. Zudem verwendet das Unternehmen Leichtglas statt Normalglas. „Der Gewichtsunterschied beträgt 204 Gramm weniger pro Flasche“, so Varga. So wird auch der Vergleich der CO2-Bilanz herkömmlicher Rapsöle (2,03 kg CO2e/750ml) versus der Bilanz von Bio Purea (0,250 kg CO2e/750ml) thematisiert und die Einsparung „übersetzt“ in einen vorstellbaren Wert: 21 Kilometer Autofahrt. Die Teutoburger Ölmühle arbeitet mit Natureoffice zusammen, um sowohl den Klima-Fußabdruck zu ermitteln als auch die verbleibenden Treibhausgasemissionen – 22.000 Tonnen CO2 – über Projekte auszugleichen. Was man sich unter diesem Volumen vorstellen kann, zeigt das Unternehmen auf der Website. 10 Millionen Zugkilometer könne man für die kompensierten Restemissionen von 22.000 Tonnen CO2 zurücklegen, so ein Beispiel. Die gleiche Menge lässt sich einsparen, wenn 7.326 Personen je einmal während des Zähneputzens das Wasser abdrehen.

„Klimaschutz ist für uns eine Haltung und nichts, mit dem man Werbung macht, um den Profit zu steigern“, sagt Bohlsener-Mühle-Chef Kollmann. „Aber natürlich sehen wir es aber als unseren Auftrag an, Dialog mit allen Stakeholdern zu führen – über Klimaschutz genauso wie über die anderen dringlichen Herausforderungen wie Biodiversität oder regionale, transparente Wertschöpfungsketten sowie faire Preise.“ Das Unternehmen informiert zu diesen Themen über kurze Statements auf den Verpackungen, geht auf der Website in die Tiefe und veröffentlicht dort auch die detaillierte Klimabilanz. Dort erfährt man, wie die Mühle ihr Ziel erreichen will, bis 2025 klimapositiv zu wirtschaften. „Für uns bedeutet das, an unseren Standorten möglichst emissionsfrei zu produzieren, klimaneutrale Energie selbst zu produzieren und die in unserer Lieferkette entstehenden CO2-Emissionen durch Humusaufbau zu binden“, erklärt Philip Luthardt, Leitung Nachhaltigkeitsmanagement. Die Emissionen aus Scope 1 & 2 sollen bis 2025 mit dem Einsatz von echtem Ökogas und Elektromobilität auf nahe null reduziert werden. „Unsere innovative Dinkelspelzenheizung versorgt bereits heute 72 Haushalte im Dorf Bohlsen mit klimaneutraler Wärme. Gemeinsam mit den Haushalten konnten wir so bis heute mehr als 560 Tonnen CO2₂ einsparen“, so Luthardt. Seit 2020 bilanziert das Unternehmen auch Scope 3. Diese Emissionen sollen bis 2025 durch Humusaufbau bei den Landwirten reduziert und kompensiert werden.

Zahlen statt Worte!
Es geht jedoch auch ohne das Wörtchen „klimaneutral“. Eine wachsende Zahl an Unternehmen geht in der Kommunikation den Weg über den CO2-Fußabdruck. „Unserer Meinung nach gibt es so etwas wie ,klimaneutrale‘ Produkte nicht“, sagt Tobias Goj, General Manager DACH bei Oatly. Der Haferdrink-Spezialist gibt die Klimaauswirkungen sichtbar auf der Packung an und hat eine Petition vor den Bundestag gebracht, um eine gesetzlich verpflichtende Auslobung des Klima-Fußabdrucks auf Lebensmitteln zu erwirken. Goj ist sich sicher: „Eine verpflichtende und einheitliche Deklaration des CO2e-Fußabdrucks auf der Verpackung aller Lebensmittel schafft ein System der Transparenz und Verantwortlichkeit. Wenn die Verbraucher die wahren Umweltkosten beim Kauf eines Produktes verstehen und die Unternehmen dadurch dazu verpflichtet werden, nachhaltigere Produkte herzustellen, können wir einen Wandel in der Art und Weise vorantreiben, wie Lebensmittel produziert und konsumiert werden.“

Auch Skalen dienen der Veranschaulichung und dem Vergleich der Klimafreundlich- oder -schädlichkeit. Die Marken Veganz, Tress Brüder und Simply V nutzen bereits den Eaternity-Score. Auch hierüber wird der CO2-Fußabdruck des jeweiligen Produkts, der Wasser-Fußabdruck sowie Informationen zum Schutz des Regenwaldes und Tierwohl auf einen Blick vermittelt und mit einer Sterne-Skala jeweils bewertet.

Lidl testet seit Kurzem die Kennzeichnung Eco-Score. Sie erinnert an den Nutri-Score, zeigt jedoch den ökologischen Fußabdruck eines Produkts (von einem dunkelgrünen A bis zu einem roten E).

Politik in der Pflicht
„Es kommen immer wieder neue Nachhaltigkeitskennzeichnungen auf den Markt – das ist zwar richtig und wichtig, jedoch auch unübersichtlich“, wendet Oatly-Manager Goj ein. Ohne einen verpflichtenden Standard zur Kennzeichnung der Umweltauswirkungen könne keine Vergleichbarkeit gewährleistet werden, betont er.

„Die Unruhe im Markt rund um die Klimaneutralität wird wohl erst verstummen, wenn Transparenz, einheitliche Spielregeln und eine gemeinschaftliche Definition von Klimaneutralität erreicht sind“, meint auch Dr. Axel Kölle, ZNU. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass Politik, Unternehmen, Wirtschaftsverbände, NGOs und Umweltschutzorganisationen konstruktiv an einem Strang zögen und praktikable Lösungen entwickelten und nicht jeder für sich in Zeiten des zunehmenden Wahlkampfes versuche, sich individuell und zum Teil auch unsachlich über das Thema Klimaschutz zu profilieren. „Diese Art gesellschaftlicher Kommunikation führt in der Konsequenz leider häufig dazu, dass Unternehmen – und hier ist insbesondere auch der Mittelstand zu nennen –, die sich seit geraumer Zeit mit zahlreichen Maßnahmen erfolgreich auf den Weg gemacht haben zu mehr Klimaschutz, eher abgestraft werden, da vermeintlich nicht alles perfekt läuft, und die Unternehmen, die nichts machen, ungestört weiter so produzieren können wie bisher.“

Auch in anderen Punkten ist die Politik gefordert. Goj sieht eine von vielen Stellschrauben in der Transparenz der Preisgestaltung tierischer Produkte. „Denn grundsätzlich sind tierische Produkte viel zu günstig, besonders in Anbetracht der Auswirkungen der Fleisch- und Milchindustrie auf Klima und Umwelt.“ So werde Kuhmilch nicht einmal kostendeckend produziert, weshalb hohe Subventionen nötig seien. „Zudem herrscht noch immer steuerliche Ungleichheit: Während Kuhmilch mit 7 Prozent besteuert wird, unterliegen pflanzliche Milchalternativen einem Steuersatz von 19 Prozent.“