Planet Retail Krücken sind weg...

...andere sprinten aber schon: Geht es um die digitale Transformation, dann sieht Boris Planer von Planet Retail den deutschen Lebensmittelhandel nicht so gut aufgestellt.

Donnerstag, 19. Juli 2018 - Management
Boris Planer
Artikelbild Krücken sind weg...

Die digitale Transformation ist für viele Lebensmittelhändler etwas, das man zu vermeiden, zumindest aber möglichst lange hinauszuschieben sucht. Dabei sollte sie vor allem als etwas gesehen werden, wonach die Kunden verlangen werden. Außerdem wird sie die Handelslandschaft in Gewinner und Verlierer spalten. Im Ausland kann man das bereits beobachten.

Der Autor

Boris Planer ist Global Chief Economist bei Planet Retail. Er berichtet im Wechsel mit seinen Kollegen über Entwicklungen im internationalen Handel.

Sowenig wie ein wütendes Nashorn im Safaripark danach fragt, ob an der Zufahrt zur Pausenhütte der Mitarbeiter „Durchfahrt verboten“ steht, sowenig werden die Kunden im Deutschland der kommenden Jahre danach fragen, welches Geschäftsmodell ein Lebensmittelhändler zu betreiben beliebt.

Das Ende der Störerhaftung für Betreiber von WLAN-Netzen vor neun Monaten wird, ebenso wie die rasche Verbreitung von vernetzten Geräten, die Nutzung des Smartphones noch normaler werden lassen. Die Erwartungshaltung der Kunden in Sachen Komfort und Liefergeschwindigkeit wird sich noch weiter nach oben verschieben. Der Online-Anteil am deutschen Einzelhandel überschreitet dieses Jahr die Marke von zehn Prozent – der Gedanke, dass E-Commerce vom Kunden nicht angeommen würde, ist offensichtlich absurd. Inzwischen werden ganz selbstverständlich Bekleidung und Möbel online gekauft, weil augmented reality den Besuch eines stationären Geschäfts immer häufiger überflüssig macht. Als nächstes kommen Autos an die Reihe, und man fragt sich: Wann platzt der Knoten im Lebensmittelhandel?

Der deutsche Lebensmittelhandel ist vom E-Commerce bisher weitestgehend verschont geblieben – nur etwas mehr als ein Prozent der Lebensmittel werden hierzulande online umgesetzt. Wie aber werden die Kunden reagieren, wenn ein Serviceangebot so breitflächig verfügbar, so komfortabel und so zuverlässig ist, dass eine Liefergebühr nicht mehr als Barriere wirkt, sondern als fairer Preis für einen spürbaren Zugewinn an Lebensqualität begriffen wird?

Die Logistikbranche arbeitet kreativ an Lösungen für die berühmte letzte Meile. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich neue kreative Lösungen anbieten. Ob diese Lösungen hierzulande erdacht werden oder im Ausland, spielt kaum eine Rolle, denn die Handelsbranche hat sich enorm globalisiert. Dabei findet die Internationalisierung nicht mehr primär durch die internationale Expansion von Handelsketten statt, sondern durch den rapiden Austausch von Ideen sowie durch die immer schnellere Verbreitung und Anpassung von Technologie. Viele hervorragende Ideen kommen aus China, neuerdings verstärkt aus den USA.

Digitalisierung vereint meistern
Der Durchbruch des Online-Lebensmittelhandels mag noch einige Jahre auf sich warten lassen? Vielleicht. Er mag auf absehbare Zeit nur in dicht besiedelten Gebieten wirtschaftlich betreibbar sein? Möglich – die Urbanisierungsrate in Deutschland beträgt mehr als 75 Prozent. Die technologische Basis für die Analyse von Big Data sowie für die Garantie von Datensicherheit mag für einzelne Unternehmen nicht zu stemmen sein? Mit Sicherheit nicht falsch, doch das Geschäft mit den ausgelagerten Rechenkapazitäten blüht, und im Ausland gibt es bereits die nächsten Entwicklungsschritte zu beobachten.

Handelsunternehmen, die den strategischen Blick resolut nach vorne richten, erkennen mittlerweile, dass sie die digitale Transformation nicht alleine werden stemmen können. Und so hat Walmart eine Partnerschaft mit Google geschlossen, ebenso wie Target und Kroger; im Juni dieses Jahres zogen Carrefour und der chinesische E-Commerce-Riese JD.com nach. Bei diesen Partnerschaften geht es weniger darum, dass Google zum Einzelhändler würde. Stattdessen geht es um gemeinsame Grundlagenforschung in Datenanalyse, Personalisierung, Sortimentsoptimierung und Logistik. Händler, die hier einen Wissensvorsprung erzielen, werden die Kundenbedürfnisse der Zukunft derart gezielt bedienen können, dass es ihre Konkurrenten ernsthaft ins Hintertreffen bringen wird.

Wird das alles morgen geschehen? Sicher nicht. Aber es ist anzunehmen, dass der technologische Fortschritt auch Deutschland erreichen wird. Während die Rewe entschlossen den Aufbau eines Omnichannel-Netzwerks betreibt, Amazon an seinen logistischen Fähigkeiten arbeitet und die Schwarz-Gruppe sowie Globus sich immerhin kreativ-abwartend verhalten, sollten die unabhängigen Kaufleute insbesondere in der Edeka-Gruppe von ihrer Organisation mehr Engagement einfordern. Die Partnerschaft mit Picnic ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung.

Deutschland wirft die E-Commerce-Krücken fort und beginnt zu laufen. Im Ausland wird zum Teil bereits gesprintet. Das Gesetz, wonach ausländische Händler im deutschen Lebensmittelhandel keine Chance haben, ist kein Gesetz für die Ewigkeit. Ebenso wenig wie das Gesetz, dass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei jeder WM die Vorrunde übersteht.