Der Online-Handel mit Lebensmitteln ist in Deutschland ein schwieriges Geschäft. Die Konsumenten sind verwöhnt: Von niedrigen Produktpreisen und einem dichten Ladennetz. So ist der Weg zum nächsten Supermarkt in der Regel nicht weit und Aufschläge für die Lieferung werden ungern in Kauf genommen. Trotz des Einstiegs von E-Commerce-Gigant Amazon (Amazon Fresh), der Investitionen von Rewe, Edeka und Co. in Omni-Channel-Konzepte sowie der Gründung reiner Online-Lebensmittelhändler lag der Marktanteil des Segments E-Food bisher lediglich bei einem mageren Prozent. Bisher heißt: bis zur Ausbreitung des Coronavirus.
Umsatzboom und lange Lieferzeiten
Seit einigen Wochen ist nun die Hölle los. Beim Online-Supermarkt Getnow, in Berlin, München, Frankfurt, Hannover, Essen wie im Großraum Düsseldorf/Neuss aktiv, hat sich die Zahl der Bestellungen schlagartig verdoppelt, die Zahl der Neukundenanmeldungen sei in einigen Städten um 500 Prozent gestiegen, so CMO Thorsten Eder gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Die Lieferzeit liegt aktuell bei zwei Wochen.
Auch der Online-Supermarkts Picnic, der in 30 Städten in Nordrhein-Westfalen vertreten ist, verzeichnet eine doppelt so hohe Nachfrage als zuvor und hat seit Ende Februar fast 200 neue Mitarbeiter eingestellt. Dennoch könne man kaum mit der großen Nachfrage mithalten, berichtet Deutschland-Chef Frederic Knaudt. Mehr als 70.000 Kunden stehen schon auf der Warteliste. Wurden sonst die Bestellungen in der Regel schon am Folgetag geliefert, muss der Kunde jetzt in der Regel bis zur nächsten Woche warten. Ab Anfang April will der Händler nun auch sonntags ausliefern.
Tatsächlich bringt die aktuelle Lage alle etablierten Online-Händler an ihre Grenzen. Ein bis zwei Wochen sind auch beim Rewe Online-Angebot (verfügbar in 75 Städten) mittlerweile nicht ungewöhnlich. Die Drogeriemarktkette DM weist online darauf hin, dass sich Verbraucher nun auf Lieferzeiten von neun bis zwölf anstatt zwei bis drei Werktagen einstellen müssen, bei Rossmann sind es aktuell 13 bis 14 Werktage.
Selbst Amazon musste auf Grund der hohen Nachfrage Anpassungen vornehmen. Viele Produkte sind versehen mit dem Hinweis „In Ihrer Region kommt es vorübergehend zu verlängerten Lieferzeiten“. Dazu die Erklärung: „Um weiterhin unsere Kunden beliefern zu können und gleichzeitig die Sicherheit unserer Mitarbeiter zu gewährleisten, haben wir unsere Prozesse in den Bereichen Logistik, Versand, Lieferketten, Einkauf und Verkaufspartner angepasst.“ So würden Lagerung und Lieferung von Artikeln die eine höhere Priorität hätten vorrangig behandelt. Amazon fokussiere sich auf Lebensmittel, Gesundheits- und Körperpflegeprodukte und Artikel, die für die Arbeit von zu Hause benötigt würden.
Corona löst Problem der letzten Meile
Genau die letzte Meile, die Lieferung an die Haustür – möglichst am gleichen Tag der Bestellung und innerhalb eines sehr kleinen Lieferfensters, war bisher ein entscheidender Knackpunkt für die Akzeptanz des Online-Handels mit Lebensmitteln und Drogerieartikeln. Im Zuge der Corona-Krise hat sich dieses Problem jedoch vorerst beinahe in Luft aufgelöst. Denn:
- Kunden sind vorwiegend zu Hause und können nahezu jederzeit ihre bestellte Ware entgegennehmen.
- Die Abstellung von Paketen wird stärker akzeptiert. Dass Pakete teilweise ohne persönlichen Kontakt vor der Wohnungstür platziert werden, finden 80 Prozent der Verbraucher in Ordnung, ergab eine aktuelle Umfrage von YouGov im Auftrag der Shopping- und Vergleichsplattform idealo. Die Angst vor Ansteckung durch die persönliche Annahme ist wohl größer als die vor Langfingern.
- Die Bundesbürger sind sehr viel verständnisvoller geworden gegenüber Logistik- und Lieferschwierigkeiten und bringen Lieferdiensten mehr Wertschätzung entgegen. Acht von zehn Deutschen fänden Verzögerungen bei der Lieferung von Waren verzeihlich, ergab die YouGov-Befragung.
Jetzt neue Lieferkonzepte testen
Man könnte also sagen: Nie war die Zeit besser, um eigene E-Commerce- und Lieferdienst-Konzepte auszuprobieren und weiterzuentwickeln – auch und gerade für selbstständige Kaufleute. Viele Unternehmen und Kommunen zeigen bereits, wie es geht. Auf der Suche nach praktischen Lösungen zeigt sich der Handel kreativ und solidarisch.
#gemeinsamstaerker
Geradezu explodiert ist der Lieferdienst von Rewe-Kaufmann Ulrich Pebler aus Nassau. „Wir fahren derzeit mit zwei KFZ sechs Tage die Woche“, erzählt er. Dennoch musste er die Freischaltung weiterer Neukunden erstmal aussetzen. „Gott sei Dank haben wir sechs Schüler und Studenten gefunden, die uns hier beim Zusammenstellen der Ware etc. unterstützen und als geringfügig Beschäftigte eingestellt wurden. Dazu haben wir einige Angebote von Bürgern bzw. Kunden, uns ehrenamtlich zu unterstützen, was wir auch schon in zwei Fällen in Anspruch nehmen mussten.“ Pebler hält diese Stunden fest und spendet den Gegenwert der ehrenamtlichen Arbeit am Ende einem gemeinnützigen Zweck.
Um den eigenen Lieferservice effektiver zu machen, hat sich Edeka Wehrmann die Unterstützung einer Fahrschule gesichert. Die Fahrlehrer der Herforder Fahrschule „Du fährst“ liefern ehrenamtlich an Menschen, die selbst nicht einkaufen können. Die Fahrschule kauft bei Wehrmann vergünstigt ein und spendet die Differenz an einen gemeinnützigen Verein für mehr Chancengleichheit von Kindern.
Edeka Karch in Waldalgesheim lässt telefonisch bestellte Ware ab sofort vom örtlichen Partyservice Schäfer ausliefern. Edeka Reckelkamm (Wehrheim und Neu-Anspach) hat sich mit einem Taxi- und Kurierdienst zusammengeschlossen, um die Waren zu den Kunden bringen zu können. Die Bedingungen: Mindestbestellwert: 30 Euro zuzüglich einer Servicegebühr zwischen 8 und 15 Euro – je nach Distanz. Die Auslieferung erfolgt nur mit Normalpreisen, das heißt Aktions- oder Angebotspreise gelten nicht. Zudem erfolgt keine Auslieferung von Tiefkühlware. Die Zahlung erfolgt bar bei Auslieferung, Kartenzahlungen sind nicht möglich.
Ein Kooperationsprojekt zur Grundversorgung für Risikogruppen startet die Deutsche Post im besonders vom Coronavirus betroffenen Kreis Heinsberg. Per Postwurfsendung werden Bestellformulare für ein Grundsortiment an Lebensmitteln und alltäglichen Verbrauchsgütern verteilt. Ausgefüllte Formulare werden vom Postboten eingesammelt. Schon am Folgetag will die Post die gewünschten Lebensmittel und Haushaltswaren in Kooperation mit dem lokalen Einzelhandel ausliefern. Abgerechnet werde kontaktlos über das Lastschriftverfahren.
An alles gedacht?
Um Online-Shop und Lieferdienst attraktiver und leichter zugänglich zu machen, haben sich die selbstständigen Kaufleute aktuell einiges einfallen lassen.
Bestellweg: Klassisch über Telefon und Fax, aber auch modern über E-Mail, WhatsApp (Edeka Krebss, Edeka König) oder Facebook ermöglichen Händler aktuell die Bestellannahme in ihren Supermärkten. So können sich junge wie ältere Kunden den für sie bequemsten Bestellweg auswählen.
Lieferkosten: „Ein Lieferservice sollte momentan jedem zugänglich gemacht werden, der Hilfe benötigt. Auch Menschen, die sich solchen sonst nicht leisten können“, heißt es bei Edeka Weiss. Seit Mitte März bietet der Händler seinen Lieferservice kostenlos an. „Wir möchten hiermit einen kleinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten“, denn gemeinsam sei man stärker.
Mindestbestellwert: Eine weitere Hürde wird aktuell von einigen Unternehmern herabgesetzt. Rewe Familie Stoll aus Oestrich-Winkel hat bis auf weiteres den Mindestbestellwert pro Order auf 30 Euro gesenkt.
Sicheres Bezahlen: Für Vertrauen und Akzeptanz sorgt Edeka Driebolt bei der Frage um die sichere Bezahlung an der Haustür. Über Facebook informiert das Unternehmen darüber, dass die Auslieferungsfahrer nach jedem Kunden die Einmalhandschuhe wechseln, ihre Hände desinfizieren und nach jeder EC-Zahlung zusätzlich das Kartengerät desinfiziert wird. Eine bargeldlose Zahlungsabwicklung ermöglicht Rewe Familie Stoll beispielsweise über eine Rechnungsstelle.
Service für besondere Kundengruppen: Einige Händler bündeln ihre Kapazitäten. Speziell für Risikogruppen, also ältere Menschen und Kunden mit Vorerkrankungen, haben unter anderem Hieber’s Frischecenter und Edeka Reichl (Arnstorf) ihre Lieferservices ausgerichtet. An eine andere, besondere Zielgruppe richtet sich der Online-Supermarkt Picnic. Das Unternehmen startet mit der Lebensmittellieferung am Sonntag, vor allem um Ärzte und Pflegekräfte unterstützen zu können. Diesen werde an dem zusätzlichen Liefertag Priorität über eine “Special Care Liste” eingeräumt. Ab dem 5. April beginnt Picnic mit einem Piloten, bei dem sie die Möglichkeit haben, auch sonntags mit frischen Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs beliefert zu werden.
Städte werden aktiv
Auch auf kommunaler Ebene wird aktuell einiges auf die Beine gestellt, um den stationären Handel, insbesondere von Schließungen betroffene Unternehmen, zu unterstützen. In Koblenz wurde in nur wenigen Tagen der Kowelenz-Store gegründet (www.kowelenz-store.de). Über Nacht erhielten die Einzelhändler der Stadt an Rhein und Mosel die Möglichkeit, ihre Waren online anzubieten, ohne selbst in Software investieren oder sich mit IT-Problemen auseinandersetzen zu müssen, darunter Obst- und Gemüseanbieter, Weingüter, die örtliche Kaffeerösterei und ein Juwelier. Die jungen Erfinder des Stores fahren selbst zu den Händlern, holen die bestellte Ware ab und liefern sie gegen eine kleine Lieferpauschale aus.
Ähnliche Initiativen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern. So wurden zum Beispiel für Schwerin und Stralsund Online-Plattformen für Läden mit Liefer- und Bestellangeboten eingerichtet, von Cafés und Restaurants bis zu Buchläden und Kinderschuhgeschäften (www.schwerin.de/lokalkauf und www.stralsund.de/liefert).
Klar ist, die aktuellen Kooperationen und das ehrenamtliche Engagement dienen dazu, durch die Krise zu kommen. Ein wirtschaftlich tragbares E-Commerce- und Lieferdienst-Konzept wird nicht auf Basis der freiwilligen Hilfe entwickelt. Somit bleiben in dieser Situation eine Reihe von Fragen ungeklärt. Dennoch können genau jetzt Lösungen für Logistik bis Payment getestet werden, ohne zu sehr ins wirtschaftliche Risiko gehen zu müssen.
Revolutionäre Händler-Kooperation
An zukunftsfähigen Multichannel-Konzepten und einer Sofortlösung in der aktuellen Krise arbeitet die Initiative „Händler-helfen-Händlern“– branchen- und regionsübergreifend. „Wir arbeiten gerade mit aller Kraft an einer schnellen Unterstützung für regionale, stationäre Händler, die von der Ladenschließung extrem getroffen sind,“ so Marcus Diekmann, Mitinitiator von „Händler helfen Händlern“ und CEO von Rose Bikes. Die Initiative will stationären Händlern ein IT-Netzwerk zur Verfügung zu stellen, auf dem sie ihre Filialbestände hochladen und zum Beispiel durch Taxen, Lieferdienste, Getränkelieferanten und andere regionale Logistikdienstleister versenden können.
Das Konzept entstand Ende März in Zusammenarbeit der beiden Händler Rose Bikes und Visunext Group sowie Shopsoftwarehersteller Shopware und ist ein Hilfsangebot an den Handel ohne eigene wirtschaftliche Interessen der Partner. In nur 10 Tagen meldeten sich allein in der LinkedIn Gruppe mehr als 1.725 interessierte Händler, vom Betreiber einer einzelnen Filiale bis zu großen Handelsketten wie BabyOne, MediaMarkt, Saturn oder TomTailor. Auch Rewe Digital ist gerade dazu gestoßen und die Lebensmittel Praxis ist bereits Partner.
Mit Hilfe einer B2B-Sofortlösung soll innerhalb von 14 Tagen eine Open Source Verkaufsplattform aufgebaut werden, die einen zusätzlichen Verkaufskanal schafft, um Umsatzausfälle von Händlern zu kompensieren. Unter der Federführung von Shopware in Kooperation mit Netresearch und IT-Systems wird an dieser sowie an einer Lösung für Städte und Gemeinden gearbeitet. Im Rahmen eines mehrtägigen Hackathons sollen verschiedene Ansätze entwickelt werden.
„Genau jetzt ist die Chance, einen Wandel anzustoßen und das Geschäft strategisch neu auszurichten“, appelliert Diekmann an deutsche Einzelhändler. Gerade Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels dürften aktuell nicht den Fehler machen, mehr denn je ihr eigenes Süppchen zu kochen.
„Verbraucher brauchen keine tausend verschiedenen Online-Supermärkte. Wenn jedes Unternehmen für sich eine eigene Lösung und Infrastruktur erarbeitet, geht uns zu viel Kraft verloren. "Stattdessen sollten wir alle gemeinsam unsere Ressourcen, Kreativität und unser Know-how in einer Initiative bündeln. Zusammen können wir schnell neue Infrastrukturlösungen für einen zukunftsfähigen Multichannel-Handel erarbeiten und uns einer Amazonisierung entgegenstellen."
Marcus Diekmann, CEO Rose Bikes und Mitinitiator
der Inititative Händler helfen Händlern
Ob stationär oder online, Mittelstand oder Konzern, Traditionsunternehmen oder Start-up: alle seien aufgefordert, sich einzubringen und Ressourcen abzustellen, insbesondere Unternehmen, die noch nicht so stark von der Krise betroffen seien – es gehe um Solidarität.
Dass die aktuelle Entwicklung entscheidend für die Zukunft des E-Food-Segments sein kann, verdeutlicht Gero Furchheim, Präsident des bevh (Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V.) und Sprecher der Vorstands der Cairo AG: „Viele Verbraucher haben in der Corona-Krise erstmals Lebensmittel online bestellt. Das senkt dauerhaft die Hemmschwelle und ist eine Wachstumschance in dieser noch kleinen Kategorie des E-Commerce". Entscheidend für den Erfolg werde aber der erlebte Service im Gesamtpaket sein. Die Toleranz gegenüber zu langen Wartezeiten beispielsweise werde mit der Krise enden, meint Furchheim.
- Gibt es lokale oder überregionale Initiativen, um stationären Händlern den Weg in den Online-Handel zu ermöglichen, denen ich mich anschließen kann?
- Wo gibt es Kapazitäten an anderer Stelle, die für Auslieferungen an den Kunden genutzt werden können (Fahrschulen, Universitäten, Taxiunternehmen etc.)?
- Wie einfach ist die Bestellung über meine Online-Shop bzw. Lieferservice? (Telefon, E-Mail, WhatsApp, Facebook)
- Wie hoch sind die Hürden für eine Bestellung? (Mindestbestellwert, Lieferkosten)
- Können Kunden einfach und sicher ihre Order bezahlen? (kontaktlos, Desinfizierung von Geräten)
- Kommuniziere ich ausreichend mit meinen Kunden über die richtigen Kanäle? (Handzettel, Newsletter, Website, Facebook, WhatsApp)
Fragen an Matthias Henze, CEO und Gründer von Jimdo.
Schnell zum eigenen Online-Shop? Die Internetplattform Jimdo bietet einen eigenen Onlineshop zu einem symbolischen Preis von einem Euro pro Monat für ein Jahr an. Wie genau? LP-Chefredakteur Reiner Mihr fragt nach. Zum Video.
Dieser Artikel wurde erstmals am 04.05.2020 auf www.regalplatz.com veröffentlicht.