Nachhaltigkeit Leistungsmerkmal wird zum Standard

Fast alle großen Handelsketten werben mit Nachhaltigkeit. Nicht mehr lange, ist sich Franziska Duerl von Jung von Matt sicher.

Freitag, 08. April 2022 - Management
Elena Kuss
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Bildquelle: Edeka

Nachhaltigkeit sei im Begriff, Standard zu werden, sagt Franziska Duerl, Head of Strategy bei der Werbeagentur Jung von Matt. Das zeige beispielsweise die Kampagne „Haltungswechsel“ von Aldi: Fleisch und Milch der Haltungsklassen drei und vier sollen keinen Platz mehr bei dem Discounter finden. Auch Lidl wirbt aktuell im TV für mehr Tierwohl und das Bioland-Siegel. Einen ähnlichen Fokus setzt die Rewe. Das Unternehmen will mit der Omnichannel-Kampagne „Gutes beginnt mit mir“ zeigen, dass jeder Kauf über Haltungsbedingungen der Tiere und Verpackungsmüll entscheidet. Der besonders nachhaltige Griff ins Regal? In der Kampagne natürlich zu den Rewe-Produkten.

Die Edeka inszenierte vegane Lebensmittel als Klimaretter. Penny will dieses Jahr den Klimaschutz in den Mittelpunkt seiner Kommunikation und seiner Aktivitäten stellen. Stefan Magel, Bereichsvorstand Handel Deutschland der Rewe Group und COO Penny, erklärt: „Klimaschutz ist die wichtigste Herausforderung unserer Zeit.“

Duerl sieht im Marketing jedoch einen anderen Schwerpunkt: „Was gegenwärtig noch als Leistungsmerkmal kommuniziert wird, ist in naher Zukunft ein Basismerkmal, das von Konsumenten selbstverständlich eingefordert wird.“ Die Netto-Kampagne greift diese Sichtweise auf. „Lisa“, das Netto-Testimonial für 2022, soll eine nette Familienmutter verkörpern, die täglich verschiedenste Alltagssituationen meistert. Daran lässt sie Netto-Kunden teilhaben. Fast nebenbei informiert sie so über Nachhaltigkeit und Aktionen von Netto.

Umweltschutz zieht
Duerl beobachtet die Veränderung von grünen Verkaufsargumenten schon lange: „Vor ein paar Jahren war Nachhaltigkeit eine Positionierung, die Reformhäusern, Bio-Märkten und spezialisierten Marken, wie Alnatura, vorbehalten war.“ Umwelt-und Klimaschutz sei für die breite Mehrheit uninteressant gewesen und habe sich an eine klar abgesonderte Nische gerichtet.
In Edekas „Supergeil“ aus dem Jahr 2014 wurde das Thema am Rande angesprochen: Friedrich Liechtenstein sitzt an der Kasse, sieht die Joghurts an und singt: „Bio ist auch sehr, sehr geil.“ Zu diesem Zeitpunkt wird Nachhaltigkeit ein echtes Leistungsmerkmal. Zwei Jahre später drehen sich bei dem Discounter Netto zahlreiche Spots um regionale Produkte und transparente Lieferketten: 2017 beispielsweise erklärte ein kleines Mädchen, wie kinderleicht bei Netto überprüft werden kann, wo der Apfel herkommt.

„Diese Phase erreicht momentan ihren Höhepunkt“, weiß Duerl. Immer mehr Verbraucher in Deutschland interessieren sich besonders für Natur- und Umweltschutz in ihrem Alltag und richten ihren Einkauf darauf aus. So das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse. Das gilt auch für Lebensmittelprodukte. Jeweils über die Hälfte der Befragten gaben an, beim Einkauf von Fleisch, Obst und Gemüse auf den Aspekt der Nachhaltigkeit zu achten. Beim Kauf von Eiern wählen 44 Prozent der Verbraucher nach diesem Gesichtspunkt aus. Die Folgen dieses Interesses? „Ob Katzenfutter, das ohne Erklärungsbedarf Korallenriffe rettet, oder Fast-Food-Ketten, die mit grünem Logo werben: Nachhaltigkeit ist keine Nischenpositionierung mehr, sondern längst im Mainstream angekommen“, findet Duerl. Auch Unternehmen, die durch ihre Produkte im Widerspruch zu Umweltbewusstsein stünden, präsentierten sich fast wie selbstverständlich als Retter des Planeten.

Um den umweltbewussten Verbraucher in die Märkte zu locken, werben auch Lebensmittelhändler mit Zahlen und Zielen für eine bessere Welt. Penny verpflichtet sich beispielsweise, entlang der vorgelagerten Wertschöpfungsketten der Eigenmarkenprodukte die Treibhausgasemissionen bis Ende 2030 mit einem absoluten Reduktionsziel um 15 Prozent im Vergleich zu 2019 zu senken. Bis zum Jahr 2040 soll Penny auf Unternehmensebene klimaneutral werden. Die Schwarz-Gruppe will ihre betriebsbedingten Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 2019 reduzieren. Edeka gibt als Ziel eine Reduktion von 33,6 Prozent bis 2025 an. Bis zum Jahr 2025 will Aldi Süd 26 Prozent weniger Treibhausgase im Vergleich zu 2016 ausstoßen.

Wie kommen die Versprechen beim Verbraucher an? „Die Großen haben ein Glaubwürdigkeitsproblem“, behauptet Duerl. Das zeige sich auch in den Kommentaren, die sich unter den Klima-Kampagnen der Handelsketten sammeln.

Die Penny-Werbung „Klimaleicht“ wird beispielsweise bei Instagram mehrheitlich negativ kommentiert. „Eure Werbung ist doch im Endeffekt eine heftige Heuchelei“, schreibt eine Nutzerin. Die Edeka-Werbung für vegane Produkte ruft ebenfalls viel Kritik hervor. „Ihr sollt Lebensmittel verkaufen, keine Ideologie“, ist in der Kommentarspalte zu lesen.

Und wenn die Wut überkocht? In einer weltweiten Studie von Microsoft Advertising gaben 60 Prozent der Befragten an, Marken in Zukunft boykottieren zu wollen, die keine Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen. „Marken müssen den kritischen Konsumenten von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugen“, ist sich Werbeexpertin Duerl sicher. Diese Komponente spiele sich nicht nur in der rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung ab, sondern sei vor allem eine emotionale Frage, die in der Greenwashing-Debatte an Bedeutung gewinne: Wem will ich als Konsument vertrauen?
Während im Netz oft mit harten Bandagen gekämpft wird und nachweislich eher Kritik als Lob geäußert wird, nähert sich die Wettbewerbszentrale dem Thema objektiver. Sie klagte unter anderem gegen Werbeaussagen von Aldi Süd. Der Discounter bezeichnete sich als „ersten klimaneutralen Lebensmittel-Einzelhändler in Deutschland“. Das Verfahren läuft noch. Im Januar gab es dazu eine mündliche Verhandlung vor dem Landgericht Duisburg. Das Gericht hat die vorläufige Rechtsauffassung vertreten, dass die Werbung nicht irreführend sei, wenn die ausgestoßenen Emissionen ordnungsgemäß berechnet und durch entsprechende Kompensationsmaßnahmen ausgeglichen würden.

Aldi Süd kommentierte das wie folgt: „Obgleich dies bei uns selbstverständlich der Fall ist, wollen wir zunächst den weiteren Verfahrensgang abwarten, bevor wir eine endgültige Bewertung abgeben.“ Laut Tudor Vlah, Referent der Wettbewerbszentrale, stellt die Rechtsprechung sehr strenge Anforderungen an die Werbung mit Klimaneutralität: „In allen mir vorliegenden Urteilen hierzu seit 2011 wurde die entsprechende Werbung als unlauter untersagt.“

Der Preis bleibt heiß
Das Marketing mit Nachhaltigkeit ist kompliziert – rechtlich und emotional. Die kanadische Agentur Terra Choice Environmental Marketing veröffentlichte deshalb einen schlüssigen Leitfaden zur Selbstkontrolle für Werbende.

Mit versteckten Kompromissen, fehlenden Beweisen oder vagen Aussagen drohen Unternehmen das Vertrauen der gut informierten Konsumenten zu verlieren. Auch irrelevante Aussagen in den Vordergrund zu stellen oder das kleiner erscheinende Übel zu bewerben, darf kein Weg vorbei an echter Nachhaltigkeit sein. Bewusst falsche Aussagen oder Fake-Siegel werden schnell als Greenwashing enttarnt. Preise wie der Goldene Windbeutel der Verbraucherorganisation Foodwatch beweisen das jedes Jahr mit einer Auszeichnung.

Auch wenn die Bereitschaft, für qualitativ höherwertige Lebensmittel mehr zu zahlen, hoch ist, geben immer noch mehr als die Hälfte der Deutschen an, eher erst auf den Preis zu achten als auf den Nachhaltigkeitsaspekt. Auch im Hinblick auf die politischen Unruhen, Inflation und anhaltende Pandemie bleibt der Preis ein ausschlaggebender Punkt.

Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich Aldi Süd in aktuellen Spots mit dem Slogan „Mehr für dein Geld“ eher wieder auf den günstigen Preis fokussiert? Duerl von Jung von Matt positioniert sich klar: „Es darf nicht der Trugschluss abgeleitet werden, dass Kosten über Nachhaltigkeit stehen: Marken können es sich nicht mehr leisten, aus Nachhaltigkeit einen Luxus zu machen.“

Auch die Politik versucht, mehr Klarheit in das Engagement der Unternehmen zu bringen: Im Dezember 2021 nahm die Europäische Kommission eine Empfehlung an, die Unternehmen dabei helfen soll, ihre Umweltleistung zu berechnen und umweltfreundlichere Produkte herzustellen. Dazu gehört auch die transparente Kommunikation mit den Verbrauchern über die Herstellung von Produkten anhand einer international vereinbarten Lebenszyklusanalyse-Methode.

Simpler ist es für den Konsumenten, auf etwas zu verzichten, das in nahezu allen Berechnungen für eine beachtliche Menge Treibhausgasemissionen verantwortlich ist: Fleisch. Die Edeka setzt deshalb auf Umweltschutz durch vegane Ernährung. Der aktuelle TV-Spot soll das Thema auf humorvolle Art und Weise aufgreifen: „Was ich liebe? Ein Schnitzel – vom Feld“, so ein Biker. Und die beiden Männer am Grill? „Burger – aus Pflanzen.“ Edeka will zeigen, dass vegane Ernährung keinesfalls Verzicht bedeutet.

Klimaretter: Vegan
Damit schlägt die Handelskette in die gleiche Kerbe wie Lidl. Mit der Marketingkampagne zur Eigenmarke Vemondo inspirierte der Discounter bereits im Sommer letzten Jahres zum Ausprobieren von veganen Alternativprodukten. Unterstützt durch Schauspieler Ralf Moeller und Star-Koch Timo Franke zeigte das Unternehmen die pflanzliche Vielfalt von Gyros bis zu Kokosdesserts. Die Youtube-Kommentare zeigen: Die vegane Kochshow kommt an. „So macht eine Dauerwerbesendung Spaß“, findet eine Nutzerin. Während die Edeka-Kampagne auch viel Kritik im Netz erntet, gab es für das Format „Vegan Impossible“, eine Kochshow, bei der typische Fleischgerichte vegan gekocht werden, zahlreiche Daumen nach oben.

Was bedeutet es, wenn „klimaneutral“ auf Produkten steht?

Da der Begriff „klimaneutral“nicht gesetzlich geschützt ist, gibt es keine einheitlichen Standards. In einzelnen Fällen haben Gerichte entschieden, dass der Begriff ohne weitere Informationen die Verbraucher in die Irre führt. Zum Beispiel darf Wiesenhof einzelne Produkte nicht mehr als „klimaneutrale Geflügelspezialitäten“ kennzeichnen ohne die Erläuterung, dass die Klimaneutralität auch durch Kompensationsmaßnahmen erreicht wird. Allerdings gibt es noch keine Entscheidung einer höheren Instanz, die einheitlich regeln würde, wie genau Unternehmen mit diesen Produkten werben dürfen. In der Regel bedeutet „klimaneutral“, dass das Unternehmen oder ein Partner den Emissionsfußabdruck des Produkts berechnet.
Was alles in die Berechnung einfließt, unterscheidet sich je nach Unternehmen und Produkt. Manchmal werden die Emissionen von den Rohstoffen bis zur Auslieferung berücksichtigt, manchmal auch die Nutzungsphase und ein mögliches Recycling. Entstandene Emissionen werden oft ausgeglichen. Zum Beispiel durch Aufforstungs- oder Solarofen-Projekte.
In den Regalen tummeln sich immer mehr Produkte mit Klima-Aussagen. Ob das so bleibt, entscheiden gerade Gerichte.