Interview Schneeweiß „Wir haben gerne die Lufthoheit“

Die „kleinste Edeka der Welt“ residiert im Industriegebiet Pfieffewiesen in Melsungen: Edeka Hessenring ist tatsächlich die kleinste Organisation im Edeka-Verbund, aber schlagkräftig. Ein Gespräch mit Hans-Richard Schneeweiß, Sprecher der Geschäftsführung, über Corona, Geschwindigkeit, Geschäft und Gitarren.

Samstag, 08. August 2020 - Management
Reiner Mihr
Artikelbild „Wir haben gerne die Lufthoheit“
Bildquelle: Peter Eilers

Die Edeka Hessenring hatte 2019 ein gutes Jahr – Netto-Außenumsatz von Gesellschaft und angeschlossenen Händlern 3,6 Milliarden Euro, Betriebsleistung, 2,99 Milliarden Euro, 50 Millionen Euro Umsatzvergütungen, Marktanteil im Absatzgebiet gesteigert – aber das war vor Corona.

Wie wirtschaftet es sich mit Corona?
Hans-Richard Schneeweiß: Die Schnelligkeit, mit der wir reagiert haben, hat sich gelohnt. Wir haben im Absatzgebiet 44 Landkreise und kreisfreie Städte – überall andere Verordnungen und Erlasse! Darauf zu reagieren, war eine Herkulesaufgabe. Alle unsere Geschäftsleitungs-Mitglieder haben jeden Tag miteinander gesprochen und entschieden, ich bin heute noch begeistert, wie schnell und effizient wir – vom Großhandel bis zum Selbstständigen – das alles bewältig haben.

So viel Begeisterung! Das kann doch nicht so einfach gewesen sein…
War‘s auch nicht. Aber wir waren zum Beispiel die ersten, die pro Kunden einen Einkaufswagen vorgeschrieben haben, wir hatten in der heißen Hamsterphase zwei Tage Lieferrückstand, wir hatten Fehlartikel ohne Ende. Wir haben sogar auf unseren Handzettel verzichtet.

Wie bitte?
In den Kalenderwochen 13 und 14, also vor Ostern, haben wir keinen Handzettel gemacht. Wir wollten einfach keine unnötigen Einkaufsimpulse geben. Und vor allem: Unsere Logistik stand kurz vor dem Kollaps. Die Hamsterkäufe haben uns an die Grenzen gebracht.

Und? Wie ging das aus?
Nicht so gut. Wir haben in der Zeit zwar kein Minus gemacht, andere hatten 20 Prozent Plus, wir nur fünf. Wir würden das so nicht mehr machen. Aber wir haben gelernt: Wir brauchen ungefähr vier Tage, um aus einer solchen Lage wieder rauszukommen. Da kannst du auch einen Handzettel machen.

Und jetzt sinkt noch die Mehrwertsteuer...
Wir haben wirklich alle Preise angefasst und neu kalkuliert. Da geht’s oft nur um einen Cent pro Artikel. Aber hier geht es auch um Preisvertrauen. Wir werden da das Feld doch keinem Wettbewerber überlassen. Deshalb sind wir offensiv und arbeitsintensiv rangegangen.

Ist der Lebensmittelhandel ein Gewinner der Corona-Krise?
(Energisch) Eine Gewinner-Verlierer-Diskussion sollten wir in einer Pandemie nicht führen, das birgt unnötigen gesellschaftlichen Sprengstoff. Und im Lebensmittelhandel müssen sie auch die Kosten ein wenig gegenrechnen: Security, Hygienemaßnahmen etc. Wir wissen ja auch nicht, was noch kommt. Alles, was jetzt ausgegeben wird, muss irgendwann zurückgezahlt werden. Ein Lastenausgleich wird kommen. Da sind dann auch Betriebsvermögen betroffen. Für die Wirtschaft ist das nicht gut.

Aber Sie bzw. Ihre Kaufleute haben bis jetzt gute Geschäfte machen können?
Wir haben im ersten Halbjahr 2020 bei den selbstständigen Händlern zehn Prozent Plus gemacht. Logisch, der Selbstversorgungsgrad zu Hause ist gestiegen.

>> Zur Hessenring Handelsgesellschaft gehören neben anderen auch die SB-Union Großmarkt, das Fleischwerk Hessengut, die Rheika-Delta Warenhandelsgesellschaft oder MK-Markenvertrieb.

Im C&C-Bereich müssen Sie da aber verloren haben…
Nur durch den Lockdown dürften wir bei 25 Prozent Minus liegen. Die Hotellerie liegt in unserer Region fast am Boden, die Gastronomie kommt nur langsam zurück, und wer weiß, was im Herbst noch kommt. Dafür haben wir aber bei Bau – und Gartenmärkten um die 20 Prozent zugelegt, auch bei Großflächen wie Ratio.

Sie betreiben sehr erfolgreich ein eigenes Fleischwerk. Da waren Sie nach dem Tönnies-Fall sicher auch im Visier der Behörden. Wie kamen Sie zurecht?
Gut. Wir hatten bisher keinen Infektionsfall unter unseren Beschäftigten. Wir testen jeden Tag 20 bis 30 unserer Leute, vor allem Risikogruppen oder Urlaubsheimkehrer. Wir haben hier aber auch keine Werkverträge, alle sind fest angestellt und wohnen auch nicht in Massenunterkünften. Gab’s auch früher nicht.

Warum eigentlich nicht?
Wir haben gerne die Lufthoheit. Wir wollen jedem in seinem betrieblichen Prozess sagen können, was er zu tun und zu lassen hat. Das ist wie bei Immobilien – da lieben wir das Eigentum.

>> Edeka-Handelsgesellschaft Hessenring mbH beschäftigte 2019 1.389 Menschen, 48 Auszubildende.

Was bleibt jetzt und noch nach der Corona-Krise?
Gesamtgesellschaftlich hoffe ich, dass jeder mehr auf seine Mitmenschen achten wird. Ich befürchte aber, das bröckelt schon wieder ein wenig. Für uns rechne ich fest damit, dass wir unsere Lerngeschwindigkeit beibehalten.

Das war’s schon?
Regionalität gewinnt natürlich. Hier glauben die Verbraucher offensichtlich Gutes für die Umwelt, die Region und auch das eigene Befinden zu tun. Auch das kontaktlose Bezahlen boomt. Wir sind Testregion, wo das Limit auf 50 Euro gesetzt wurde. Die Provisionen sinken hier. Wir haben mehr Transaktionen. Das bleibt.

Müssen Sie jetzt mehr über das Online-Geschäft mit Lebensmitteln nachdenken?
Ich sehe bei der Entwicklung des Online-Verkaufs von Lebensmitteln kein Argument, dass Enthaltsamkeit falsch wäre. Und bevor Sie fragen: Fachhandel, also Drogerie und Bio, ist im Augenblick kein Thema für Hessenring.

>> Die Edeka Handelsgesellschaft Hessenring hat 2019 im Konzernaußenumsatz 2,498 Milliarden Euro erwirtschaftet, 3,17 Prozent mehr als 2018. Die Betriebsleistung ohne Innenumsatz stieg um 3,39 Prozent auf 2,989 Milliarden Euro. Das Jahresergebnis ging von 40,8 auf 36,5 Millionen Euro zurück. Grund: Bilanzverschiebungen. Die „fehlenden“ 3,5 Millionen Euro finden sich wieder in der Gewinn- und Verlustrechnung der Dachgesellschaft Edeka Hessenring eG. Diese Mittel fließen ein in ein Investitionsförderprogramm zur Unterstützung der Kaufleute. 15 Prozent Investitionszuschuss für Modernisierungsmaßnahmen soll es geben.

Letztes Jahr haben Sie mit Sorgenfalten auf die Entwicklung der Discounter geschaut. Heute sind Sie – denke ich – entspannter.
Ja, wir haben uns gut geschlagen und Anteile zurückgeholt. Wir haben auch den „Rückstau“ bei Neueröffnungen etwas aufholen können.

>> Der Marktanteil der Melsunger stieg im Absatzgebiet um 0,2 Prozent auf 30,4 Prozent. Damit wurde der Rückgang 2018 fast wieder ausgeglichen. Die Hessenring Handelsgesellschaft hat laut Trade Dimensions im Vergleich zu anderen Edeka-Regionen den höchsten Marktanteil in ihrem Absatzgebiet. Gleichzeitig hält sie in ihrer Region den Discountanteil sehr deutlich am niedrigsten.

Wie geht’s 2020 weiter?
Alle ursprünglichen Planungen sind erst mal hinfällig. Aber der Plan wird nicht geändert, wir wechseln nur zu aktuellen Hochrechnung (schmunzelt). Wir sind froh über das bisher Erreichte. Unsere Neubauten werden weiter vorangetrieben. Die Strukturveränderungen – weniger Kleinflächen, größere Verkaufseinheiten – gehen weiter. Aber wir rechnen mit weiteren hohen Anforderungen. Vor allem der Discount wird nicht stillhalten und nun neue „Spielfelder“ suchen, um seine Preis-Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Wie passt das für Sie zusammen: Preisführerschaft versus Profilierung? Aldi gibt sich politisch korrekt, fördert Bio und Tierwohl. Ist doch klasse?
Na ja. Wir werden in den nächsten Monaten einen Marktüberhang an Fleisch haben. Es wird eher billiger werden. Der Referenzpreis Schweinefleisch war vor einem Jahr etwa 15 Prozent höher. Gleichzeitig gibt es politischen Druck, dass Fleisch nicht zu billig sein darf. Was macht Aldi nun? Dem politischen Druck folgen oder der Preisführerschaft huldigen? Ein Dilemma und deren Problem. Die alte Stärke von Aldi in unserem Absatzgebiet ist nicht mehr zu erkennen.

Jetzt haben Sie mit Florian Kramm einen neuen Geschäftsführerkollegen. Brauchen Sie Entlastung?
(Lacht) Der Herr Kramm ist eine Verstärkung! Er kommt aus dem Unternehmen, war Geschäftsführer Rheika-Delta und MK-Markenvertrieb. Ich kann’s mir nicht besser vorstellen. Und um Ihnen zuvor zu kommen: Ende 2022 ist für mich hier Schluss. Die Bahn muss freigemacht werden. Und das haben wir zum Teil ja auch schon gemacht. Ich habe Verwaltung, Finanzen, Buchhaltung, IT und Warenwirtschaft sowie Regie-Einzelhandel abgegeben.

Also endlich mehr Zeit für die Gitarren!
(Entspannt) Hier: Gerade habe ich eine zwölfsaitige Fender gekauft. Ein Schnäppchen!

Viel Spaß beim Üben.

Und das muss dann sein: Es erklingt „When the war is over“ von Cold Chisel auf zwölf Saiten. Wow!