Essensretter Das ist kein Müll! - Das ist kein Müll: Teil 2

Das Ausmaß der Lebensmittelverschwendung ist massiv. Doch es hat sich eine Front aus Handel, Industrie und privaten Initiatoren gebildet, die dem Müll eine klare Abfuhr erteilen wollen.

Donnerstag, 23. Juni 2016 - Management
Tobias Dünnebacke
Artikelbild Das ist kein Müll! - Das ist kein Müll: Teil 2
Bildquelle: Heiko Kalweit

Franz Westhues, Marktgenossenschaft Naturland e. G.
„Klar können die Bauern auch einiges tun, damit weniger Gemüse auf dem Acker liegen bleibt“, sagt Franz Westhues, und man merkt ihm an: Er trauert um jede Karotte, jede Kartoffel, jeden Stangensellerie, der auf dem Weg vom Feld bis zur Ladentheke auf der Strecke bleibt. Sie können Beete abdecken, um sie vor Schädlingsbefall zu schützen, Nützlinge einsetzen, oder von vornherein robuste Sorten wählen. Längst vorbei aber seien die Zeiten, in denen Bio- Kunden sich mit verschrumpelter Ware abspeisen ließen: „Wir sind heute darauf eingestellt, dass die Ware schön aussieht“, sagt Westhues, Bio- Pionier und heute Geschäfts führer der Marktgenossenschaft der Naturland- Bauern. Für Obst und Gemüse haben sich strenge Qualitätsstandards herausgebildet, die Größe, Länge und Farbe betreffen – Geschmack spielt eine untergeordnete Rolle. Neu- Foto Heiko Kalweit land beliefert auch konventionelle Discounter und Supermärkte: „Also sind wir angeleitet, mehr normgemäßes Gemüse anzubauen.“ Sonst riskiert die Genossenschaft an der Rampe bei der Eingangskontrolle mit der Ware ihrer Bauern abgewiesen zu werden. Schon auf dem Acker bleibt deshalb vieles liegen, und das nicht immer wegen qualitativer Mängel. Es geht schlicht ums Aussehen. Dass „daran herumgemäkelt wird“, schmerzt Westhues besonders. Manche Karotte ist vielleicht ein wenig aufgesprungen, weil die Sorte dazu neigt, oder sie ist oben ein wenig grün. Kartoffelnsind nicht immer handlich oval, sondern vielleicht auch mal herzförmig oder haben Verwachsungen. Flecken auf dem Grün von Staudensellerie oder Äpfeln sind ebenso wenig ein qualitativer Mangel wie grüne Sprenkel auf Zitronen. Ist die Ware für den Naturkosthandel bestimmt, so liegt die Toleranzschwelle etwas höher, sagt Westhues. Dort sind die Abnehmer darauf angewiesen, dass sie mit Bio-Obst und -Gemüse beliefert werden, und nehmen auch ab, was keinenSchönheitswettbewerb gewinnt. Bei den großen Handelszentralen aber ist es bisher bis auf gelegentliche Ausnahmen üblich, nur optisch einwandfreie Wareanzunehmen. Der Discounter Penny versucht es aktuell in Zusammenarbeit mit Naturland mit einer etwas anderen Strategie: Obst und Gemüse, das bisher aussortiert worden wäre, darf bis zu einem gewissen Anteil der Bio- Marke Naturgut beigemischt werden, die nun mit dem Label „Bio Helden“ versehen ist. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet Westhues: „Der Handel muss riskieren, dass die Kunden auch mal die Nase rümpfen“, sagt er. Geht es nicht nur um das Aussehen, könnten im Durchschnitt bis zu 20 Prozent der Ware davor gerettet werden, direkt auf dem Acker der Fäulnis preisgegeben zu werden. Gerade im Bio- Anbau ist das eine Auslese, die die Bauern teuer bezahlen, denn die Aufwendungen sind von Anfang an sehr viel höher. „Und wenn wir etwas wegwerfen müssen, dann ist es meist sehr viel“, bedauert Westhues. Er plädiert deshalb für mehr Toleranz bei der Warenannahme – genau so, wie es Penny jetzt mit den „Bio Helden“ vormacht. „Das bringt uns wesentlich mehr als ein höherer Preis.“

Stefan Laskowski, Im Angebot e.K.
„Als mein Vater 1992 zufällig gesehen hat, wie ein Einzelhandelsunternehmen Ware vernichtet, weil diese kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums war, nahm er die Lebensmittel kurzerhand mit in das Angebot seines eigenen Ladens auf“, beschreibt Stefan Laskowski einen Schlüsselmomentfür sein heutiges Unternehmen, die Handelskette „Im Angebot“ aus Grimma bei Leipzig. Der Händler, dem seit der Gründung 1999 mittlerweile fünf Filialen in und um Leipzig gehören, hat sich den Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln auf die Fahne geschrieben. In den Läden werden genießbare Produkte verkauft, kurz bevor deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Auch Ware, die wegen einer beim Transport beschädigten Verpackung von etablierten Lebensmittelhändlern nicht mehr angenommen wird, findet man in den Regalen von „Im Angebot“. Ein entscheidendes Kauf-Argument für die Kunden ist der Preis: „Durch die Effizienz unserer prozessorientierten Logistik können wir unsere Waren zu einem günstigen Preis an den Kunden weitergeben und die Vernichtung der Lebensmittel zumindest in unserem Wirkungskreis ein klein wenig minimieren“, sagt Laskowski. Die Käufer sind dabei ein kompletter Querschnitt der Gesellschaft. Das preislich attraktive Einkaufen und eine nachhaltige Lebensweise würden laut Laskowski vor keinem in der Gesellschaft Halt machen. Ein Erfolgsfaktor ist die kontinuierliche Aufklärung der Kunden über den Unterschied der Begriffe „Mindesthaltbarkeitsdatum“ (MHD) und „Verbrauchsdatum“. So gibt es sehr viele Artikel, die das MHD durchaus mal überschreiten können. Durch Aufklärung sei es daher wichtig, die Kundendarauf hinzuweisen, dass diese Lebensmittel nicht schlecht sind. „Es ist ein gewachsener Erkenntnisprozess unserer Kunden, die sehr genau wissen, dass das MHD eine entscheidende Rolle bei unserer Preisgestaltung spielt. Lebensmittel, die ‚zu verbrauchen bis …’ sind, finden Sie in unseren Filialen nicht nach aufgedrucktem Datum.“ Eine Abschaffung des MHD lehnt der Händler ab. Viel wichtiger sei die Aufklärung über die Haltbarkeit von Lebensmitteln und die Bedeutung des MHD. Das Besondere an dem Sortiment von „Im Angebot“ ist, dass auch Produkte von regionalen Lebensmittelproduzenten und Landwirten erhältlich sind. Damit setzt das Unternehmen ein ökologisch sinnvolles Distributionskonzept für regionale Produkte um. Dieses Geschäftsmodell erfordert eine ausgeklügelte Logistik, die umgehend auf die Warenanmeldungen reagieren und die Filialen zügig beliefern kann. Die dafür notwendige Software hat die Salt Solutions GmbH entwickelt. So können nach Auskunft des Unternehmens täglich bis zu 8 t Lebensmittel vor der Mülltonne gerettet werden. Diese Leistung wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit dem Bundespreis der Initiative „Zu gut für die Tonne“ ausgezeichnet. Ob „Im Angebot“ weiter expandiert, lässt Laskowski offen. Zwar sei das Potenzial da, allerdings hinge eine Expansion von der Bereitstellung der Waren durch die Industrie ab.

Frank Bowinkelmann, Foodsharing e.V.
Dass nicht nur Handel und Industrie gegen Lebensmittelverschwendung aktiv werden, zeigt die private Initiative Foodsharing mit Sitz in Köln. Vorstandsvorsitzender Frank Bowinkelmann beschreibt diese als eine Graswurzelbewegung, die vom Film „Taste the Waste“   aus dem Jahr 2011inspiriert wurde. „Der Film von Valentin Thurn hat uns allen vor Augen geführt, welches gigantisches Ausmaß die Lebensmittelverschwendung angenommen hat.“ Seit der Gründung im Mai 2013 haben sich bis Ende 2015 mehr als 10.000 Menschen auf der Seite foodsharing.de angemeldet. Viele dieser sogenannten „Foodsaver“ retten Lebensmittel in rund 1.000 Betrieben in ganz Deutschland. Dazu zählen Supermärkte, Bäckereien, Markstände und andere kooperierende Betriebe. Auf der Seite haben außerdem schon mehr als 100.000 Nutzer Essenskörbe von privat an privat verteilt. So schreibt beispielsweise ein Nutzer aus Bochum: „Vom veganen Picknick sind übrig geblieben: Mehrere Gläser mit selbst gemachter Streichcreme, Zitronenkuchen, ein halbes Fladenbrot, Nudelsalat.“ Um auch Menschen ohne Internetzugang das Retten und Teilen von Lebensmitteln zu erleichtern, hat Foodsharing außerdem sogenannte Fair-Teiler aufgestellt. Die öffentlichen und frei zugänglichen Kühlschränke und Regale werden mit überschüssigen Lebensmitteln befüllt und stehen allen Menschen zur freien Verfügung. Geteilt werden hauptsächlich Gemüse, Salat, Brot und Backwaren sowie seltener auch Milch und Joghurt. Besonders sensible Waren wie rohes Fleisch, Fisch oder rohe Eier sind tabu. Die Idee hinterFoodsharing ist einfach: Es geht in erster Linie darum, Lebensmittel zu „retten“ und nicht, wie etwa bei den Tafeln, Bedürftige zu versorgen. Trotzdem zeigen offizielle Kooperation mit den Tafeln, dass sich beide Ideen natürlich nicht wiedersprechen.Die „Fair- Teiler“-Kühlschränke sind in rund 350 Städten in Deutschland nichts Besonderes mehr, doch ausgerechnet in Berlin, wo die Initiative 2012 mit der Vorgängerseite lebensmittelretten. de ihren Ursprung hat, gibt es seit einiger Zeit Ärger mit den Behörden. Es geht dabei im Kern um eine Dokumentationspflicht, also die Frage, wer legt wann was wohin. Per Definition sollen die Fair-Teiler als eine Art Lebensmittelunternehmen gelten. So sollen Risiken, beispielsweise durch eine mutwillige Vergiftung der Waren, verringert werden. Bowinkelmann kann nicht nachvollziehen, dass der Initiative gerade im alternativen Berlin Steine in den Weg gelegt werden. „Wenn jemand wirklich einen Joghurt vergiften will, kann er das auch im Supermarkt tun. Wir haben bis jetzt noch keine Beschwerde, dass sich jemand den Magen verdorben hat.“ Trotz des Ärgers in der Hauptstadt sieht Bowinkelmann optimistisch in die Zukunft. „Wir hätten uns nie vorstellenkönnen so schnell zu wachsen und so groß zu werden. Valentin Thurn, der heute auch im Vorstand der Initiative aktiv ist, hat mit seinem Film Druck auf den Handel ausgeübt, die Verschwendung zu bekämpfen. Aber auch beim Verbraucher ist das Bewusstsein für das eigene Konsumverhalten sensibilisiert worden.“

Bilder zum Artikel

Bild öffnen
Bild öffnen
Bild öffnen