Italien Von Luxus und 
Leidensfähigkeit

Kein Land in Europa ist wirtschaftlich so gespalten wie Italien. Der wohlhabende Norden und sein Klotz am Bein, der wirtschaftlich schwächere Süden. Zwischen Ferrari und Fiasko.

Montag, 06. Mai 2024 - Länderreports
Christina Steinhausen
Artikelbild Von Luxus und 
Leidensfähigkeit
Bildquelle: Asahi Brands

Seit der Vereinigung Italiens 1860 ist die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden größer geworden, einzige Ausnahme die Jahre 1950 bis 1970, genannt das süditalienische Wirtschaftswunder, erklärt Lucrezia Reichlin von der London Business School. 2,5 Millionen Süditaliener sind zwischen 2002 und 2021 in den Norden oder ins Ausland abgewandert. Wirtschaftlich abgehängt ist der Süden vom boomenden Norden schon lange, und ausgebremst ist er durch die Politik, die weder Reformen noch strukturelle Änderungen angeht. Warum auch, fließt doch jährlich reichlich Geld aus EU-Töpfen in den Süden. Das wiederum erregt die Gemüter im Norden, vor allem die der Unternehmer. Und als sei das nicht schon ärgerlich genug, ist ganz Süditalien seit diesem Jahr eine steuerbegünstigte Sonderwirtschaftszone. Reichlin nennt das einen „wahllosen Geldverteilungsmechanismus“, der mal passt und seinen Zweck erfüllt, aber zumeist eben nicht.

Arbeitskräfte fehlen
Das sieht auch Roberto Brazzale so. Der Jurist leitet mit seinen Brüdern, dem Agrarwissenschaftler Piercristiano und dem Ökonomen Gianni, die Molkereigruppe Brazzale (Umsatz 2023: 324 Mio. Euro; plus 10 Prozent im Vergleich zu 2022; plus 94 Prozent im Vergleich zu 2013) im 6.000-Einwohner-Städtchen Zanè in Venetien, wo die Familie seit mindestens 1600 Landwirtschaft betreibt und Milch produziert. Weil in der ­Region großer Mangel an Arbeitskräften herrscht, stellen die Brazzales nun auch 60-Jährige ein. „Wir schauen bei Bewerbern nicht auf das Alter, sondern auf den Enthusias-mus“, so Brazzale. „Einige Neueinstellungen sind ehemalige Schulkameraden. Die Arbeitsatmo­sphäre ist also noch besser, weil wir uns gegenseitig mögen.“ Das Unternehmen hat weltweit 1.000 Mitarbeiter, 10 in Brasilien, 50 in China und jeweils circa 500 in Tschechien und in Italien. Dort sind gut ein Dutzend 60 Jahre und älter.

Fatale wirtschaftliche Lage
Italien leidet laut Brazzale am Zentralismus, der die öffentlichen Ausgaben übertreibe. „Die Staatsverschuldung und der Steuerdruck haben ein Ausmaß erreicht, das die wirtschaftlichen Aktivitäten und Pläne der Familien erstickt, vor allem der jungen Menschen, die zu niedrige Nettogehälter haben und keine Kinder mehr bekommen.“ 700.000 Todesfällen stehen jährlich nur 380.000 Geburten gegenüber, eine Tragödie nennt das Brazzale und kommt in Rage: „Fast 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für Renten ausgegeben, 4 für Schuldzinsen, eine Gerontokratie, die einen politischen Wandel verhindert.“ Und die EU sei zu einer schlechten Kopie Italiens auf kontinentaler Ebene geworden. „Öffentliche Ausgaben, Staatsverschuldung, Einmischung der Politik in alle Bereiche des Lebens auf der Welle selbstzerstörerischer Ideologien, Inflation.“ Das Gegenmittel? „Dezentralisierung und eine deutlich verringerte Rolle der Politik.“ Aber leider werde dies nicht geschehen.

Hier lesen Sie ein Interview mit Roberto Brazzale.