Roberto Brazzale im Interview Entscheidungen werden am Tisch getroffen

Von Orgelkonzerten, bayerischen Dialekten in den italienischen Bergen und schlechter Politik – Warum Familienunternehmer Roberto Brazzale ehemalige Schulkameraden einstellt

Freitag, 03. Mai 2024 - Länderreports
Christina Steinhausen
Artikelbild Entscheidungen werden am Tisch getroffen
Bildquelle: Brazzale

Die italienische Molkerei Brazzale ist in Deutschland für ihre hochwertige Butter bekannt, bei Kennern auch für Scamorza und Provolone. Der Jurist Roberto Brazzale leitet mit seinen Brüdern, dem Agrarwissenschaftler Piercristiano und dem Molkereitechniker Gianni, die Molkereigruppe (Umsatz 2023: 324 Mio. Euro; +10 % im Vergleich zu 2022; +94% im Vergleich zu 2013) im 6.000-Einwohner-Städtchen Zanè in Venetien. Dort betreibt die Familie mindestens seit dem Jahr 1600 Landwirtschaft und produziert Milch und Molkereiprodukte. Weil in der Region ein großer Mangel an Arbeitskräften herrscht, stellen die Brazzales nun auch 60-Jährige ein, Hauptsache die Einstellung zur Arbeit stimmt.

Wie sind Ihre Erfahrungen mit den „Alten?
Roberto Brazzale: Wir stellen in unserem Unternehmen seit einiger Zeit fest, dass viele Menschen, die älter als 60 Jahre sind, den großen Wunsch haben, zu arbeiten und mit viel Erfahrung, Können und Enthusiasmus zum gesellschaftlichen Leben beizutragen. In diesem Sinne sind sie genau so jung wie die 30-Jährigen, mit denen sie Hand in Hand arbeiten. Wenn also ein Bewerber zu uns kommt, schauen wir nicht auf den Personalausweis. Einige von ihnen, die kürzlich eingestellt wurden, sind ehemalige Schulkameraden. Die Arbeitsatmosphäre ist also noch besser, weil wir uns gegenseitig mögen.

Wie viele über 60-jährige Mitarbeiter haben Sie?
Es sind etwa ein Dutzend. Die Gruppe hat weltweit über 1.000 Mitarbeiter. Etwa 500 in Italien und die gleiche Anzahl in der Tschechischen Republik, etwa 50 in China und 10 in Brasilien.

Haben Sie Nachahmer in Italien?
Soweit ich weiß, haben einige Unternehmer bereits das Stichwort aufgegriffen und damit begonnen, ältere oder sogar pensionierte Menschen zu kontaktieren. Hier herrscht ein großer Mangel an Arbeitskräften, und die Unternehmen müssen ihre Entwicklung bremsen.

Fehlt den jungen Leuten Energie und Begeisterung?
Nein, das ist absolut nicht wahr. Die jungen Leute hier sind sehr enthusiastisch. Aber die 60-Jährigen sind es nicht weniger. Das ist der Punkt.

Wie viele Ihrer Mitarbeiter sind 40 Jahre oder jünger?
50 Prozent unserer Mitarbeiter sind unter 40.

Brazzale ist der größte Arbeitgeber in Zanè, nicht wahr?
Natürlich, Zanè ist eine kleine Stadt mit 6.000 Einwohnern. Unsere Region ist eine der wirtschaftlich dynamischsten in Italien und Europa. Wir stammen von germanischen Völkern ab, die im Mittelalter in diese Berge und Täler kamen, und unsere Vorfahren sprachen noch alte bayerische Dialekte.

Was denken Sie über die wirtschaftliche Situation in Italien, über die Politik? Was muss dringend angegangen werden? Welche Reformen sind notwendig?
Italien leidet an einem angeborenen Übel, dem Zentralismus, der die öffentlichen Ausgaben übertreibt. Die Staatsverschuldung und der Steuerdruck haben ein Ausmaß erreicht, das die wirtschaftlichen Aktivitäten und Pläne der Familien erstickt, vor allem der jungen Menschen, die zu niedrige Nettogehälter haben und keine Kinder mehr bekommen. Die Denatalität ist heute eine Tragödie. 700.000 Todesfällen stehen jährlich nur 380.000 Geburten gegenüber. Fast 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für Renten ausgegeben, weitere 4 Prozent für Schuldzinsen, eine Gerontokratie, die einen politischen Wandel verhindert. Und die EU ist zu einer schlechten Kopie Italiens auf kontinentaler Ebene geworden. Öffentliche Ausgaben, Staatsverschuldung, Einmischung der Politik in alle Bereiche des Lebens auf der Welle selbstzerstörerischer Ideologien, Inflation. Das Gegenmittel? Dezentralisierung und eine deutliche Verringerung der Rolle der Politik. Aber leider wird dies nicht geschehen.

Wie teilen Sie und ihre beiden Brüder sich die Arbeit in der Firma auf?
Wir sind eine Familie und ein Familienunternehmen, wir packen die Probleme gemeinsam an und arbeiten nach individuellen Berufen und Studien. Ich bin Jurist, Piercristiano ist Agrarwissenschaftler und Molkereitechniker, Gianni hat Wirtschaft studiert. Heute haben wir fünf begeisterte Kinder, die bereits in der Firma arbeiten. Alles entspricht dem Leben einer Familie, in der Entscheidungen am Tisch getroffen werden, ohne formale Ämter oder Rollen. Mit großem Teamgeist und starken Beziehungen der Zuneigung.

Wie ist das Jahr 2023 für Brazzale verlaufen?
2023 war ein Jahr des Wachstums mit einem Umsatz von 324 Millionen Euro, was einer Steigerung von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Im Vergleich zu 2013 stieg der Umsatz um 94 Prozent. Und der Absatz von unserem Hartkäse Gran Moravia legte um 60 Prozent zu.

Wie hoch ist der Anteil von Brazzale am Markenumsatz, wie viel Prozent setzt Ihr Unternehmen mit Eigenmarken um?
Im Allgemeinen ist das gleichmäßig verteilt.

Wie hoch ist Ihr Exportanteil?
Der liegt etwas über einem Drittel des Umsatzes, bei Spitzenprodukten wie Gran Moravia sogar bei  60 bis 70 Prozent, Tendenz weiter stark steigend.

In wie viele Länder werden Ihre Produkte verkauft?
In fast siebzig Länder. In Kürze werden die USA und Frankreich hinzukommen.

Welches sind die wichtigsten Exportländer?
Das sind China, Tschechien, Spanien, Deutschland, die Benelux-Länder, Großbritannien, Japan und der Nahe Osten.

Was sind Ihre Topseller?
Gran Moravia in Formen und vakuumverpackt, geflockt, gerieben und portioniert. Provolone und Scamorza-Käse verpackt in ATP, hochwertige Fratelli Brazzale Superior Butter für Feinkost und Einzelhandel, hochwertige klassische und aromatisierte Butter für Konditoren und Bäcker.

Wie wichtig ist der deutsche Markt für Ihr Unternehmen?
Der deutsche Markt ist für Brazzale von strategischer Bedeutung, denn er ist der erste europäische Markt, was das Potenzial betrifft, auch im Hinblick auf den Export von italienischen Hartkäsen in dieses Land. Der Gran Moravia und die Gourmet-Butter Fratelli Brazzale sind sowohl im Einzelhandel als auch im Foodservice die Verkaufsschlager. Einige wichtige Partner kann ich Ihnen nenen, aber nicht alle, zum Beispiel: Aldi Süd, Aldi Nord, Edeka, Müller & Moers, Ruwisch & Zuck.

Wie verteilt sich Ihr Geschäft in Deutschland auf die typischen Absatzkanäle?
Circa 45 Prozent entfallen auf den Einzelhandel, also Retail, Feinkost, Cash &Carry, 35 Prozent auf den Horeca und 20 Prozent auf die Industrie.

Was sind Ihre Ziele für den deutschen Markt?
Deutschland ist für uns ein Schlüsselland, und das nicht nur, weil wir es seit unserer Kindheit lieben, als wir unserer Mutter bei ihren Orgelkonzerten in den schönsten Basiliken und Konzertsälen folgten, von Ottobeuren bis Bayreuth, nach Köln oder Berlin. Die Deutschen wiederum lieben unsere Küche, und unsere Käsesorten sind dafür unverzichtbar. Unser Ziel? Wachsen und unsere Kunden glücklich machen, ohne Grenzen für die Zukunft zu setzen.

Zum Schluss, wie lange wollen Sie noch arbeiten und warum?
Meine Brüder und ich wurden zwischen 1961 und 1965 geboren, und unsere Familie betreibt seit mindestens 1600 ohne Unterbrechung Landwirtschaft und produziert Milch und Milchprodukte. In einem Familienbetrieb zieht man sich nie zurück, jeder trägt zum Leben der Betriebsgemeinschaft bei, und je älter man wird, desto unersetzlicher und wertvoller wird die Erfahrung der Älteren. Unsere Väter und Großväter haben sich erst aus dem Unternehmensalltag zurückgezogen, als ihre Kräfte nicht mehr ausreichten. So Gott will, sehe ich keinen Grund, warum wir drei es anders machen sollten. Ein Beruf wie der unsere ist die packendste aller Leidenschaften.