Klimaschutz im Handel CO₂ als Rohstoff – so will ein Supermarkt künftig Kohlendioxid recyceln

Hintergrund

Bislang ging es in der öffentlichen Diskussion darum, CO2 als Klimakiller zu vermeiden. Ein neuer Ansatz setzt darauf, das Gas aus der Luft zu filtern. Und das im Supermarkt.

Dienstag, 29. April 2025, 05:40 Uhr
Heidrun Mittler
Bildquelle: Getty Images

Kohlenstoff ist ein zentrales Element in der Natur – ohne C, wie es in der Chemie heißt, gibt es kein Leben. In bestimmten Verbindungen aber sorgt es für enorme Probleme. Wenn es um die Erderwärmung geht, spielt CO2 (auch Kohlendioxid genannt) eine entscheidende Rolle. Bislang geht es in der gesellschaftlichen Diskussion in erster Linie darum, den Ausstoß von gasförmigem Kohlendioxid als Treibhausgas zu vermeiden.

Doch es gibt einen anderen Ansatz, der das Gas aus technischen Prozessen entfernt. „Es reicht nicht aus, den Ausstoß von Kohlendioxid zu vermeiden. Wenn wir den Klimawandel stoppen und die Klimaziele erreichen möchten, müssen wir aktiv Kohlendioxid aus der Atmosphäre binden und beseitigen“, sagt Rene Haas, Mitgründer des Start-ups Neocarbon mit Sitz in Berlin. Mit seinem Standpunkt ist er nicht allein, viele Wissenschaftler vertreten ihn. Haas zitiert eine konkrete Zahl: Zehn Gigatonnen Kohlendioxid müssten der Luft pro Jahr entzogen werden, um die globale Erwärmung nicht noch weiter anzuheizen. Eine gigantische Zahl, die unter anderem vom Weltklimarat (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) stammt.

Wirtschaftsingenieur Haas und sein 15-köpfiges Team haben einen konkreten Plan: Supermärkte mit kleinen Anlagen auszustatten, die das klimaschädliche Gas quasi aus der Luft heraussaugen. Schon Ende des Jahres, so Haas im Gespräch mit der Lebensmittel Praxis, könnte ein erstes Projekt mit einem Supermarkt starten.

Technisch gesehen ist es durchaus möglich, Kohlendioxid aus der Umwelt zu entfernen, also zu fangen. Die Fachleute nennen den Prozess entsprechend „Carbon Capture“. Linde baut zum Beispiel im fränkischen Lengfurt gemeinsam mit Heidelberg Materials eine moderne Anlage für die Zementindustrie, die Kohlendioxid abscheidet und verflüssigt. Ein generelles Problem bei dem Prozess ist allerdings die hohe Energiemenge, die dafür notwendig ist.

Hier setzt Neocarbon an: Man will Energie nutzen, die ohnehin entsteht: Klimaanlagen in Supermärkten liefern Abwärme und damit Energie. Sie bringen zwar noch nicht die Temperatur, die man für den Umwandlungsprozess benötigt (etwa 90 Grad Celsius). Doch je nach Anlage müssen dann nur noch 30 Grad Temperatur mittels einer anderen Wärmequelle zugeführt werden, erläutert Haas.

Die entscheidende Frage lautet: Ist das Verfahren auch wirtschaftlich betrachtet sinnvoll? Das Start-up hat auf jeden Fall einen Investor gefunden: Die Greenman-Gruppe, ein irischer Fondsmanager, steht als Partner bereit. Sie verwaltet in erster Linie Immobilien aus dem Sektor Lebensmitteleinzelhandel, laut eigenen Angaben im Wert von derzeit über 1,28 Milliarden Euro.

Lebensmittel statt Treibhausgas

Kohlendioxid aus der Luft kann man sogar essen! Das finnische Biotech-Start-up Solar Foods hat für sein so gewonnenes Proteinpulver „Solein“ in zwei Ländern bereits die Zulassung erhalten und erste Verkaufstests gestartet (siehe ausführlich in LP 17/2024, Seite 58 ff.). Das finnische Unternehmen bedient sich einer Technologie der US-Raumfahrtbehörde NASA. Diese hatte in den 1960er-Jahren entdeckt, dass sich CO2 aus der Luft mithilfe spezieller Mikroben einfangen und nutzen lässt. Für die Herstellung von Solein züchten die Forscher bestimmte Mikroben, der Prozess ähnelt dem Bierbrauen, so Dr. Pasi Vainikka, Gründer und CEO von Solar Foods.

Gründer beim Supermarkt des Jahres
Wer wissen möchte, wie das Verfahren in der Praxis funktioniert, kann Vainikka auf dem „Supermarkt des Jahres“, dem großen Bran­chen­event der Lebensmittel Praxis in Essen, live erleben. Informationen und die Möglichkeit zur Anmeldung für den 22. Mai 2025 stehen im Internet: https://sdj.lebensmittelpraxis.de Vainikka hält gemeinsam mit Cathy Hutz, einer Mitbegründerin von Infinite Roots, einen Vortrag (in englischer Sprache) zur Frage: Ernährung der Zukunft – was wir morgen essen.

Hier schon einmal ein kurzer Ausblick: 
Solein ist ein geschmacksneutrales, veganes Proteinpulver, das reich an Nährstoffen ist. Bislang findet es Verwendung beispielsweise als Fleischersatz, in Eiscreme oder Teigwaren, denkbar sind auch veganer Joghurt oder Sportlernahrung. Solar Foods hält Kooperationen mit Unternehmen, die CO2 abscheiden und zur Verfügung stellen, für denkbar. Man könne jegliches CO2 verwenden, da es bei der Solein-Herstellung gereinigt und verflüssigt zum Einsatz kommt.

Offensichtlich steht das Handelsunternehmen fest, das eine entsprechende Anlage ausprobieren will. Zwar gibt Greenman auf LP-Anfrage den Namen nicht preis, verweist aber darauf, „dass mit dem Einzelhändler derzeit an den Grundlagen für die Realisierung des Marktes“ gearbeitet werde. Haas darf lediglich von „einem großen deutschen Lebensmittel-Vollsortimenter“ sprechen. Die Rewe-Group und Kaufland sind nach eigener Aussage nicht involviert, so die Reaktion auf eine Anfrage. Die Edeka-Zentrale beantwortet die Frage nicht konkret.

Kohlendioxid als Kältemittel

Grundsätzlich ist der Lebensmittelhandel mit dem Thema CO2 vertraut, schließlich ist das Gas ein lang erprobtes Kältemittel. Aber das „gefangene Kohlendioxid“ lässt sich nicht ohne Weiteres in den Kühlkreislauf einspeisen. Aus der Anlage kommt es erst einmal in gasförmigem Zustand. Damit wäre es ideal, um die Atmosphäre in Gewächshäusern mit Kohlendioxid anzureichern. Eine hohe Konzentration lässt Pflanzen schneller wachsen, fördert die Wurzelbildung und sorgt für einen höheren Ertrag. Ein Gewächshaus in der Nachbarschaft oder eine Anlage für Vertical Farming wäre also ein perfekter Abnehmer. Alternative: Gereinigtes Kohlendioxid wird in der Getränkeindustrie genutzt, zum Beispiel in Brauereien, oder findet Einsatz im Verpackungsbereich. Das Gas lässt sich verflüssigen und verfestigen: Somit könnte man es in Baustoffe einbringen. Ein möglicher Anwendungsbereich ist, Kohlendioxid in den Beton einzubringen, der auf Parkplätzen verbaut ist. Es lässt sich langfristig auch im Kühlwasser speichern.

Kohlendioxid-Staubsauger

Einfach erklärt
Raumluft strömt mittels eines Ventilators ins System. Ein Filter saugt CO2 aus der Luft. Abwärme wird genutzt, um CO2 aus dem Filter herauszulösen und in einen gasförmigen Zustand zu bringen. Luft mit einem minimalen Anteil CO2 wird freigesetzt, komprimiertes CO2 kann in die Produktion von E-Fuel-Kraftstoffen gelangen.

Bildquelle: Neocarbon

Ein Container, der auf zwei Parkplätze passt

Worauf lässt sich ein Händler ein, der einen solchen Kohlendioxid-Staubsauger an seine Klimaanlage koppeln will? Das Start-up Neocarbon verweist auf praktische Erfahrungen, die es seit drei Jahren im industriellen Bereich gemacht hat (siehe Foto rechts). Die Pilotanlage ist laut Haas in eine schmucklose Box eingebettet; man sieht von außen nicht, was darin vor sich geht. Von der Größe her passt sie in einen handelsüblichen Container, nimmt etwa die Bodenfläche von zwei Parkplätzen in Anspruch. Die Box saugt Luft an und erzeugt damit ein Geräusch. „Wir können alle Dezibel-Grenzwerte einhalten“, behauptet Haas. Grundsätzlich werde jede Anlage extern geprüft, beispielsweise vom TÜV. Das Pilotprojekt könne mehrere Tonnen CO2 pro Jahr aus der Luft herausfiltern.

Welche Mehrkosten entstehen?

Wie hoch schätzt der Chef des Start-ups die Mehrkosten, die durch eine solche Anlage entsteht? Seine Antwort: „Generell muss eine Dekarbonisierung, beziehungsweise in diesem Fall eine Defossilisierung, nicht mit Mehrkosten einhergehen, sondern stellt eher einen langfristigen Wettbewerbsvorteil dar.“ Überprüfen lässt sich diese Aussage derzeit noch nicht seriös. Aber der Klimawandel ist ein so gravierendes Problem, dass unsere Gesellschaft alle technischen Lösungen in Betracht ziehen sollte – auch Gas aus der Luft zu fangen.