Wenn sich 19 Verbände der Lebensmittelwirtschaft auf einen gepfefferten Protestbrief an Bundesernährungsminister Cem Özdemir einigen, muss bei ihnen die Wut im Bauch groß sein. Dieses Bündnis unter anderem aus Lebensmittelverband Deutschland, Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie und Deutschem Bauernverband greift einen Stakeholder-Prozess an, der im Zuge der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie des Bundes läuft. Ihn führt das staatliche Max Rubner-Institut (MRI) seit 2023 im Auftrag des Ministeriums durch. Das Ziel ist das Erarbeiten einer Methodik. Mit ihr sollen Reduktionsziele für Zucker, Fette und Salz wissenschaftlich abgeleitet werden. Der Abschlussbericht soll noch im ersten Quartal des laufenden Jahres erscheinen.
Die schweren Vorwürfe in dem Brief: Das bisherige Verfahren werfe „erhebliche Zweifel an einer ergebnisoffenen Einbindung der Praxis“ auf. Bei dem MRI-Prozess erfolge „eine Partizipation der Wirtschaftsmitglieder zum Schein“.
Keine Frage: Das Spektrum der knapp 100 Prozessbeteiligten ist breit und beeindruckend. Neben elf Universitäten, sieben Hochschulen und sieben außeruniversitären Forschungsinstituten bringen sich das Bundesinstitut für Risikobewertung, das Robert Koch-Institut und das Bundeszentrum für Ernährung ein. Hinzu kommen fünf Fachgesellschaften für Ernährung. Unter den acht „sonstigen Institutionen“ findet sich sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Zweistufig angelegter Stakeholder-Prozess
Neun Verbände der Lebensmittelwirtschaft vervollständigen das Bild: Lebensmittelverband Deutschland; Milchindustrie-Verband; Verband der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft; Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks; Verband Deutscher Großbäckereien; Bundesverband Deutscher Wurst- und Schinkenproduzenten; Verband der deutschen Fruchtsaft-Industrie; Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie und die Wirtschaftsvereinigung Alkoholfreie Getränke.
Der Stakeholder-Prozess ist zweistufig angelegt und wird vom MRI-Präsidium gelenkt. Nach Arbeitsgruppen-Treffen aus den Bereichen „Public Health“ und „Reformulierung“ zwischen Herbst 2023 und Anfang 2024 gab es von Mai bis Juli des vergangenen Jahres jeweils zwei Strategiefeld-Treffen zu Zucker, Fetten und Salz. Im Oktober wurde auf einer Infoveranstaltung ein erstes Ergebnispapier vorgestellt. Für Kommentare hatten die Stakeholder sechs Wochen Zeit.
Und die Lebensmittelwirtschaft? Die war nach Darstellung von Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff vom Lebensmittelverband Deutschland lediglich in der ersten Prozessstufe beteiligt und in dieser auch nur im Arbeitsbereich „Reformulierung“. Die entscheidenden Strategiefeld-Treffen der zweiten Prozessstufe hätten ohne Branchenbeteiligung stattgefunden. Doch gerade die zweite Prozessstufe hatte es in sich. Schließlich wurden hier die Ergebnisse der ersten Stufe aus den Bereichen „Public Health“ und „Reformulierung“ zusammengeführt.
Minhoff verdeutlicht seine Sichtweise: „Unser technologisches und wissenschaftliches Fachwissen war nur bis zu einem bestimmten Punkt in diesem Prozess willkommen. Unsere Meinung in Bezug auf die Einordnung in gesundheitspolitische Fragestellungen sollte nicht berücksichtigt werden.“ Weil die Lebensmittelbranche „in entscheidenden Phasen ausgeschlossen“ worden sei, spiegelten die bereits formulierten denkbaren Maßnahmen wie zum Beispiel Werbebeschränkungen und steuerliche Eingriffe „keineswegs einen Konsens“ wider.
MRI bittet um mehr Zeit und Geduld
Das Max Rubner-Institut sieht das anders. Behördensprecherin Dr. Iris Lehmann sagt auf Anfrage der Lebensmittel Praxis: „Wir sind der Überzeugung, dass es einem partizipativen Prozess nicht guttut, schon vor dem Abschluss zu einzelnen inhaltlichen Einlassungen zu kommunizieren. Wir bitten sehr darum, allen Beteiligten am Prozess die Zeit zu lassen, die er braucht.“ Selbstverständlich würden alle beim MRI eingegangenen Kommentare im weiteren Prozess berücksichtigt, so Iris Lehmann. Zu den Details des offenen Branchen-Briefes und den konkreten Vorwürfen aus der Lebensmittelwirtschaft äußerte sich das MRI auf eine weitere LP-Anfrage hin nicht.
MRI-Präsidentin Tanja Schwerdtle, die erst seit September 2024 im Amt ist, schlug jedoch bei einer Bundestagssitzung im Dezember versöhnlichere Töne an: Die angestrebten Reduktionsziele seien nur zusammen mit der Industrie erreichbar, versicherte sie.
Soll die Branche Partner oder Gegner sein?
Kommentar von Thomas Klaus
Ob der Abschlussbericht des Stakeholder-Prozesses unter der Regie des Max-Rubner-Instituts (MRI) nach seiner geplanten Veröffentlichung im ersten Quartal 2025 überhaupt noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken kann, wird sich zeigen. Zu diesem Zeitpunkt sind höchstwahrscheinlich auf Bundesebene bereits Koalitionsverhandlungen im Gange. Stand jetzt würde das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft an die CSU fallen, die darauf laut und deutlich Ansprüche erhoben hat. Die Ära von Cem Özdemir, der das Max-Rubner-Institut beauftragt hat, wird zumindest als Minister beendet sein.
Doch es geht bei der Diskussion um die Praxis des Stakeholder-Prozesses um etwas anderes. Um etwas, das auch in der Nach-Özdemir-Ära bedeutsam sein wird. Nämlich die Frage, wie ausgeprägt das Misstrauen in Wirtschaft und Politik gegenüber der Lebensmittelwirtschaft ist.
Schweigen macht stutzig
Ist die Branche Partner in einem fairen Dialog oder Gegner, auf dessen Know-how und Positionen kein Wert gelegt wird? Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Kritik des Verbände-Bündnisses berechtigt ist. Auf LP-Anfrage geht das Max-Rubner-Institut denn auch nicht auf den offenen Brief und die schweren Vorwürfe ein. Das macht stutzig. Und dass man dem Bund Manipulationen bei Stakeholder-Prozessen überhaupt zutraut, ist allein schon ein sehr schlechtes Zeichen.