Das Schaufenster einer Koblenzer Konditorei ist einen Moment lang Kulisse. Drei Teenager haben sich davor postiert, ein Handy ist im Aufnahmemodus. Eines der Mädchen beißt in eine Schokolade, präsentiert dann deren Inneres: die Pistaziencreme, das Engelshaar. Das Video, das hier entsteht, ist, natürlich, für Tiktok. Die Schokolade ist Dubai-Schokolade, jenes Produkt, für das vor allem junge Käufer überall in Deutschland Schlange stehen – und Preise jenseits von 10 Euro je 100 Gramm zu zahlen bereit sind.
Im Kontext der Gesamtwirtschaft ist das grotesk. Deutschland befindet sich in der Rezession, die Inflation hat das Leben teuer gemacht. Die Konsumenten in Deutschland sparen. Der Hype um die Dubai-Schokolade aber illustriert: Die Verbraucher sparen nicht an allem. Ausgerechnet was manchem absurd teuer erscheint, geht immer – sogar jetzt. Einige Produkte verkaufen sich in schwierigen Zeiten gar besser als in Jahren des Booms: „Wenn sich Verbraucher keine großen Reisen oder teuren Anschaffungen wie Autos leisten können, suchen sie nach kleineren Freuden, die dennoch einen Hauch von Luxus und Exklusivität vermitteln“, sagt Boris Planer, Konsumgüterexperte und Berater beim Zukunftsinstitut in Frankfurt. Einige Marktforscher nennen das den Lippenstift-Effekt – weil zum Beispiel die Kosmetik-Nachfrage zuweilen ausgerechnet im Abschwung steigt. Für viele Lebensmittel gilt das Gleiche: Sie sind bezahlbarer Luxus. Für Händler und Hersteller, die den Wunsch danach bedienen, birgt die Wirtschaftskrise deshalb eine Chance – da sind sich Planer und andere Experten einig.
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Der Lippenstift-Effekt
Einige Wirtschaftsforscher glauben an den Lippenstift-Effekt – also daran, dass sich Verbraucher in Krisenzeiten besonders häufig kleine Luxusgüter leisten, Lippenstifte zum Beispiel. Stimmt die Theorie? Aktuelle Zahlen des Industrieverbands Körperpflege und Waschmittel (IKW) zur Marktentwicklung in Deutschland legen diesen Schluss nahe.
Reine Psychologie
Luxus im Supermarkt? Wie das funktioniert, weiß zum Beispiel Lara Stengel. In den „Kulinarikwelten“ in Fürth bietet ihre Kaufmannsfamilie kleinen, mittleren und ganz großen Pomp an: In einer 110 Quadratmeter großen „Schatzkammer“ wählt die Kundschaft der Stengels aus 900 Ultra-Premium-Spirituosen und -Weinen. Das teuerste Produkt dort ist ein Macallan-Whisky für 8.500 Euro. Den hat noch kein Kunde gekauft – aber darum geht es auch nicht. „Reine Verkaufspsychologie“, sagt Stengel. Dass der Mega-Teuer-Whisky im Regal steht, beweist Kompetenz – und es gibt gut Betuchten das Gefühl, mit der Entscheidung für ein 3.000-Euro-Getränk preisbewusst zu handeln. Tatsächlich: Whiskys in der 3.000-Euro-Preisklasse gehen jeden Monat raus, sagt Stengel.
Die Händlerin nutzt noch weit mehr solcher Kniffe. Teure Zigarren beispielsweise verkauft sie auch einzeln, also nicht nur in der Kiste. „Niemand will die Katze im Sack kaufen, und wenn die Kunden wissen, woran sie sind, kommen sie gerne wieder und kaufen mehr“, sagt Stengel. Bei Wein und Spirituosen seien Verkostungen ausgesprochen wichtig. Rund 600 Whiskys haben Stengels im Sortiment – von denen Kunden rund 200 Sorten probieren können. Hersteller stellen Verkostungsflaschen ihrer Erfahrung nach bereitwillig zur Verfügung. Außerdem braucht es kompetente Ansprechpartner auf der Fläche: Bei Edeka Stengel arbeiten vier Sommeliers, einer ist sogar selbst Winzer. „Wenn wir ehrlich sind, wird auch im Luxus- und Premium-Bereich der Online-Handel immer günstiger sein. Was wir bieten können, ist eine Top-Beratung und ein gewisses Erlebnis beim Einkauf“, sagt Stengel. Die Händlerin hat denn auch einen vergleichsweise einfachen Hinweis für Händler, die höherpreisig verkaufen möchten: Wer 40 Jahre nicht in seinen Laden investiere, brauche sich nicht wundern, wenn er nur Ramsch verkaufe. „Uns ist es wichtig, dass unsere Läden sauber, ordentlich und auf der Höhe der Zeit sind“, sagt sie.
Im Auge des Betrachters
Luxus – ob klein oder groß – verkauft sich eben durch weit mehr als das eigentliche Produkt. Otto Strecker, Professor und Berater beim Bonner Unternehmen AFC Consulting Group, sagt gar: „Die immateriellen Eigenschaften sind wichtiger.“ Luxus definiere sich durch Werte wie Prestige und Exklusivität. Was luxuriös sei, verändere sich denn auch ständig: „Man kann Luxus auch als das beschreiben, was die Gesellschaft und ihr Zeitgeist gerade dafür halten“, sagt Strecker der Lebensmittel Praxis.
Ist das Gefühl also alles – und das Produkt nichts? Hersteller halten naturgemäß dagegen. „Es geht nicht darum, einfach 50 Prozent mehr zu verlangen, nur weil man sich als Luxusmarke präsentiert“, sagt der Deutschlandchef des Champagnerhauses Vranken Pommery, Thomas Wirz. Sein Unternehmen löse auch im Hochpreissegment das Versprechen von einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis ein. Auf den Begriff Luxus reagiert er zurückhaltend – wenngleich Vranken Pommery Produkte wie Pommery Cuvée Louise Rosé verkauft, die schon einmal rund 300 Euro kosten können.
Der Duden nennt Luxus einen „kostspieligen, verschwenderischen, den normalen Rahmen übersteigenden, nicht notwendigen, nur zum Vergnügen betriebenen Aufwand“. Was genau notwendig ist, liegt im Auge des Betrachters, was teuer ist, am Kontostand. Luxus ist deshalb für jeden etwas anderes. An allen Arten des Luxus-Verlangens aber lässt sich nach Meinung vieler Experten selbst in Krisenzeiten vergleichsweise gut verdienen. Johannes Dorn, Gründer und Mitglied der Geschäftsführung beim Rheingold-Institut, denkt bei dem Begriff Luxus an das obere Ende der Ausgabenskala: „Wenn wir vom High-End-Markt reden, geht es um Rennpferde, Autos, Immobilien, Kleidung und Reisen“, sagt der Berater. Die Käufer solcher Produkte kämen aus einer kleinen Schicht, einer Generation von Erben, die viel Geld angelegt habe. Analysten sind sich einig, dass der Markt, den diese Gruppe ausmacht, unabhängig von wirtschaftlichen Schwierigkeiten groß bleiben wird. Die Unternehmensberatung Bain & Company etwa kommt in einer aktuellen Untersuchung zu dem Schluss, dass die weltweiten Ausgaben für teure Lederwaren, Autos oder Reisen 2024 einen Wert von fast 1,5 Billionen Euro erreichen werden. Damit bleibe dieser Markt im Vergleich zum Jahr 2023 stabil.
Luxus kennt keine Krise – auch wenn die Lage einiger internationaler Luxuskonzerne auf den ersten Blick anderes suggeriert. Allen voran der größte Luxuskonzern der Welt, LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy), muss sich momentan mit weniger bescheiden als noch vor kurzem: Der um Sondereffekte bereinigte operative Gewinn des Konzerns sank im ersten Halbjahr 2024 um 8 Prozent auf 10,7 Milliarden Euro. Die Franzosen machen ihr Geschäft mit Mode und Lederwaren, aber auch mit Luxus-Schaumwein (Moët & Chandon) und -Spirituosen (Hennessy Cognac), die in jedem gut sortierten deutschen Supermarkt zu finden sind. Auch Luxuskonzerne wie Kering oder Hugo Boss enttäuschten jüngst die Anleger. Nur: Das liegt vor allem an einem speziellen Effekt, wie Boris Planer vom Zukunftsinstitut sagt. Die momentane Entwicklung der Luxuskonzerne sei kein Anzeichen für eine allgemeine Trendwende, sondern bedingt durch einen Nachfrageeinbruch in Asien: „China war lange die Wachstumsmaschine der Luxusindustrie, doch diese Ära scheint zu enden. Neue Märkte wie Indien, Südkorea oder Japan gewinnen zunehmend an Bedeutung.“ Und Berater Strecker sagt: „Heute liegt der Kurs der LVMH-Aktie trotz allem fast 50 Prozent höher als vor fünf Jahren. Bei Prada beträgt der Zuwachs sogar rund 120 Prozent.“
Luxus darf erschwinglich sein
Und dann ist da eben der Lippenstift-Effekt – der Luxus am unteren und mittleren Ende der Skala zu einem guten Geschäft macht. Belege für die Theorie, nach der bezahlbare Luxus-Konsumgüter in Krisen besonders gefragt sind, liefern etwa Daten des Industrieverbands Körperpflege- und Waschmittel (IKW): Der Umsatz mit dekorativer Kosmetik, zu der Lippenstifte gehören, ist laut einer ersten Hochrechnung 2024 in Deutschland um auffällige 10,1 Prozent auf mehr als 2,2 Milliarden Euro gestiegen. Zum Vergleich: In den fünf Jahren davor lag das durchschnittliche Wachstum bei lediglich 4 Prozent. „In einer Zeit der Krisen und Konflikte sind gepflegtes Auftreten und individuelles Styling erst recht wichtig“, sagt der IKW-Vorsitzende Georg Held zu dem Umsatzplus. Auch die Experten von Bain & Company sehen diesen Trend. Bei den Luxusgütern für den persönlichen Gebrauch hätten sich zuletzt Beauty-Produkte, darunter vorzugsweise Parfum, am positivsten entwickelt. „Die Kundschaft wendet sich damit zunehmend kleineren Anschaffungen zu“, heißt es in einer Studie. Berater Boris Planer ist überzeugt, dass der Trend Chancen birgt für weitere Warengruppen: Auch Lebensmittel haben nach seiner Einschätzung das Potenzial, sich als erschwinglicher Luxus zu etablieren.
Unumstritten auf der Höhe der Zeit beim Thema Luxus sind die Edeka-Händler Marco und Rüdiger Zurheide. Auch an Investitionsbereitschaft fehlt es den Brüdern nicht. 20 Millionen Euro sind in den siebten Zurheide-Markt in der Düsseldorfer Innenstadt geflossen, den die Kaufleute 2018 eröffnet haben. Hier, nur einen Steinwurf von der Teuer-Meile Kö entfernt, wurde zum ersten Mal das Experiment einer Champagnerbar in einem Supermarkt gewagt. Der Einstiegspreis für ein Glas liegt bei 10 Euro für 0,1 Liter. „Ein fairer Preis, der zeigt, dass guter Champagner nicht unerschwinglich sein muss“, behaupten die PR-Profis Corinna Dosch und Rafael Mittmann, die den Zurheides seit der Eröffnung beratend zur Seite stehen. Die Champagner sind vorgekühlt, lagern bei idealer Temperatur und können sofort zu Hause oder an der Bar getrunken werden. Man wolle mit der Bar nicht nur die „Schönen und Reichen“ erreichen, sondern zeigen, dass Champagner für jeden erschwinglich sein kann. Dosch und Mittmann kennen sich aus in dem Metier. Vor neun Jahren haben die beiden einen Champagner-Club gegründet. Dessen rund 350 Mitglieder zahlen jährlich 750 Euro und bekommen dafür zwölf ausgewählte Flaschen nach Hause. Auch Reisen nach Frankreich und Verkostungen stehen auf dem Club-Programm. Es gehe ums Probieren, Entdecken und Bilden, sagen die Initiatoren. Luxus ist eben mehr, als nur ein teures Produkt zu kaufen – und das spielt auch im Zurheide-Markt eine Rolle. Dort treffen sich gerade die Anhänger besonders hochwertiger Artikel regelmäßig bei Veranstaltungen: zum Champagnerempfang, bei der Weinmesse, beim Gourmet-Festival.
Die Gen Z kauft, was Glanz verspricht
Zurheide erreicht damit eine zuweilen eher gesetzte Klientel. Teens und Twens treffen sich lieber bei Tiktok – aber sind ebenfalls potenzielle Luxuskäufer, wie die Konsumexperten Planer und Dorn sagen. Materieller Besitz sei ihnen weniger wichtig als glamouröse Erlebnisse – wie sie auch Lebensmittel bieten können. Wenn ein Produkt verspricht, zu Glanz und Zugehörigkeit zu verhelfen, sind gerade die Angehörigen der Generation Z bereit, kräftig zu zahlen – das zeigt der Hype um die Dubai-Schokolade. „Perception is reality“, sagt Dorn: Wahrnehmung werde zur Realität. Und: „Der ganze Hype um Dubai funktioniert in einer Blase. Es genügt, wenn es auf Instagram glamourös aussieht.“ Händler und Hersteller können daran verdienen – wenn sie reagieren, bevor ein Hype ein Tiktok-Trend von gestern ist.