Rückblick zum LP-Jubiläum Wie der Supermarkt super wurde – 75 Jahre deutsche Handelsgeschichte

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75 Jahre Lebensmittel Praxis: Das ist ein Grund zu feiern und zurückzublicken auf mehr als sieben Dekaden deutsche Handelsgeschichte.

Montag, 14. Oktober 2024, 06:00 Uhr
Matthias Mahr
Vor 75 Jahren ist die erste Lebensmittel Praxis erschienen – fast zeitgleich öffneten die ersten deutschen Supermärkte. Bildquelle: Getty Images

Die Gründung der Bonner Republik ist eine Erfolgsgeschichte. Das Wirtschaftswunder lässt Produktion und Gehälter schnell steigen. Die D-Mark ist eine stabile Währung. Nach langen entbehrungsreichen Jahren herrscht Nachholbedarf. Als sich die Geldbeutel bei Angestellten und Arbeitern füllen, entwickeln sich die Angebote im Handel rasant. Tante-Emma-Läden werden von Selbstbedienungsmärkten abgelöst. Im Lebensmitteleinzelhandel kommt es zum Flächenwachstum. Die heute Großen der Branche gibt es schon damals – nur ganz klein. Andere Marken des deutschen Handels gehen in ihnen auf. Eine spannende und ereignisreiche Zeitreise. 

Die 1940er

Konrad Adenauer
Konrad Adenauer
Neuwieder Hefte
Neuwieder Hefte

1949: Bundesrepublik und DDR werden gegründet

Als Präsident des Parlamentarischen Rates verkündet Konrad Adenauer am 23. Mai 1949 das Grundgesetz. Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik ist Hauptakteur der Staatsgründung. In Ostberlin entsteht daraufhin am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik mit Wilhelm Pieck als Staatslenker.

Erste Ausgabe der „Neuwieder Hefte“

Im Jahr der Gründung der Bundesrepublik liegt auch die Geburtsstunde der Lebensmittel Praxis, die damals noch „Neuwieder Hefte“ heißt. Ganz symbolträchtig und passend zur Branche hüpft das spätere Branchenmagazin für den Lebensmitteleinzelhandel im April als Küken neugierig ins Leben. Zwei Lehrer der Neuwieder Handelsschule sind die Väter dieser Erfolgsgeschichte. Sie erkennen, dass nicht nur ihre Schüler mit aktuellen beruflichen Informationen versorgt werden müssen. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt zunächst auf der Warenkunde. Denn nach der Währungsreform kommt Schwung in die Produktvielfalt und ins Regal. Heute ist die Lebensmittel Praxis eine der Top-20-Fachzeitschriften in Deutschland und Teil des Landwirtschaftsverlags in Münster.


Die 1950er

Konrad Adenauer
Die Grüne Tanne
Selbsbedienungsläden
Selbstbedienungsläden 
Verkaufstheke
Verkaufstheke

1950: Tante Emma – einst unverzichtbarer Nahversorger

Sie sind das Herz der Versorgung nach dem Krieg. Die Tante-
Emma-Läden haben neben Lebensmitteln auch Produkte für den täglichen Bedarf im Sortiment. Nach der Währungsreform folgt der Umbruch: Durch Massenkonsum und Flächenwachstum sowie die aufkommende Selbstbedienung verliert das Format an Bedeutung.

1954: Lidl & Schwarz starten neu

In Heilbronn gelingt der Wiederaufbau: Lidl & Schwarz schließt sich der Handelskette A&O (heute Markant) an. Erst 1968 zur ersten Supermarkt-Gründung unter dem Namen Handelshof.

1959

Aus der Rationalisierungsgemeinschaft des Handels entsteht die Vereinigung „Mittelständische Lebensmittel-Filialbetriebe“ (MLF). Ihr gehören die großen Filial­betriebe an.


Die 1960er

Albrecht Logos
Albrecht-Logo 1957
und ab 1963
Metro
Metro macht die ersten Schritte
Tengelmann
Tengelmann mit Milliarden-Umsatz

1961

Leibrand entsteht: Die Leibrand-Gruppe aus Bad Homburg macht in den Folgejahren Minimal und HL bekannt und geht ab 1989 komplett an Rewe.

Die Albrecht-Brüder trennen sich, weil sie sich nicht über den Verkauf von Zigaretten einigen können: Karl ist fortan Aldi-Süd und Theo Aldi-Nord.

1962: Allkauf startet als SB-Großmarkt

Alle können alles kaufen (Allkauf) macht das Discounter-Prinzip im Großmarkt und auf der SB-Warenhausfläche salonfähig. 
Die Metro-Linien Extra und Real übernehmen Allkauf 1999.

1963

Metro macht die ersten Schritte. In Essen eröffnet der erste SB-Großmarkt unter diesem Namen. Der Vertriebstyp Cash & Carry kommt aus den USA über den Großen Teich. Handelshof und Ratio-Märkte sind Pioniere in diesem neuen Segment.

1967: Tengelmann mit Milliarden-Umsatz

In Heilbronn gelingt der Wiederaufbau: Lidl & Schwarz schließt sich der Handelskette A&O (heute Markant) an. Erst 1968 zur ersten Supermarkt-Gründung unter dem Namen Handelshof.


Die 1970er

Lebensmittelladen aus den 70ern
70er bringen erste Wachstumsdelle in Deutschland
plus Logo
1972 Plus startet
Barcode
Barcode

1970er: Der Discount macht Meter

Bis Anfang der 70er-Jahre brummt die Wirtschaftsleistung in Deutschland. Mit dem Ölpreisschock kommt es ab 1973 zur Inflation. Plötzlich haben die Verbraucher weniger Geld im Portemonnaie. Die Wirtschaft passt sich an. Handel war seit jeher Wandel. Die Branchengrößen reagieren: Der Aufstieg der Discounter beginnt. Aldi und Lidl spielen bald eine dominante Rolle im Markt. Sie bieten eine begrenzte Auswahl an Produkten zu niedrigen Preisen an. Das macht sie bei den Verbrauchern sehr beliebt. Aber auch Edeka und Rewe expandieren und eröffnen neue Filialen. Ihre Super- und Verbrauchermärkte haben ein breites Sortiment und auch Produkte des täglichen Bedarfs im Angebot. Edeka und Rewe wandeln sich von genossenschaftlichen Strukturen zu hochgradig integrierten und zentral koordinierten Organisationen. Regionalgesellschaften heutiger Prägung entstehen. Beim Einkauf und in der Warenwirtschaft werden effiziente Einheiten geschaffen.

1972: Plus startet

Im Jahr der Olympiade in München gründet Tengelmann den Discounter Plus. Der Slogan „große Marken, kleine Preise“ kommt beim Verbraucher gut an. 2010 geht Plus im Markendiscounter Netto auf. Im Jahr zuvor übernimmt Familie Haub Kaiser’s Kaffeegeschäfte.

1973

Dieter Schwarz eröffnet seinen ersten Discount-Markt in Ludwigshafen. Lidl wächst erfolgreich und expandiert schnell. Bereits 1988 internationalisiert Schwarz sein Geschäftsmodell: Heute ist Lidl weltweit führend.

1974: Zeitenwende im Handel

In einem Supermarkt in Ohio kommt der erste Scanner zum Einsatz. Der bahnbrechende Zebra-Code revolutioniert den Handel, weil er der Standard zur Identifikation von Lebensmittelprodukten setzt und eine moderne Warenwirtschaft möglich macht.


Die 1980er

Kaufland
Kaufland in Neckarsulm
Coop
Coop: Eine Gaunergeschichte
Rewe
Supermärkte werden auf Rewe umgeflaggt

1984: Kaufland

In Neckarsulm ist der erste Standort des SB-Warenhauskonzeptes der Schwarz-Gruppe. 2010 kommt Schleckerland hinzu, 2011 die Ratio-Märkte in Osnabrück und Stadthagen. Und 2020 werden bedeutende Teile von Real zu Kaufland umgeflaggt.

1987: Die Gauner-Geschichte schlechthin

spielt sich im deutschen Coop-Konzern ab. Die Anklageschrift lautet: Betrug, Untreue, persönliche Bereicherung und Bilanzfälschung. Emporkömmling Bernd Otto ist Hauptakteur: vom Färbergesellen und Gewerkschafter bringt er es zum Coop-Chef.

1989

Zur Rewe gehören u. a. Märkte wie „R-Kauf“, „HL-Markt“, „Stüssgen“, „Otto Mess“ oder „Minimal“. Nach und nach verschwinden diese Marken. 2006 werden etwa 3.000 Supermärkte auf die Vertriebsmarke Rewe umgeflaggt. 90 Jahre Rewe heißt es 2017, der Umsatz der Gruppe beträgt da bereits rund 
49,4 Milliarden Euro.

Forschung und Bildung

Das EHI (Euro Handelsinstitut) geht aus dem Zusammenschluss des Instituts für Selbstbedienung und Warenwirtschaft sowie der Rationalisierungsgemeinschaft des Handels hervor. 2006 erfolgt die Umbenennung in EHI Retail Institute. Das EHI ist Gründer der Euroshop, der internationalen Fachmesse für Investitionsgüter des Handels.

Der Mauerfall

kommt unverhofft und schneller, als es je für möglich gehalten wurde. Die friedliche Revolution der DDR-Bürger bringt die Einheit der Deutschen. Farbenfrohe Konsumwelten locken die Ostdeutschen in den Westen.


Die 1990er

Lebensmittel Praxis aus den 90ern
Lebensmittel Praxis mittendrin
Kaufland
Kaufland schafft den Durchbruch
HO Läden und Konsum
HO-Läden und Konsum in Ostdeutschland

1990: Der Westen erschließt den Osten

Im Osten herrscht Nachholbedarf. Nach dem Mauerfall expandieren große westdeutsche Handelsketten wie Edeka, Rewe und Aldi sowie die Schwarz-Gruppe schnell in den Osten und dominieren bald den Markt. Die Menschen in der DDR erfreuen sich an der neuen Sortimentsvielfalt durch die westdeutschen Produkte und Marken, die via Fernsehen schon längst den Eisernen Vorhang überwunden hatten. Die breitere Produktpalette führte zu einer höheren Qualität der angebotenen Waren. Der Lebensmitteleinzelhandel im Osten durchlief einen massiven Strukturwandel. Viele staatliche Unternehmen wurden privatisiert oder von westdeutschen übernommen. Von den Ostmarken überlebten nur wenige. Vita Cola, Rügenfisch, Halloren Kugeln und Rotkäppchen sind hier zu nennen.

Kaufland schafft den Durchbruch: 51 Flächen zählt das SB-Warenhaus im Westen, bis 1997 kommen im Osten 100 dazu.

HO-Läden und Konsum bestimmen die Einzelhandelsstruktur in Ostdeutschland.

Die Handelsorganisation löst sich nach der Wende auf. „Konsum“ existiert als Markenname weiter. In den ostdeutschen Ländern gibt es regionale Genossenschaften, die Filialen unter der Firmierung „Konsum“ betreiben. 

Das Duale System zur Sekundärrohstoffgewinnung entsteht.

Der Gelbe Sack und lizenzierte Verkaufsverpackungen mit dem Grünen Punkt verdeutlichen: Müllvermeidung und Kreislaufwirtschaft sind mehr als eine bloße Tugend, eher ein unverzichtbares Muss.

1990er: Innenstädte und Malls blühen auf

Das Konsumverhalten ändert sich in den 90er-Jahren erheblich. Es ist die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten und der Leichtigkeit. Der Einzelhandel erlebt einen unglaublichen Boom. Einkaufszentren und Supermärkte werden immer populärer. Besonders die großen Malls sind nicht nur Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch Freizeit- und Unterhaltungsort. Mit der Einführung der D-Mark in den neuen Bundesländern steigt die Nachfrage nach Konsumgütern im Osten stark an. Elektronik, Mode und Autos sind besonders begehrt und stammen noch größtenteils aus deutscher Produktion. Das lässt das Bruttosozialprodukt stark wachsen.

Es ist aber auch eine Zeit des Umbruchs. Teleshopping kommt auf. QVC und HSE24 bieten Produkte erstmals über das Fernsehen an. Unternehmen wie Amazon und Ebay werden gegründet und setzen den Startpunkt für den E-Commerce. Und im Fernsehen regiert „Wetten, dass..?“ das Geschehen.

1992: Real ist eine Größe

der Zeit und Teil des Metro-Konzerns. „Einmal hin. Alles drin.“ Der Spruch ist Werbeslogan und Geschäftsprinzip in einem. 1994 werden die Massa-Märkte in Real integriert, 1998 folgt Allkauf. Das Real-Nonfood-Angebot besticht.

1994: Das Kaufhaussterben beginnt

Mit Hertie verschwindet ein Kaufhaus­gigant. Karstadt übernimmt und verbündet sich 2018 mit Galeria Kaufhof.

1997: Tchibo

verleibt sich den Wettbewerber Eduscho ein. Einige Jahre laufen die Geschäfte der Kaffeeröster noch parallel. Dann aber beschließt Tchibo, dass jede Woche eine neue Welt reicht. Eduscho verschwindet nach und nach von der Bildfläche.


Die 2000er

Innenstadt
Ungebremster Kaufrausch
real
Real ist eine Größe
Hertie
Kaufhaussterben beginnt

2000er: Marktmacht verhindern

Der Wettbewerbsdruck steigt und der Markt konsolidiert sich weiter. Edeka und Rewe sind Mächte im Markt, aber auch die Schwarz-Gruppe und Aldi Nord sowie Süd haben Gewicht. Die Großen haben zusammen einen Marktanteil von rund 75 Prozent. Der deutsche LEH-Markt ist sehr preisgetrieben und deshalb abgeschottet, US-Gigant Walmart ist auch aus diesem Grund in Deutschland gescheitert. 2016 stimmt das Bundeskartellamt der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann nur unter bestimmten Auflagen zu (siehe oben). Edeka muss 2017 eine Anzahl an Filialen an Wettbewerber Rewe verkaufen. Die Wettbewerbshüter möchten damit die Marktkonzentration verringern. Die Kartellwächter aus Bonn sichern im Sinne des Verbrauchers eine Vielfalt an Anbietern. Wenn nach Zusammenschlüssen Kostenvorteile durch sinkende Preise an die Konsumenten weitergegeben werden, schreiten sie nicht ein.

2000

Bei Tengelmann übernehmen Karl Erivan und Christian W.E. Haub das Ruder. Die 111 bestehenden Supermärkte von Grosso und Magnet werden verkauft, im Süden gehen 66 an Lidl & Schwarz. Bartels-Langness und die Dohle-Gruppe übernehmen Flächen im Norden.

Die Discount-Konzepte werden ausgefeilter. Rewe und Edeka bieten deshalb Preiseinstiegsprodukte als Handelsmarken an. Die Vielfalt der „Eigenmarken“ des Handels wächst über alle Warengruppen an. 2023 beträgt ihr Anteil im LEH annähernd 42 Prozent. Der Kaufkraftverlust der Verbraucher beschleunigt diesen Trend weg von der Marke.

2005: Edeka greift bei Spar zu

und erhält rund 2.100 Netto-Markendiscount-Geschäfte. 
Es folgt zudem die Eingliederung der AVA
(Allgemeine Handelsgesellschaft der Verbraucher) mit den bis heute bestehenden Marktkauf SB-Warenhäusern.

2006: Minimal verschwindet

für immer. Der Markt konsolidiert sich im Vollsortiment. Neue Konzepte auf der Fläche und Bio-Produkte sorgen für Differenzierung.

2009: Edeka ist die neue Nummer eins

im deutschen Lebensmittelhandel. Der Jahresumsatz beträgt mehr als 43 Milliarden Euro und der Marktanteil der Hamburger liegt bei annähernd 20 Prozent.


Die 2010er

Schlecker
Schlecker-Modell scheitert
Kaisers
Kanne geht für immer
Verkaufstheke
2009: Edeka ist die Nummer eins

2012: Das Schlecker-Modell scheitert

und Anton Schlecker erhält 2017 ein mildes Urteil - nur zwei Jahre auf Bewährung sowie 54.000 Euro Geldstrafe. Die Mitarbeiter schuften für wenig Lohn auf kleiner Fläche.

2017: Die Kanne geht für immer

Edeka und Rewe bleiben hungrig. Nach Bedenken des Bundeskartellamtes muss Edeka sich die rund 400 Kaiser’s Tengelmann-Filialen mit Rewe teilen. Edeka und Rewe verkündenden den Wettbewerbshütern, die Übernahme werde zu Preissenkungen führen. Es herrscht Investitionsstau auf den Flächen mit der Kanne.


Die 2020er

Maske ist Pflicht
Corona-Pandemie ändert alles
plus Logo
Tegut setzt mit Teo den Trend
Verkaufstheke Käse
Mitarbeiter im Handel gesucht

2020: Tegut setzt mit Teo den Trend

und erweckt ein innovatives Smart-Store-Konzept zum Leben. Im neuen digitalen Kleinstflächenformat mit begrenztem Sortiment können die Verbraucher dank digitaler Verkaufstechnologie rund um die Uhr einkaufen. Selbstscanning-Kassen und eine App machen Einkaufen und Bezahlen einfach.

Corona-Pandemie ändert alles

Covid-19 eröffnet im Handel neue Chancen. Es entstehen Liefer- und Abholkonzepte. Stationärer LEH und E-Commerce profitieren. In den Lockdowns füllt der Trend zum One-Stop-Shopping die Kassen der Kaufleute.

2022: Der 24. Februar 2022 verändert Europa

Putin lässt die Ukraine angreifen und sorgt für eine Energiekrise, die besonders Deutschland trifft. Inflationsangst geht um. Die Lebensmittelpreise steigen zweistellig, der Discount wächst.

2023: Mitarbeiter gesucht

heißt es verstärkt seit der Pandemie im Handel. Es fehlt besonders an den Bedientheken das Personal. Die Folge: Bedientheken öffnen nur zu bestimmten Zeiten oder schließen ganz. Das kostet die Kaufleute Marge.

2024: Künstliche 
Intelligenz

kann künftig zur Lösung vieler Probleme im Handel beitragen. Wo Menschen fehlen, können digitale Helfer ein Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit sein. Ob im Category-Management, beim automatisierten Check-out oder als autonomer Store – vieles ist bereits möglich.