Die Gründung der Bonner Republik ist eine Erfolgsgeschichte. Das Wirtschaftswunder lässt Produktion und Gehälter schnell steigen. Die D-Mark ist eine stabile Währung. Nach langen entbehrungsreichen Jahren herrscht Nachholbedarf. Als sich die Geldbeutel bei Angestellten und Arbeitern füllen, entwickeln sich die Angebote im Handel rasant. Tante-Emma-Läden werden von Selbstbedienungsmärkten abgelöst. Im Lebensmitteleinzelhandel kommt es zum Flächenwachstum. Die heute Großen der Branche gibt es schon damals – nur ganz klein. Andere Marken des deutschen Handels gehen in ihnen auf. Eine spannende und ereignisreiche Zeitreise.
Die 1940er


1949: Bundesrepublik und DDR werden gegründet
Als Präsident des Parlamentarischen Rates verkündet Konrad Adenauer am 23. Mai 1949 das Grundgesetz. Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik ist Hauptakteur der Staatsgründung. In Ostberlin entsteht daraufhin am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik mit Wilhelm Pieck als Staatslenker.
Erste Ausgabe der „Neuwieder Hefte“
Im Jahr der Gründung der Bundesrepublik liegt auch die Geburtsstunde der Lebensmittel Praxis, die damals noch „Neuwieder Hefte“ heißt. Ganz symbolträchtig und passend zur Branche hüpft das spätere Branchenmagazin für den Lebensmitteleinzelhandel im April als Küken neugierig ins Leben. Zwei Lehrer der Neuwieder Handelsschule sind die Väter dieser Erfolgsgeschichte. Sie erkennen, dass nicht nur ihre Schüler mit aktuellen beruflichen Informationen versorgt werden müssen. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt zunächst auf der Warenkunde. Denn nach der Währungsreform kommt Schwung in die Produktvielfalt und ins Regal. Heute ist die Lebensmittel Praxis eine der Top-20-Fachzeitschriften in Deutschland und Teil des Landwirtschaftsverlags in Münster.
Die 1950er



1950: Tante Emma – einst unverzichtbarer Nahversorger
Sie sind das Herz der Versorgung nach dem Krieg. Die Tante- Emma-Läden haben neben Lebensmitteln auch Produkte für den täglichen Bedarf im Sortiment. Nach der Währungsreform folgt der Umbruch: Durch Massenkonsum und Flächenwachstum sowie die aufkommende Selbstbedienung verliert das Format an Bedeutung.
1954: Lidl & Schwarz starten neu
In Heilbronn gelingt der Wiederaufbau: Lidl & Schwarz schließt sich der Handelskette A&O (heute Markant) an. Erst 1968 zur ersten Supermarkt-Gründung unter dem Namen Handelshof.
1959
Aus der Rationalisierungsgemeinschaft des Handels entsteht die Vereinigung „Mittelständische Lebensmittel-Filialbetriebe“ (MLF). Ihr gehören die großen Filialbetriebe an.
Die 1960er

und ab 1963


1961
Leibrand entsteht: Die Leibrand-Gruppe aus Bad Homburg macht in den Folgejahren Minimal und HL bekannt und geht ab 1989 komplett an Rewe.
Die Albrecht-Brüder trennen sich, weil sie sich nicht über den Verkauf von Zigaretten einigen können: Karl ist fortan Aldi-Süd und Theo Aldi-Nord.
1962: Allkauf startet als SB-Großmarkt
Alle können alles kaufen (Allkauf) macht das Discounter-Prinzip im Großmarkt und auf der SB-Warenhausfläche salonfähig. Die Metro-Linien Extra und Real übernehmen Allkauf 1999.
1963
Metro macht die ersten Schritte. In Essen eröffnet der erste SB-Großmarkt unter diesem Namen. Der Vertriebstyp Cash & Carry kommt aus den USA über den Großen Teich. Handelshof und Ratio-Märkte sind Pioniere in diesem neuen Segment.
1967: Tengelmann mit Milliarden-Umsatz
In Heilbronn gelingt der Wiederaufbau: Lidl & Schwarz schließt sich der Handelskette A&O (heute Markant) an. Erst 1968 zur ersten Supermarkt-Gründung unter dem Namen Handelshof.
Die 1970er



1970er: Der Discount macht Meter
Bis Anfang der 70er-Jahre brummt die Wirtschaftsleistung in Deutschland. Mit dem Ölpreisschock kommt es ab 1973 zur Inflation. Plötzlich haben die Verbraucher weniger Geld im Portemonnaie. Die Wirtschaft passt sich an. Handel war seit jeher Wandel. Die Branchengrößen reagieren: Der Aufstieg der Discounter beginnt. Aldi und Lidl spielen bald eine dominante Rolle im Markt. Sie bieten eine begrenzte Auswahl an Produkten zu niedrigen Preisen an. Das macht sie bei den Verbrauchern sehr beliebt. Aber auch Edeka und Rewe expandieren und eröffnen neue Filialen. Ihre Super- und Verbrauchermärkte haben ein breites Sortiment und auch Produkte des täglichen Bedarfs im Angebot. Edeka und Rewe wandeln sich von genossenschaftlichen Strukturen zu hochgradig integrierten und zentral koordinierten Organisationen. Regionalgesellschaften heutiger Prägung entstehen. Beim Einkauf und in der Warenwirtschaft werden effiziente Einheiten geschaffen.
1972: Plus startet
Im Jahr der Olympiade in München gründet Tengelmann den Discounter Plus. Der Slogan „große Marken, kleine Preise“ kommt beim Verbraucher gut an. 2010 geht Plus im Markendiscounter Netto auf. Im Jahr zuvor übernimmt Familie Haub Kaiser’s Kaffeegeschäfte.
1973
Dieter Schwarz eröffnet seinen ersten Discount-Markt in Ludwigshafen. Lidl wächst erfolgreich und expandiert schnell. Bereits 1988 internationalisiert Schwarz sein Geschäftsmodell: Heute ist Lidl weltweit führend.
1974: Zeitenwende im Handel
In einem Supermarkt in Ohio kommt der erste Scanner zum Einsatz. Der bahnbrechende Zebra-Code revolutioniert den Handel, weil er der Standard zur Identifikation von Lebensmittelprodukten setzt und eine moderne Warenwirtschaft möglich macht.
Die 1980er



1984: Kaufland
In Neckarsulm ist der erste Standort des SB-Warenhauskonzeptes der Schwarz-Gruppe. 2010 kommt Schleckerland hinzu, 2011 die Ratio-Märkte in Osnabrück und Stadthagen. Und 2020 werden bedeutende Teile von Real zu Kaufland umgeflaggt.
1987: Die Gauner-Geschichte schlechthin
spielt sich im deutschen Coop-Konzern ab. Die Anklageschrift lautet: Betrug, Untreue, persönliche Bereicherung und Bilanzfälschung. Emporkömmling Bernd Otto ist Hauptakteur: vom Färbergesellen und Gewerkschafter bringt er es zum Coop-Chef.
1989
Zur Rewe gehören u. a. Märkte wie „R-Kauf“, „HL-Markt“, „Stüssgen“, „Otto Mess“ oder „Minimal“. Nach und nach verschwinden diese Marken. 2006 werden etwa 3.000 Supermärkte auf die Vertriebsmarke Rewe umgeflaggt. 90 Jahre Rewe heißt es 2017, der Umsatz der Gruppe beträgt da bereits rund 49,4 Milliarden Euro.
Forschung und Bildung
Das EHI (Euro Handelsinstitut) geht aus dem Zusammenschluss des Instituts für Selbstbedienung und Warenwirtschaft sowie der Rationalisierungsgemeinschaft des Handels hervor. 2006 erfolgt die Umbenennung in EHI Retail Institute. Das EHI ist Gründer der Euroshop, der internationalen Fachmesse für Investitionsgüter des Handels.
Der Mauerfall
kommt unverhofft und schneller, als es je für möglich gehalten wurde. Die friedliche Revolution der DDR-Bürger bringt die Einheit der Deutschen. Farbenfrohe Konsumwelten locken die Ostdeutschen in den Westen.
Die 1990er



1990: Der Westen erschließt den Osten
Im Osten herrscht Nachholbedarf. Nach dem Mauerfall expandieren große westdeutsche Handelsketten wie Edeka, Rewe und Aldi sowie die Schwarz-Gruppe schnell in den Osten und dominieren bald den Markt. Die Menschen in der DDR erfreuen sich an der neuen Sortimentsvielfalt durch die westdeutschen Produkte und Marken, die via Fernsehen schon längst den Eisernen Vorhang überwunden hatten. Die breitere Produktpalette führte zu einer höheren Qualität der angebotenen Waren. Der Lebensmitteleinzelhandel im Osten durchlief einen massiven Strukturwandel. Viele staatliche Unternehmen wurden privatisiert oder von westdeutschen übernommen. Von den Ostmarken überlebten nur wenige. Vita Cola, Rügenfisch, Halloren Kugeln und Rotkäppchen sind hier zu nennen.
Kaufland schafft den Durchbruch: 51 Flächen zählt das SB-Warenhaus im Westen, bis 1997 kommen im Osten 100 dazu.
HO-Läden und Konsum bestimmen die Einzelhandelsstruktur in Ostdeutschland.
Die Handelsorganisation löst sich nach der Wende auf. „Konsum“ existiert als Markenname weiter. In den ostdeutschen Ländern gibt es regionale Genossenschaften, die Filialen unter der Firmierung „Konsum“ betreiben.
Das Duale System zur Sekundärrohstoffgewinnung entsteht.
Der Gelbe Sack und lizenzierte Verkaufsverpackungen mit dem Grünen Punkt verdeutlichen: Müllvermeidung und Kreislaufwirtschaft sind mehr als eine bloße Tugend, eher ein unverzichtbares Muss.
1990er: Innenstädte und Malls blühen auf
Das Konsumverhalten ändert sich in den 90er-Jahren erheblich. Es ist die Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten und der Leichtigkeit. Der Einzelhandel erlebt einen unglaublichen Boom. Einkaufszentren und Supermärkte werden immer populärer. Besonders die großen Malls sind nicht nur Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch Freizeit- und Unterhaltungsort. Mit der Einführung der D-Mark in den neuen Bundesländern steigt die Nachfrage nach Konsumgütern im Osten stark an. Elektronik, Mode und Autos sind besonders begehrt und stammen noch größtenteils aus deutscher Produktion. Das lässt das Bruttosozialprodukt stark wachsen.
Es ist aber auch eine Zeit des Umbruchs. Teleshopping kommt auf. QVC und HSE24 bieten Produkte erstmals über das Fernsehen an. Unternehmen wie Amazon und Ebay werden gegründet und setzen den Startpunkt für den E-Commerce. Und im Fernsehen regiert „Wetten, dass..?“ das Geschehen.
1992: Real ist eine Größe
der Zeit und Teil des Metro-Konzerns. „Einmal hin. Alles drin.“ Der Spruch ist Werbeslogan und Geschäftsprinzip in einem. 1994 werden die Massa-Märkte in Real integriert, 1998 folgt Allkauf. Das Real-Nonfood-Angebot besticht.
1994: Das Kaufhaussterben beginnt
Mit Hertie verschwindet ein Kaufhausgigant. Karstadt übernimmt und verbündet sich 2018 mit Galeria Kaufhof.
1997: Tchibo
verleibt sich den Wettbewerber Eduscho ein. Einige Jahre laufen die Geschäfte der Kaffeeröster noch parallel. Dann aber beschließt Tchibo, dass jede Woche eine neue Welt reicht. Eduscho verschwindet nach und nach von der Bildfläche.
Die 2000er



2000er: Marktmacht verhindern
Der Wettbewerbsdruck steigt und der Markt konsolidiert sich weiter. Edeka und Rewe sind Mächte im Markt, aber auch die Schwarz-Gruppe und Aldi Nord sowie Süd haben Gewicht. Die Großen haben zusammen einen Marktanteil von rund 75 Prozent. Der deutsche LEH-Markt ist sehr preisgetrieben und deshalb abgeschottet, US-Gigant Walmart ist auch aus diesem Grund in Deutschland gescheitert. 2016 stimmt das Bundeskartellamt der Übernahme von Kaiser’s Tengelmann nur unter bestimmten Auflagen zu (siehe oben). Edeka muss 2017 eine Anzahl an Filialen an Wettbewerber Rewe verkaufen. Die Wettbewerbshüter möchten damit die Marktkonzentration verringern. Die Kartellwächter aus Bonn sichern im Sinne des Verbrauchers eine Vielfalt an Anbietern. Wenn nach Zusammenschlüssen Kostenvorteile durch sinkende Preise an die Konsumenten weitergegeben werden, schreiten sie nicht ein.
2000
Bei Tengelmann übernehmen Karl Erivan und Christian W.E. Haub das Ruder. Die 111 bestehenden Supermärkte von Grosso und Magnet werden verkauft, im Süden gehen 66 an Lidl & Schwarz. Bartels-Langness und die Dohle-Gruppe übernehmen Flächen im Norden.
Die Discount-Konzepte werden ausgefeilter. Rewe und Edeka bieten deshalb Preiseinstiegsprodukte als Handelsmarken an. Die Vielfalt der „Eigenmarken“ des Handels wächst über alle Warengruppen an. 2023 beträgt ihr Anteil im LEH annähernd 42 Prozent. Der Kaufkraftverlust der Verbraucher beschleunigt diesen Trend weg von der Marke.
2005: Edeka greift bei Spar zu
und erhält rund 2.100 Netto-Markendiscount-Geschäfte. Es folgt zudem die Eingliederung der AVA (Allgemeine Handelsgesellschaft der Verbraucher) mit den bis heute bestehenden Marktkauf SB-Warenhäusern.
2006: Minimal verschwindet
für immer. Der Markt konsolidiert sich im Vollsortiment. Neue Konzepte auf der Fläche und Bio-Produkte sorgen für Differenzierung.
2009: Edeka ist die neue Nummer eins
im deutschen Lebensmittelhandel. Der Jahresumsatz beträgt mehr als 43 Milliarden Euro und der Marktanteil der Hamburger liegt bei annähernd 20 Prozent.
Die 2010er



2012: Das Schlecker-Modell scheitert
und Anton Schlecker erhält 2017 ein mildes Urteil - nur zwei Jahre auf Bewährung sowie 54.000 Euro Geldstrafe. Die Mitarbeiter schuften für wenig Lohn auf kleiner Fläche.
2017: Die Kanne geht für immer
Edeka und Rewe bleiben hungrig. Nach Bedenken des Bundeskartellamtes muss Edeka sich die rund 400 Kaiser’s Tengelmann-Filialen mit Rewe teilen. Edeka und Rewe verkündenden den Wettbewerbshütern, die Übernahme werde zu Preissenkungen führen. Es herrscht Investitionsstau auf den Flächen mit der Kanne.
Die 2020er



2020: Tegut setzt mit Teo den Trend
und erweckt ein innovatives Smart-Store-Konzept zum Leben. Im neuen digitalen Kleinstflächenformat mit begrenztem Sortiment können die Verbraucher dank digitaler Verkaufstechnologie rund um die Uhr einkaufen. Selbstscanning-Kassen und eine App machen Einkaufen und Bezahlen einfach.
Corona-Pandemie ändert alles
Covid-19 eröffnet im Handel neue Chancen. Es entstehen Liefer- und Abholkonzepte. Stationärer LEH und E-Commerce profitieren. In den Lockdowns füllt der Trend zum One-Stop-Shopping die Kassen der Kaufleute.
2022: Der 24. Februar 2022 verändert Europa
Putin lässt die Ukraine angreifen und sorgt für eine Energiekrise, die besonders Deutschland trifft. Inflationsangst geht um. Die Lebensmittelpreise steigen zweistellig, der Discount wächst.
2023: Mitarbeiter gesucht
heißt es verstärkt seit der Pandemie im Handel. Es fehlt besonders an den Bedientheken das Personal. Die Folge: Bedientheken öffnen nur zu bestimmten Zeiten oder schließen ganz. Das kostet die Kaufleute Marge.
2024: Künstliche Intelligenz
kann künftig zur Lösung vieler Probleme im Handel beitragen. Wo Menschen fehlen, können digitale Helfer ein Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit sein. Ob im Category-Management, beim automatisierten Check-out oder als autonomer Store – vieles ist bereits möglich.