Bediene dich selbst! Der erste deutsche Supermarkt stand in Köln – oder in Hamburg oder in Augsburg

1949, im Gründungsjahr der Lebensmittel Praxis, öffneten in Deutschland die ersten Selbstbedienungsläden. Waren das schon Supermärkte? Die Antwort ist umstritten.

Montag, 14. Oktober 2024, 06:00 Uhr
Werner Grosch
Artikelbild Der erste deutsche Supermarkt stand in Köln – oder in Hamburg oder in Augsburg
Eklöh in Köln war gigantisch nach den Maßstäben der 50er. Vor dem Markt war Platz für 200 Autos. Quelle: Walter Dick Archiv
Im Supermarkt von Herbert Eklöh war die Auswahl
vergleichsweise üppig – aber die Präsentation eher spartanisch.
Bildquelle: Walter Dick Archiv

Die Aufforderung ist eindeutig, fast schon im Befehlston gehalten: „Bediene dich selbst“ steht in großen Buchstaben auf einem Schild, das über den Warenregalen im „Blauen Laden“ hängt. Es ist Juni 1949 und die Idee der Selbstbedienung im Lebensmittelhandel für Deutschland völlig neu. Die Kundschaft betritt das Geschäft zunächst einigermaßen scheu: Sie nutzt nur zögerlich die bereitstehenden Einkaufswagen, „eine Art Teewagen mit Holzkisten“, wie ein Lokalreporter damals festhält.

In ihrer allerersten Ausgabe beschäftigen sich auch die „Neuwieder Hefte für Werbung und Verkauf im Lebensmitteleinzelhandel“, wie die Lebensmittel Praxis damals heißt, mit den Chancen des neuen Konzepts: Die Preise seien „äußerst kalkuliert“, und es gebe nur ein Minimum an Personal. „Die Inhaber erwarten, dass eine Umsatzleistung je Verkaufskraft erzielt wird, die bisherige statistische Ergebnisse weit übertrifft“, berichtet der Autor.

Der wegen seiner Fassadenfarbe so genannte „Blaue Laden“ bietet ein Sortiment mit rund 2.000 Produkten an – vor allem Lebensmittel, aber auch Haushaltsbedarf und Drogeriewaren. Inhaber ist der Großhandelsbetrieb Bernhard Müller, der 
Standort ist Augsburg. Die bayerisch-schwäbische Stadt rühmt sich noch heute, gewissermaßen Wiege der Supermärkte in Deutschland zu sein – und das durchaus mit guten Gründen, denn einen Selbstbedienungsladen mit Einkaufswagen und Kasse, in dem kein Kaufmann im weißen Kittel Mehl und Zucker auf Kundenwunsch abwiegt und verpackt, hat es zuvor so nicht gegeben.

Sinnbild des Wirtschaftswunders

Zwar entstanden schon Ende der 1940er- Jahre die ersten Selbstbedienungsläden im deutschen Lebensmittelhandel, aber erst im Laufe der 1950er-Jahre nahm die Entwicklung Fahrt auf. Der Wirtschaftshistoriker Karl Ditt gibt die Zahl der SB-Geschäfte im Jahr 1950 mit 20 an. Fünf Jahre später seien es schon etwa 320 gewesen, zehn Jahre später bereits mehr als 17. 000.

An diesen Zahlen lässt sich deutsche Wirtschaftsgeschichte ablesen: die Entstehung des Wirtschaftswunders. Denn die Steigerung des Konsums privater Haushalte setzte nicht nur ein wachsendes Einkommen voraus. Wer nicht mehr täglich in den Tante-Emma-Laden gehen, sondern seinen Wocheneinkauf im Supermarkt erledigen wollte, brauchte einen Kühlschrank – und möglichst auch ein Auto. Im Jahr 1950 waren in Deutschland erst knapp 600.000 Autos zugelassen, 1955 schon doppelt so viele, und 1960 immerhin schon 4,5 Millionen. Ähnlich rasant lief die Entwicklung bei den Kühlschränken: 1955 gab es die Geräte erst in sieben Prozent der deutschen Haushalte, im Jahr 1960 schon in mehr als der Hälfte.

Aber warum nahm die Geschichte der Supermärkte in Deutschland ausgerechnet in Augsburg ihren Anfang? Zum einen war Augsburg nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Standort des US-Militärs. Den Soldaten war das SB-Konzept, das in ihrer Heimat schon vor 1920 etabliert wurde, längst vertraut, entsprechende Versorgungsstationen wurden in der Stadt eigens für sie eingerichtet, die Idee wurde in der Stadt also langsam bekannt. Außerdem verlegte der Kassenhersteller NCR (National Cash Register), der schon vor dem Krieg eine Tochterfirma in Deutschland gegründet hatte, im Jahr 1947 seinen Sitz von Berlin nach Augsburg, das in der amerikanischen Besatzungszone lag. Und weil Bernhard Müller einer der großen Lebensmittelhändler der Region war, ging das US-Unternehmen auf den damaligen geschäftsführenden Gesellschafter Rudolf Müller mit dem Vorschlag zu, ein Geschäft mit Selbstbedienung zu eröffnen.

Allerdings war der „Blaue Laden“ nicht jeder und jedem zugänglich. Er war konzipiert als Versuchslabor – oder, wie es eine Inschrift an der Fassade etwas sperrig ausdrückte: „Kleinhandelswegeprober zur Leistungssteigerung“. Einkaufen durften hier nur die gut 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firma Bernhard Müller Augsburg (BMA) sowie „ein verhältnismäßig beschränkter Verbraucherkreis, welchem eine jederzeit widerrufliche Einkaufs-Genehmigungskarte ausgestellt wurde“, wie in deutlicher Mahnung an die Wand geschrieben stand. Rund 3.000 solcher Karten wurden ausgegeben, und wer in deren Genuss kam, verpflichtete sich dazu, regelmäßig Auskunft über seine Einkaufsgewohnheiten zu geben. Der „Blaue Laden“ war also nicht nur ein Testlabor für ein neues Handelskonzept, sondern auch ein frühes Projekt der Marktforschung.

Bernhard Müller, 1951 geborener Enkel des damaligen Geschäftsführers Rudolf Müller, erinnert sich im Gespräch mit der LP an die damalige Pionierzeit: „Wir haben die Holzkisten für den Einkauf damals noch in unserer eigenen Schreinerei hergestellt, und wir hatten eine riesige Abpackerei, um die Waren dann verkaufsfertig zu machen.“ Die Möglichkeit, selbst diese Kisten zu füllen, führte allerdings zu einem erstaunlichen Phänomen: „Die Leute haben immer viel zu viel eingepackt. Dann kamen sie an die Kasse und mussten Waren zurückgeben, weil sie gar nicht alles bezahlen konnten.“

Darf das Augsburger Geschäft mit seinen Zugangsbeschränkungen also tatsächlich als erster deutscher Supermarkt gelten? Und damit das Jahr 1949, in dem auch der Vorläufer der Lebensmittel Praxis erstmals erschien, als Geburtsjahr dieser revolutionären Handelsform? In Köln sagt man dazu ganz klar: Nein. In Hamburg allenfalls: Jein. Es stimme schon, dass 1949 der erste deutsche Supermarkt entstanden sei, sagen die Hansestädter, aber es sei eben nicht im Juni, sondern im September gewesen, und nicht in Bayern, sondern im Norden Deutschlands. Denn in Hamburg eröffnete zu jener Zeit ein SB-Laden, der im Gegensatz zum Augsburger Vorgänger frei zugänglich war. Die Konsumgenossenschaft „Produktion“, kurz „Pro“, führte dieses Geschäft, das mit 170 Quadratmetern Verkaufsfläche und etwa 600 Produkten allerdings deutlich kleiner war als das in Bayern.

Impulskäufe in völlig neuem Ausmaß

Trotzdem wird als erster echter deutscher Supermarkt meist ein drittes Geschäft genannt: ein Laden, den der gebürtige Bochumer Herbert Eklöh 1957 in Köln eröffnete. In der Rheinlandhalle, Teil eines alten Fabrikgeländes im Stadtteil Ehrenfeld, entstand ein Markt mit rund 1.700 Quadratmetern Verkaufsfläche, größer als alles zuvor bekannte. Ein weiterer wichtiger, in dem Ausmaß neuer Aspekt waren die 200 Parkplätze, die Herbert Eklöh auf dem Gelände für seine Kundschaft anbot. Dies und die Tatsache, dass das Geschäft für jedermann zugänglich war, begründeten seinen Ruf als erster deutscher Supermarkt nach US-Vorbild.

Visionen mit jähem Ende

Die drei Unternehmen, die eine führende Rolle bei der Entstehung der Supermärkte in Deutschland für sich reklamieren, existieren heute alle nicht mehr. Herbert Eklöh, der 1957 seinen Laden in Köln eröffnete und mehr als 20 weitere folgen ließ, verkaufte den gesamten Betrieb schon Ende der 1950er-Jahre an ein Konsortium aus Karstadt, Kaufhof, Hertie und Horten. Die vier großen Warenhausunternehmen der damaligen Zeit stiegen allerdings nicht ernsthaft in das Geschäft ein – sie wollten mit der Übernahme nur verhindern, dass ein US-Konzern in Deutschland Fuß fassen konnte.

Das Unternehmen BMA in Augsburg war durchaus über Jahrzehnte erfolgreich im Lebensmitteleinzelhandel, stieg aber 1987 völlig aus dem Geschäft aus. „Der Wettbewerb damals war brutal, und wir konnten nicht die Mengen abnehmen, die die großen Ketten zu viel günstigeren Preisen bekamen“, sagt Bernhard Müller, Urenkel des Firmengründers. Heute vermarktet die Bernhard Müller KG Gewerbe- und Wohnimmobilien im Raum Augsburg.

Die Hamburger Genossenschaft „Produktion“ war bis in die 1970er-Jahre mit ihren SB-Läden erfolgreich. Nach wachsenden wirtschaftlichen Problemen wurde sie in den 1980er-Jahren Teil der deutschen co op AG, die nach Missmanagement und kriminellen Machenschaften 1989 zerschlagen wurde.

Dass Herbert Eklöh so oft als Pionier der Supermärkte genannt wird, dürfte auch an der Persönlichkeit des Unternehmers liegen: Er besaß einen ausgeprägten Sinn für PR – und stellte seine persönliche Bedeutung für die Entwicklung des Einzelhandels in der Nachkriegszeit nicht unbedingt bescheiden dar. Der „Spiegel“ zitiert ihn 1959 jedenfalls mit den Worten: „Ich habe als Erster in Europa die Selbstbedienung aufgegriffen, ich bin Künder, Schrittmacher und Durchtrotzer gewesen.“ Eklöh ging es um den Absatz großer Mengen zu möglichst niedrigen Preisen. Vor ihm hatte allerdings auch schon der Augsburger Rudolf Müller die Notwendigkeit der Kostensenkung erkannt. Der Handel müsse zu „schärfster Rationalisierung“ übergehen, um die Preise stabil zu halten, zitieren ihn die „Neuwieder Hefte“ zur Eröffnung des „Blauen Ladens“.

Eklöh seinerseits hatte zwar schon vor dem Zweiten Weltkrieg kleine SB-Läden eröffnet, den ersten in Osnabrück – allerdings erfolglos, denn den Deutschen war die Idee völlig fremd, und der Krieg verhinderte zunächst alle weiteren Experimente. 1957 waren dann die Voraussetzungen für den Erfolg gegeben. Mit 7,5 Millionen Mark hatte er den Umsatz im ersten Jahr veranschlagt, 9,2 Millionen wurden nach Eklöhs Angaben dann tatsächlich umgesetzt. Ein Erfolg, den der Inhaber auch auf „Impulskäufe in einem uns bisher unbekannten Ausmaß“ zurückführte.

Darf sich also doch Köln als Standort des ersten deutschen Supermarktes feiern? Nimmt man die schiere Größe und die hohe Zahl an Parkplätzen zur Grundlage, dann ist das gut begründet. Als Erfinder und beinah missionarischer „Künder und Durchtrotzer“ durfte sich Herbert Eklöh aber sicher nicht bezeichnen. Weniger lautstark, aber nicht minder erfolgreich waren schließlich die Augsburger: Wenn auch der „Blaue Laden“ als Testlabor schon 1950 wieder schloss, eröffnete wenige Jahre später Bernhard Müllers Vater bereits einen auf der Idee basierenden SB-Markt in Augsburg, der immerhin 400 Quadratmeter Verkaufsfläche hatte. Es folgten weitere Geschäfte. Bernhard Müller sagt heute: „In der Hochzeit hatten wir etwa 100 Filialen.“ Es waren Supermärkte, die den Namen zweifellos verdienten.

Bilder zum Artikel

Bild öffnen Eklöh in Köln war gigantisch nach den Maßstäben der 50er. Vor dem Markt war Platz für 200 Autos. Quelle: Walter Dick Archiv
Bild öffnen Der „Blaue Laden“ in Augsburg war ein Versuchsgeschäft. Das Konzept Selbstbedienung mussten die Inhaber erklären. Quelle: Bundesarchiv
Bild öffnen In der Nachkriegszeit leisteten sich die ersten Deutschen Autos – auch, um damit einzukaufen. Quelle: Getty Images
Bild öffnen Ein Drehkreuz sicherte den Hamburger „Pro“-Markt. Quelle: SLUB / Deutsche Fotothek

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